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Welchen Einfluss haben antike Klassiker auf die Gegenwartsliteratur?

Wer eine mühevolle Reise mit ungeplanten Abwegen hinter sich hat, muss nicht viel sagen, um sie zu beschreiben. Er nennt sie schlicht eine Odyssee - und jeder weiß sofort, was das bedeutet. Die antiken Geschichten sind ein fester Bezugspunkt der europäischen Kultur, die bis heute nicht an Attraktivität verloren haben.

Von Bettina Mittelstraß | 28.12.2006
    Zeitgenössische Schriftsteller und Autoren schöpfen nach wie vor aus der Fülle antiker Überlieferungen und nutzen sie erfolgreich. "Kassandra" von Christa Wolf oder "Die letzte Welt" von Christoph Ransmeyer sind moderne Bestseller - unter anderem, weil vielen Lesern die antiken Grundlagen wie Eckpfeiler vertraut sind, betont Antje Wessels.

    " Nehmen wir jetzt Camus Sisyphos, dann hätte man diese Theorie des Absurden vielleicht auch einfach so formulieren können. Aber in dem Moment, wo diese mythische Figur, die allen bekannt ist, diesen sich unglaublich anstrengenden, verzweifelten Arbeiter als Idee hat, dann ist das natürlich sehr viel provokanter, wenn uns Camus dann sagt, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen! Ja? Das heißt, er spielt auf Vorstellungen an, die vielleicht schon festgefahren sind, um sie dann zu brechen. Und das ist sehr viel wirkungsvoller als wenn er diesen Mythos nicht genannt hätte. "

    Antike Vorstellungswelten und Figuren sind gemeinsame gedankliche Orte, auf die die europäische Kultur jederzeit zurückgreifen kann und offenbar immer noch will. So eine Basis erleichtert die Kommunikation - und das selbst dann noch, wenn so manche Bezüge auf antike Inhalte gar nicht mehr auf den ersten Blick klar und erkennbar sind!

    " Also wir haben auch viele Gedichte, die sich auch ohne weiteres erschließen, die Freude machen, die man goutieren kann, auch wenn man die Hintergründe nicht kennt, die ja zuweilen oft auch den Autoren selbst auch nicht immer bewusst sind! Man transportiert ja Motive, Ideen auch ohne dass Begriffe und Namen wirklich explizit genannt werden. Es ist aber eben ein Gewinn, wenn man diese Kontexte kennt, also diesen ganzen Fundus, über den wir auch kommunizieren, wenn wir reden, wenn wir den uns bewusst machen. "

    Dieser Gedanke motiviert seit 1992 die Mitarbeiter am Seminar für Klassische Philologie der Freien Universität Berlin für den konsequenten Aufbau des "Archivs für Antikerezeption in der deutschsprachigen Literatur nach 1945". In diese Datenbank wurden inzwischen rund 3.400 Gedichte, 260 Dramen und 1600 Prosatexte mit Bezügen auf antike Motive und Texte aufgenommen. Warum es so ungebrochen reizvoll zu sein scheint, antike Autoren zu rezipieren, erklärt Vöhler:

    " Die antiken Autoren sind Teil eines Hochkanons. Also unter den ersten 100 sind antike Autoren in Europa da! - die ständig gelesen werden, ständig bearbeitet werden. Das liegt glaube ich auch - man kann es schlecht anders erklären - darin, dass die antike Literatur selber in großen Teilen ganz vorzüglich ist! Und dass sie sich gut eignet, immer wieder andere Fragestellungen hervorzurufen, und dass man an Homer etwa oder an Aischylos immer wieder neu herantreten kann und unter neuen Fragestellen da auch Modelle findet. "

    Ein Rückblick zeigt, dass jede Epoche ihren sehr spezifischen künstlerischen oder wissenschaftlichen Umgang mit den antiken Stoffen pflegte. "Die" Antike gibt es so gesehen gar nicht. Sie ist vielmehr eine Art Kunstprodukt, geschaffen aus der Perspektive einer jeweiligen Gegenwart und genutzt als gesellschaftliches Ideal, Konzept oder Spiegelbild.

    " Es gibt verschiedene Renaissancen, sagen wir. Das sind also Zeiten, in denen die Antike eine gewisse Rolle spielt für die jeweilige Kultur. Eine der Hauptrenaissancen ist das 14. -16. Jahrhundert - also in diesem Zeitraum, in dem also eine Wiederentdeckung stattfindet der antiken Literatur. Das hängt damit zusammen, dass Konstantinopel erobert wird und dass die griechische Literatur hauptsächlich, die dort war, nach Italien kommt und die Schriften zugänglich werden und erforscht werden können. "

    Die Folge ist ein enormer Zuwachs an Bildung. Die Beschäftigung mit antiken Autoren - die Studia Humanitatis - prägt von nun an Gesamteuropa. In Verbindung mit dem Buchdruck sind bis 1600 fast alle antiken Autoren mehrfach ediert und zugänglich.

    " Dann gibt es durch die Aufklärung vermittelt wieder in den verschiedenen europäischen Sprachen, also in Frankreich, Italien, in Deutschland, in England gibt es Zugriffe auf die Antike unter einem spezifisch bürgerlichen Interesse jetzt, also dass das Bürgertum jetzt heran kommt und sich anschaut: was kann man eigentlich mit der Antike machen? Und da entsteht dann eine Vorstellung des Menschen als Bürger, und zwar des gesamten Menschen, der sich in der Antike wieder findet. Dann entstehen so große Bildungsentwürfe, wie Humboldt sie hat oder Friedrich Schlegel, oder auch Schiller ist daran beteiligt. Also es sind viele große Namen, die eben die Antike gebrauchen um eine Zeitkritik zu formulieren und aus dieser Zeitkritik heraus an dem Ideal der Antike orientiert eine moderne Position aufbauen. "

    Im 19. Jahrhundert wird nun der Versuch unternommen, dieses Ideal programmatisch umzusetzen. Das Erlernen der alten Sprachen auf dem Gymnasium wird zum Bildungsideal einer bürgerlichen Elite und Bedingung für den sozialen Aufstieg. Die klassische Moderne verlangt schließlich, dass zum Abiturwissen selbstverständlich die Lesefähigkeit in Latein und Griechisch gehört.

    " Und dann haben wir einen radikalen Bruch, weil man nach dem 2. Weltkrieg einfach sagt, dass dieses Bürgertum eben mit diesem ganzen humanistischen Anspruch völlig versagt hat! Also wir haben diesen Faschismus und wir haben den Krieg und wir haben Auschwitz und da fragt man sich: wozu eigentlich die Griechen? Was habt ihr da geleistet? Nichts. Ihr habt keinen Widerstand aufgebaut. "

    Seidensticker: " Dieser Bruch, denke ich, durch den Nationalsozialismus ist sicher auch dadurch entstanden, nicht nur durch das Versagen des Bürgertums, sondern auch zum Beispiel durch Hitlers Begeisterung für die Griechen, speziell für Sparta, durch die Olympiade mit Brekers Griechen oder mit Speers großer Architektur und alle diese Dinge, die Rassegemeinschaft zwischen Griechen und Germanen. "

    Professor Bernd Seidesticker, unter dessen Leitung das Archiv aufgebaut wird, verweist auf die anschließend bemerkenswerte Entwicklung in den beiden deutschen Staaten, DDR und BRD. Das Interesse am antiken Kulturerbe setzt sich jeweils anders fort als man auf den ersten Blick erwarten könnte. Obwohl in westdeutschen Schulen weiterhin Latein und Altgriechisch gelehrt wird und im Osten nicht, ist das Interesse von Autoren an antiken Stoffen in der DDR sehr viel ausgeprägter. Vöhlers und Antje Wessels:

    " In der DDR entsteht der Versuch, einen sozialistischen Realismus aufzubauen, der stark emphatische Züge hat auf auch antike Autoren. Also hier wird noch mal das antike Potential wieder - vor allem auch durch Brecht vermittelt - in Anspruch genommen, um eben eine moderne Literatur sozialistischer Art zu prägen oder prägen zu können. "

    Wessels: " In der westdeutschen Literatur hat man Gedichte, wo sich - zum Beispiel von Ursula Pflüger, von Gunter Eich - wo sie sich darüber beschweren, dass der Kanon verengt ist, dass man nur noch Caesar, nur noch Catull liest usw. Das haben wir in der DDR Literatur nicht so. Da ist das eine Form der Kommunikationsstrategie. Man beschäftigt sich mit Antikerezeption, um etwas zu transportieren. "

    Das Erlernen antiker Sprachen, das Zitieren antiker Stoffe hat seine Rolle als Eliteprädikat verloren, betonen die Mitarbeiter am Archiv für Antikerezeption. Ein viel freierer, unverkrampfter Zugang zu den antiken Geschichten macht sich stattdessen bemerkbar. Die Rolle der Antike heute ist nicht mehr die eines Programms oder Ideals und bietet längst kein Rezept mehr für eine gelingende Gesellschaft! An die Stelle großer Konzepte ist die Freude am Umgang und Spiel mit Tradition getreten. Es macht schlicht Spaß, eine Männerunterhose mit dem Label Ikaros zu versehen - und dabei zu wissen, dass Ikaros der war, der hoch hinauf stieg, um jäh hinab zu fallen.