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Weiter Himmel, harte Erde

Mit ihrem Roman "Meine Antonia" beschloss die amerikanischen Autorin Willa Cathers im Jahr 1918 ihre sogenannte "Prärie"-Trilogie. Angesiedelt im ländlichen Nebraska, in dem auch Cathers ihre Kindheit verbrachte, erzählt sie von Einwanderern aus dem alten Europa - von Tschechen, Schweden, Norwegern, Dänen, Deutschen, Russen - die sich ein neues, freies Leben in der Wildnis aufbauen.

Von Julia Schröder | 23.03.2008
    Sie kamen von weit her in ein Land mit weitem Himmel und harter Erde. Ein Land mit eisigen Wintern und heißen Sommern, ein Land, in dem das meiste, was sie mitgebracht hatten, nichts wert war. Sie lebten in Erdhöhlen und mussten den Boden mühsam aufhacken, bevor sie ihn bestellen konnten. Und die Alteingesessenen, deren Sprache sie nicht verstanden und deren Glauben sie nicht teilten, waren kaum eine Generation vor ihnen angekommen. Und es dauerte kaum eine Generation, da hatten sie es selbst geschafft. Das Land ernährte sie und ihre Kinder. Sie lebten von ihrer Hände Arbeit in schönen Häusern. Und aus lauter Fremden waren Mitglieder einer selbstbewussten Gemeinschaft geworden.

    Das ist gerade hundert Jahre her, und es begab sich in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Geschichte der Erschließung und Besiedelung des amerikanischen Herzlands, die Rolle, welche die hoffnungsvollen Einwanderer aus dem alten Europa, die Tschechen, Schweden, Norweger, Dänen, Deutschen, Russen dabei spielten, dies alles ist der Hintergrund und mehr als der Hintergrund von Willa Cathers großem Roman "Meine Antonia" - einem Buch, erschienen im Original im Jahr 1918, zu dessen Wiederentdeckung der Knaus Verlag jetzt mit einer Neuübersetzung einlädt. Es würde sich lohnen, die Einladung anzunehmen.

    Die Titelfigur Antonia, deren böhmischer Vorname auf der ersten Silbe betont wird, gilt der US-amerikanischen Literaturgeschichtsschreibung als exemplarische Heldin, in der die ganze Härte des Lebens und Überlebens in der Prärie sich spiegelt, die Opferbereitschaft, aber auch die Schaffenskraft der Pioniere, die den mittleren Westen zur Kornkammer der Welt machten.

    Wir lernen Antonia durch die Augen von Jim Burden kennen - und damit zugleich ihn selbst, den Erzähler dieser Geschichte.

    "Das erste Mal hörte ich von Antonia während einer schier endlosen Reise durch die riesigen Ebenen Nordamerikas. Ich war damals zehn Jahre alt; innerhalb eines Jahres hatte ich Vater und Mutter verloren, und meine Verwandten hatten mich zu meinen Großeltern geschickt, die in Nebraska lebten. Ich reiste in der Obhut von Jake Marpole, einem Jungen aus den Bergen und Gehilfen auf der Farm meines Vaters am Fuß der blauen Berge, der nun nach Westen fuhr, um für meinen Großvater zu arbeiten. (...) Wir reisten die ganze Strecke in einem Abteilwagen und wurden mit jeder Etappe rußverschmierter und verschwitzter. (...) Ab Chicago kümmerte sich ein freundlicher Schaffner um uns, er wusste alles über das Land, in das wir fuhren, und gab uns, da wir ihm so viel Vertrauen entgegenbrachten, eine Menge guter Ratschläge. In unseren Augen war er ein erfahrener, weltgewandter Mann, der schon fast überall gewesen war; wenn er sprach, streute er ganz nebenbei die Namen entfernter Staaten und Städte ein. (...) Als er sich wieder einmal zum Plaudern zu uns setzte, erzählte er uns, dass im Wagen mit den Einwanderern weiter vorne eine Familie ,von jenseits des Teichs' mitfahre, die dasselbe Reiseziel habe wie wir. ,Von denen spricht keiner ein Wort Englisch außer einem kleinen Mädchen, und alles, was die Kleine sagen kann, ist: ,Wir fahren Black Hawk, Nebraska.' Sie ist nicht viel älter als du, zwölf oder dreizehn vielleicht, und sie ist ganz schön aufgeweckt. Willst du nicht nach vorn gehen, Jimmy, und sie kennenlernen? Sie hat auch richtig hübsche braune Augen!'"

    Selbstredend kann ein zehnjähriger Junge solche Tipps ungefähr so dringend brauchen wie einen Pickel im Nacken, und so kommt es, dass er Antonia auch erst ein paar Tage später trifft, nach nächtlicher holpriger Kutschfahrt vom Bahnhof zur Farm, nach ersten Begegnungen mit den Großeltern und ihrem aus Österreich stammenden Gehilfen Otto Fuchs und einem Gang zu Großmutters Garten. Da ahnt der Junge erstmals etwas von dem, was Willa Cather, die selbst als Kind von Virginia nach Nebraska verpflanzt wurde, einmal zusammengefasst hat in der Formel, die Prärie sei ihr Glück und ihr Fluch gewesen:

    "Als ich mich umsah, konnte ich spüren, dass das Gras eins mit dem Land war, so wie das Wasser eins mit dem Meer ist. Das Rot des Grases verlieh der ganzen, riesigen Prärie die Farbe verschütteten Rotweins, die Farbe von manchen Seetangarten, wenn sie gerade an Land gespült werden. (...) Vielleicht war ich ja noch vom Rollen der langen Zugfahrt erfüllt, denn mehr als alles andere spürte ich eine Bewegung in dieser Landschaft; im frischen, sanft dahinstreichenden Morgenwind und im Erdboden selbst, als wäre das struppige Gras ein locker übergeworfenes Laken, und darunter galoppierten Herden wilder Büffel dahin, dahin. . . (...)

    Ich setzte mich in der Mitte des Gartens auf den Boden, dort, wo kaum eine Schlange unbemerkt herankriechen konnte, und lehnte mich an einen warmen, gelben Kürbis. (...) Nichts geschah. Ich erwartete nicht, dass etwas geschehen würde. Ich war da, spürte die Sonne, war wie die Kürbisse, und mehr wollte ich gar nicht sein. Ich war vollkommen glücklich. Vielleicht fühlen wir uns ja so, wenn wir sterben und Teil eines großen Ganzen werden(...)") "

    Wie es sich gehört für gute baptistische Christenmenschen - und solche sind die Großeltern Burden gewiss -, statten Großmutter, Knecht und Enkel den neuen Nachbarn am nächsten Sonntag einen Willkommensbesuch samt Lebensmittelgaben ab. Endlich sieht der kleine Jimmy erstmals das Mädchen Antonia, das ihm ganz schnell ans Herz wachsen wird, sieht sie und vor dem kümmerlichen Erdloch, das der Familie als Behausung dient, ihre zwei Brüder und die kleine Schwester, die misstrauisch-missgünstige Mutter und vor allem Antonias Vater, den alten Shimerda, einen feinen Mann, Weber und Musiker ehedem, der sich im ersten Winter in der neuen Welt - gemütskrank vor Heimweh - während eines schlimmen Schneesturms im Schuppen erschießen wird.

    Über fünf Bücher und 300 Seiten hinweg bleibt der Erzähler mit Antonia verbunden, mal mehr, mal weniger eng. Jimmy bringt Antonia ihr erstes Englisch bei und beeindruckt sie schwer, indem er mit mehr Glück als Verstand eine enorme Klapperschlange erschlägt, die ihm vorkommt wie das "uralte, das älteste Böse" im Paradiesgarten. Doch während der Junge die Kindheit auf der Farm in der Prärie als ein behütetes Reich der Freiheit erlebt, wird der Nachbarstochter der Kampf ums Durch- und Weiterkommen zur harten Schule. Ihr älterer Bruder Ambrosch lässt sie schuften wie einen Knecht, und aus dem feinen kleinen Mädchen entwickelt sich zeitweise ein Kraftweib, wie entsprungen aus Walt Whitmans Hymne "Pioneers! O pioneers!"; darin pries er - eine Generation vor der Entstehung von Willa Cathers Roman "Meine Antonia" - jene "tan-faced children", die braungebrannten Kinder des Landes, die bestimmt sind, sich ihren Teil der Erde untertan zu machen. Nicht zufällig hat Willa Cather den Titel eines früheren Romans eben dem Titel dieses Gedichts entlehnt.

    Als die alten Burdens die Farm aufgeben und ins Städtchen Black Hawk ziehen, vermitteln sie Antonia als Hausmädchen zur norwegischstämmigen Nachbarsfamilie. Diese Harlings eröffnen nicht nur Antonia eine andere Lebensart, sondern auch dem heranwachsenden Jim, der im großen Haus der trubeligen Familie gern zu Gast ist. Mit deren Sohn erforscht er die Geschichte der Indianer und Spanier, die vor den Zeiten der Siedler ihre Spuren hinterlassen haben, mit den Mädchen tollt er herum, er lauscht dem Klavierspiel der Dame des Hauses und lernt in Gestalt des Vaters einen erfolgreichen Geschäftsmann kennen.--
    Irgendwann werden Kinder erwachsen, irgendwann verlässt Antonia beziehungsweise Tony, wie sie nun gern genannt wird, die Harlings, irgendwann geht Jim Burden fort aus dem kleinen Städtchen, um das College und die Universität zu besuchen. Er zieht seine Kreise in immer größeren Städten und kommt nur noch selten zurück nach Black Hawk, bleibt aber immer auf dem Laufenden, was seine Antonia betrifft. Und schließlich, als Jim, mittlerweile erfolgreicher Anwalt, ihr nach zwanzig Jahren wieder begegnet, trifft er auf eine Frau, die sich nicht nur behaupten, sondern so etwas wie Glück für sich und die Ihren finden und bewahren konnte.

    " "Ich hatte mich nicht geirrt. Sie war jetzt eine vom Leben gezeichnete Frau, kein hübsches junges Mädchen mehr; doch sie besaß noch immer dieses Etwas, das die Vorstellungskraft in einem schürt, sie konnte einem noch immer für eine Sekunde den Atem rauben, mit einem Blick oder einer Geste, die enthüllten, welche Bedeutung in ganz gewöhnlichen Dingen steckte. Sie brauchte nur im Obstgarten zu stehen, ihre Hand auf einen kleinen Wildapfelbaum zu legen und zu den Äpfeln hochzublicken, um einen spüren zu lassen, wie gut es war, zu pflanzen, zu pflegen und schließlich zu ernten."

    So monumental die Geschichte klingt, so episch wird sie erzählt, dem chronologischen Verlauf der Ereignisse und dem Gang der Jahre folgend. Die Figuren können, bei aller neuzeitlichen Gemischtheit der Charaktere, jederzeit etwas Biblisches, etwas Mythisches und damit etwas Archetypisches bekommen. Da ist Jims Großvater, ein alttestamentlicher Patriarch voll neutestamentlicher Vergebungsbereitschaft, mit weißem Vollbart und blaublitzenden Augen. Da sind die jungen Töchter der Einwandererfamilien, die sich allesamt in eingesessenen Haushalten verdingen, um ihre Leute draußen auf den Farmen unterstützen zu können: die "drei böhmischen Marys", die "vier dänischen Mädchen" in der Wäscherei - frische, freche Dienstmädchen, an denen jederzeit ein Schimmer wie der antiker Musen und Grazien erglänzen kann. Selbst die spärlichen Bäume in der Weite der Prärie erscheinen wie Wesenheiten eigener Art. Und immer wieder werden die natürlichen Gegebenheiten, die Schönheiten und Schrecknisse des Landes so geschildert, dass kein Zweifel bleibt, in welche große Ordnung sich die kleinen Menschenschicksale fügen.
    Der einzige offensichtliche Kunstgriff, den Willa Cather sich erlaubt, ist eine sogenannte Einführung. Darin wird eine Herausgeberfiktion aufgebaut, die es ihr erlaubt, aus männlicher Perspektive zu erzählen und ihren Erzähler für einmal von außen zu charakterisieren.

    "Als ich letzten Sommer während einer heftigen Hitzewelle mit dem Zug durch die Ebenen Iowas fuhr, hatte ich das Glück, gemeinsam mit James Quayle Burden zu reisen - Jim Burden, wie wir ihn im Westen noch immer nennen. Er und ich sind alte Freunde - wir sind in derselben Kleinstadt in Nebraska zusammen aufgewachsen -, und wir hatten uns viel zu erzählen.(...) Was Jim anbelangt, so hatten die Enttäuschungen des Lebens seine von Natur aus romantische, leidenschaftliche Art nicht dämpfen können. (...) Ich habe den Eindruck, dass er niemals älter wird. Seine frische Gesichtsfarbe, das sandbraune Haar und die wachen blauen Augen sind die eines jungen Mannes, und in seinem mitfühlenden Interesse an Frauen spürt man die Jugend ebenso wie den Westen und ganz Amerika. Im Lauf dieses glühend heißen Tages, an dem wir Iowa durchquerten, kam unser Gespräch immer wieder auf eine zentrale Gestalt zurück, ein Mädchen aus Böhmen(...)"

    Die zwei beschließen, ihre Erinnerungen an Antonia schriftlich festzuhalten, aber nur Jim tut es wirklich - und steht irgendwann mit einem ganzen Aktenordner vor der Tür.

    "(...) ,Ich habe einfach nur aufgeschrieben, was Antonias Name in meiner Erinnerung wachgerufen hat - über sie, über mich, über andere Menschen. Es ist ziemlich durcheinander, schätze ich. (...) Lies es, sobald du kannst', sagte er und stand auf. (...) Die folgende Erzählung entspricht im Großen und Ganzen Jims Manuskript, so wie er es mir gegeben hat."

    Damit ist Cather angelangt, wo sie hinwollte. Sie hat einen Erzähler, der das Mädchen Antonia nicht anschaut, wie ein anderes Mädchen, eine andere junge Frau es getan hätte, sondern mit romantischer, zeitweise durchaus erotisch grundierter männlicher Zuneigung. Und sie hat einen Erzähler, der viele Züge seiner Autorin trägt, ohne dass sie sich deshalb autobiografisch preisgeben müsste.

    Jim Burden ist auf seine Weise ein Außenseiter in der Kleinstadtgesellschaft, aufgeschlossen, begabt und frei von der Borniertheit und dem Standesdünkel seiner Klasse. Ähnlich wie Jim Burden in Black Hawk erging es Willa Cather als jungem Mädchen in Red Cloud, Nebraska, wo sie unter den Einwanderertöchtern, die im Ort in Stellung waren, auch die Tschechin Anna Sadilek kennenlernte, die ein halbes Leben später zum Vorbild für "Meine Antonia" werden sollte.

    Im Unterschied zu ihrem Jim allerdings, bei dem man rätseln darf, warum er sich so gern mit den jungen Mädchen aus Skandinavien oder Böhmen herumdrückt, da er doch erkennbar mit keiner etwas anfängt, liegt das Außenseitertum bei seiner Erfinderin offen zu Tage. Willa Cather war lesbisch.

    In ihren späteren Jahren, als sie längst Teil des literarisch-publizistischen Betriebs in New York war, regte die Tatsache, dass Cather Frauen liebte, mit ihrer Freundin Edith Lewis zusammenlebte und sich herkömmlich-bürgerlichen Rollenvorstellungen verweigerte, keinen mehr auf. In ihrer Kindheit in den 1880er Jahren in einer Kleinstadt, die bis in die Einzelheiten Vorbild für das Örtchen Black Hawk in "Meine Antonia" werden sollte, dürfte das anders gewesen sein. Willa, getauft Wilella Cather, nannte sich als junges Mädchen Willie oder William, schnitt sich die Haare kurz und trug Männersachen. Sie wollte Chirurg werden, was niemand in Red Cloud für den richtigen Beruf für ein Mädchen hielt.

    Mit diesem Ziel ging sie an die Universität nach Lincoln, aber als einer ihrer Lehrer einen Text von ihr hinter ihrem Rücken in der Lokalzeitung platzierte, wusste sie, dass sie schreiben wollte, um gedruckt zu werden. Nach ihrem College-Abschluss trat sie in Pittsburgh ihre erste Stelle als Zeitschriftenredakteurin an. In dieser Zeit, den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, verliebte sie sich in Isabelle McClung, reiste mit ihr nach Europa und debütierte mit einem Gedichtband, der den vielsagenden Titel "April Twilights" trug. 1906 wechselte sie nach New York zum literarisch-sozialkritischen Magazin "McClure's", schrieb Erzählungen und veröffentlichte 1912 ihren ersten Roman. Und gleich ihr zweiter, "O Pioneers!", erschienen im Jahr darauf, eröffnete die Reihe von Nebraska-Romanen, zu denen außer "Song of the Lark" (Das Lied der Lerche) eben auch "My Antonia", "Meine Antonia" zählt, das zu ihrem erfolgreichsten Buch überhaupt werden sollte.

    Die Nachwelt mag das als ganz und gar folgerichtige Entwicklung empfinden, aber das war es nicht. Willa Cather war 1873 im milden Gründerväterstaat Virginia im Tal des Shenandoah zur Welt gekommen. Zehn Jahre später folgten ihre Eltern den nach Westen gezogenen Großeltern - echten Pionieren - nach Red Cloud, einem Städtchen, das erst wenige Jahre zuvor gegründet worden war und von der Zuwanderung in der Folge des Heimstättengesetzes profitierte. Das Kind konnte mit der Prärie der Great Plains, ihrer weiten Landschaft und dem harschen Klima zunächst nichts anfangen und empfand starkes Heimweh. Als sie auf einem über ausgewaschene Pfade ruckelnden Gefährt, wie der kleine Jim in ihrem Roman "Meine Antonia", auf der Ladefläche im Heu sitzend zur 18 Meilen außerhalb gelegenen Farm ihres Großvaters kutschiert wurde, dachte sie, wie sie später erzählte, sie seien bald am Ende der Welt angekommen. Sie habe sich unter dem Eindruck des offenen Landes - "so nackt und blank wie ein Stück Eisenblech" - wie ausgelöscht gefühlt.

    Aber es gab einen Trost: die skandinavischen und böhmischen Einwanderer. Deren Frauen seien es gewesen, die ihr Heimweh verstanden, und sie hätten ihr die Augen geöffnet für das, was diesem Land fehlte. In deren Erzählungen von der alten Heimat habe sie als Kind eine Ahnung von einer älteren Welt jenseits des Ozeans bekommen. Und in der Begeisterung für die Geschichten dieser Frauen, die kaum Englisch konnten, habe sie erfahren wie es sei, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Literatur - und der Boden, auf dem die besondere, vielleicht sogar übertrieben romantische Wertschätzung gedeiht, die Cathers Erzähler Jim den jungen Mädchen aus diesen Familien entgegenbringt.

    Diese ganz eigentümliche Zuneigung war es auch, die Willa Cather in die Lage versetzte, über das harte Land ihres Herkommens zu schreiben, über Glück und Fluch der Prärie - aber erst mit dem Abstand von Jahren und Jahrzehnten, als sie diesem Land und seiner metaphysischen Leere längst entkommen war, in New York ein Leben nach ihrem Vorstellungen führte und ihren vierzigsten Geburtstag vor Augen hatte. Wie sich ihr Blick verändert hatte, fasste sie in denkbar deutliche Worte.

    "Natürlich ist Nebraska ein Lagerhaus für literarisches Material. Überall gibt es ein Lagerhaus für literarisches Material. Wenn ein wahrer Künstler in einem Schweinestall geboren und in einem Schuppen aufgezogen würde, fände er dort immer noch reichlich Inspiration für seine Arbeit. Das einzige, was man braucht, sind Augen, um zu sehen."

    Einfach scheint Willa Cathers Geschichte der Antonia Shimerda, die aus dem alten Europa in die Weite des mittleren Westens kommt und dort ihr Schicksal in die Hand nimmt - an der Oberfläche, vielschichtig und vielstimmig sind die Geschichten, die darunter liegen und ans Tageslicht drängen. Das Porträt einer schönen, mutigen und tatkräftigen Frau ist zugleich der Bildungsroman eines Jungen, der auszieht, die Welt zu erobern, und mit unsichtbaren Wurzeln an das Land seines Herkommens gebunden bleibt. Dieser Bildungsroman wiederum ist eine Art Selbstporträt der Autorin, die ihren Frieden mit diesem Herkommen schließen und daraus große Literatur machen konnte. "Meine Antonia", das Epos über die Besiedelung und Urbarmachung des amerikanischen Herzlands nach den Verheerungen des Bürgerkriegs, lässt uns spätere Leser ahnen, was Amerika einmal war und sei wollte, und wie sehr es sich verändert hat.