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Welt aus den Fugen

Der türkische Regisseur Deniz Akcay nimmt in seinem Film "Nobody’s home" eine Kleinfamilie der Mittelschicht in Istanbul unter die Lupe. "Piccola Patria" zeichnet ein sehr trauriges Bild der italienischen Provinz. Eine weitere ungewöhnliche Entdeckung ist "White Shadow" über einen Albinojungen in Schwarzafrika.

Von Christoph Schmitz | 02.09.2013
    Manch ebenso bittere wie erhellende, aber oftmals faszinierende Einblicke bieten die Filme der Nebenreihen. Vor allem darüber, wie kleine und größere Gemeinschaften unter Druck geraten und zerrieben werden oder längst pulverisiert sind. Die fortgeschrittene Individualisierung hat ihren Preis. Sie kassiert kräftig ab. Noch am Anfang dieses Prozesses scheint die Türkei zu stehen. Der türkische Regisseur Deniz Akcay nimmt in seinem Film "Nobody’s home" eine Kleinfamilie der Mittelschicht in Istanbul unter die Lupe. Der Mann hat seine Frau und seine drei Kinder verlassen. Niemand bekommt ihn mehr zu Gesicht. Einmal noch sieht sein Sohn ihn im Auto, rennt hinterher, bis er auf der nächtlichen Straße zusammenbricht. Seit der Vater fort ist, schwänzt der Junge die Schule, kokst, macht sich über die Mutter seines Freundes her. Daheim ist das Unglück zu groß für ihn. Die verlassene Mutter schämt sich, jammert, tyrannisiert die Kinder. Am Ende schluckt sie händeweise Tabletten und steigt die Treppe runter zum Hochzeitsfest der Tochter. Bevor die Mutter kollabiert, bricht der Film ab. Sehr genau zeichnet Deniz Akcay seine Figuren, folgt ihren Reaktionen und analysiert die tradierten Zwänge. "Nobody’s home" ist ein subtiles Kammerspiel mit präzise austarierten Szenen.
    Piccola Patria

    In seinem Film "Piccola Patria" weitet der italienische Regisseur Alessandro Rossetto seine Kameralinse. Er entwirft das Panorama eines Landstriches im Nordosten Italiens. Eine Autobahn sehen wir aus der Vogelperspektive, daneben einen Bauernhof, Rinder, abgezirkelte Obst- und Gemüseplantagen, einen Pferdehof, ein Luxushotel samt Pool, Gewerbegebiete, Industriebrachen. Eine gestresste Landschaft. Mit kühlem Realismus erzählt Rossetto von dem Landwirt, der seine Steuern nicht mehr bezahlen kann, der sich überrollt fühlt von Einwanderern und jeden Albaner einen "Nigger" schimpft. Ausgerechnet einen solchen liebt seine Tochter. Der junge Albaner verdingt sich als Pferdepfleger und haust in einem Wohnwagen. Die Tochter des Bauern arbeitet als Zimmermädchen im Hotel nebenan, für einen Hungerlohn, und sie liebt bizarre Sexspiele. Mit heimlichen Aufnahmen erpressen sie und ihre Freundin einen Typ aus dem Dorf. Dort laufen die einen zu rechtspopulistischen Veranstaltungen, die anderen zu Tanzabenden mit Westernmusik. Eine entfremdete Welt, irritiert, orientierungslos, hoffnungslos. Die Jungen wollen alle nur weg. "Piccola Patria" ist eine sehr traurige Provinzerzählung. In vielen Gegenden Europas und anderswo könnte sie so spielen. Rossettos Bilder und Klänge machen sie zu einem menschlichen Drama, das mitten unter uns abläuft. Was sich dann in der Psyche des Einzelnen tut, auf welchen Horrortrip sie geraten kann, das zeigt "Algunas Chicas" des Argentiniers Santiago Palavecino. In der Provinz bei Freunden will eine junge Frau ihre Tabletten- und Drogensucht loswerden. Aber die Reise wird zu einem Albtraum aus Exzessen jeder Art. Als Zuschauer kann man bald nicht mehr unterscheiden, was Traum, was Wirklichkeit ist, wer was an Grausamkeiten imaginiert oder erlebt. Palavecino liefert mit einer höchst expressiven, vom Horrorkino inspirierten Bild- und Tonsprache das infernalische Seelenporträt unserer Zeit. Gesellschaftlich konkreter dagegen verortet der Film "White Shadow" den Schrecken, ästhetisch der mutigste und radikalste Beitrag in den Nebenreihen, vielleicht des Festivals überhaupt.

    White Shadow

    Mit einer wilden, ja unbändigen Kamera, mit wüsten, schnellen Schnitten, nachtschwarzen Abstraktionen, poetischen Stimmfragmenten aus dem Off und mit einer kakophonischen Geräuschsymphonie erzählt "White Shadow". Und zwar vom Überlebenskampf eines Albinojungen in Schwarzafrika. Noaz Deshe heißt der Regisseur. Seinen Namen wird man sich merken müssen. Deshe lebt in Berlin und Los Angeles. "White Shadow" ist ein Bilderrausch über Dämonenwahn, Armut, Ausgrenzung und Gewalteskalation. Der Film dauert fast zwei Stunden. Aber keine Minute ist zu viel. In den Nebenreihen von Venedig macht man außergewöhnliche Entdeckungen.