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Wellen der Apokalypse

Geologie. - Das Mittelmeer gilt als besonders Seebeben gefährdet - rund alle 100 Jahre verzeichnet die Statistik hier Flutwellen nach seismischen Entladungen. Marburger Forscher lesen deren Spuren - auch wenn die Beben Jahrtausende zurück liegen.

Von Dagmar Röhrlich | 30.04.2007
    Weihnachten 2004 lieferte das Fernsehen die Bilder einer Katastrophe in die Wohnzimmer: Ein Seebeben vor der Küste Sumatras hatte einen gewaltigen Tsunami ausgelöst, 300.000 Menschen starben. War das Wort "Tsunami" zuvor den meisten Europäern unbekannt, ist es seitdem ein Begriff. Zwar stammt das Wort aus dem Japanischen, aber das Phänomen ist keineswegs auf den Fernen Osten beschränkt. Im Gegenteil. Auch der dicht besiedelte Mittelmeerraum ist stark gefährdet, nur dass die Ereignisse seltener sind. Die letzte große Flutwelle traf 1908 das sizilianische Messina. 75.000 Menschen starben:

    "Der Sumatra-Tsunami wird wahrscheinlich weltweit im Gedächtnis der Menschheit bleiben, weil er sehr gut dokumentiert ist und 300.000 Menschen das Leben gekostet hat. Aber es gab sicherlich in der Antike Tsunamis, die noch größer waren, von denen man nicht sehr viel weiß, weil es eben keine Überlieferung gibt."

    Unser Wissen über die Tsunamigefährdung im Mittelmeerraum ist lückenhaft, erklärt Helmuth Brückner von der Universität Marburg. Dabei verläuft dort eine der ganz großen Kollisionszonen der Erde: Von der Türkei bis nach Spanien reicht die Front, an der der afrikanische Kontinent den eurasischen rammt. Dass das Vulkanausbrüche und Erdbeben auslöst, ist bekannt. Mit dem Sekundärphänomen Flutwelle sieht es da anders aus.

    "Wir hatten unlängst einmal ein Gespräch mit Kollegen aus Karlsruhe, da haben wir versucht, die großen Tsunami, die man weiß, zusammenzutragen, ich würde sagen, die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen."

    Es gibt keine Tsunami-Kataloge und keine verlässliche Risikoeinschätzung. Also versuchen Geomorphologen von der Universität Marburg die Spuren längst vergangener Tsunami zu enträtseln. Ihr "Labor" ist die Nordküste der griechischen Insel Leukas:

    "Wir haben nun an der Nordküste der Insel Leukas, die gehört zu den ionischen Inseln, eine Küstentopographie, die wohl sehr geeignet ist, um solche Tsunamiwellen und die damit verbundenen Signale zu empfangen und zu speichern. Und dort haben wir bislang vier Tsunami-Einflüsse feststellen können. Der älteste liegt bei ungefähr 1000 vor Christus und der jüngste bei ungefähr 1000 nach Christus im Abstand von ungefähr 500 Jahren."

    Andreas Vött von der Universität Marburg. Ein Tsunami hinterlässt typische Indizien: So schleudern die Wellen viele Tonnen schwere Blöcke hoch aufs Land hinauf, die dann dort als anders unerklärbare "Fremdlinge" liegen bleiben. Verräterisch ist auch eine Lage aus Meeresmuscheln in den Sedimenten eines Süßwassersees. Diese Zeugnisse berichten davon, dass die Tsunami schwer waren, die Leukas getroffen haben:

    "Es gibt Hinweise darauf, dass die bekannte Meeresstraße, der Sund von Leukas, mit einem wesentlichen Beitrag von Tsunami-Einwirkungen entstanden ist."

    Die Flutwellen haben die Landschaft verändert. Anscheinend wirkt dabei die wie ein Trichter geschwungene Küstenlinie von Leukas als Wellenverstärker: Die Tsunami laufen höher auf – und sie haben anscheinend Menschen getötet:

    "Wir haben zum Beispiel eingebackene Keramikreste gefunden, die ungefähr 300 bis 400 vor Christus entstanden sein dürften."

    Die Tsunami sind die Erklärung dafür, warum die Archäologen an der Küste von Leukas kaum Besiedlungsspuren finden. Die Menschen haben die gefährliche Zone lange gemieden. Das ist inzwischen anders. Heute zählt die Insel 23.000 Einwohner und viele leben küstennah. Allerdings ist die Tsunamigefahr nicht deshalb gebannt, weil der jüngste vor 1000 Jahren auflief. Weil diese Erkenntnis für den gesamten Mittelmeerraum gilt, bemühen sich auch anderswo Wissenschaftler, die Tsunamigeschichte anhand der Sedimente aufzuklären. Das ist entscheidend für künftige Frühwarnsysteme:

    "Frühwarnsysteme für Südostasien, das ist sicherlich richtig, aber im Mittelmeerraum wäre es eigentlich noch dringender. Man muss sich einmal das Szenario vorstellen, dass ein Tsunami ausgelöst wird am 1. August, vormittags, wenn alle Leute am Strand sind, dort baden."

    Der Mittelmeerraum ist sehr viel kleinräumiger als der Indische Ozean oder der Pazifik. Die Vorwarnzeiten wären äußerst gering: Ein Erdbeben in der Straße von Messina könnte einen Tsunami auslösen, der binnen Minuten die Küsten Siziliens und Kalabriens erreicht. Keines der bisher verfügbaren Frühwarnsysteme hätte eine Chance. Passende Systeme müssen noch entwickelt werden – deshalb ist es so wichtig, mehr über die Tsunami der Vergangenheit zu erfahren.