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Welt aus den Fugen

Lessings "Minna von Barnhelm" feierte am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere. Die Inszenierung von Karin Henkel war konzeptionell klug, szenisch aber nicht immer einsichtig. Das Publikum schwankte zwischen viel Jubel und einiger Verständnislosigkeit.

Von Hartmut Krug | 27.10.2007
    "Nicht sein, oder sein", das scheint nicht mehr die Frage für das heruntergekommene Subjekt in verdreckt nasser Schlabberunterwäsche, das sich zum Hamlet-Monolog die Pistole an den verstrubbelten Blondkopf hält. Dieser Mensch ist am Ende, und während die anderen Schauspieler am Probentisch ihr Monopoly mit dem "Strategiespiel Friedrich" über den siebenjährigen Krieg spielen, erinnert er sich an seine einstige Aufgabe, als Major in Sachsen Kontributionen einzuziehen.

    Während sich dann alle vor der Bühne und dem Publikum in ihre Rollen verkleiden, präsentiert die später als Wirtshausnutte durch die Szenen flatternde Angelika Richter zu Klavierbegleitung das erste ihrer vielen folgenden englischen Lieder über die Probleme mit der Liebe: "I am only dreaming." Gezeigt wird ein böser Traum von in ihrer Identität verwirrten Menschen und zugleich ein Theatersuchspiel auf mehreren Ebenen. Die Szene: ein zeitloses Wirtshaus mit hellen Sperrholzwänden und einem Bierkistenstapel. Diese Bühne öffnet sich mit immer neuen Vorhängen zu immer neuen, immer gleichen Bühnen in die Tiefe hinein öffnet, aus der der Wirt seine Rinderhälften im Fahrstuhl herbeischafft. Lessings Liebesverwirrspiel zwischen Mann und Frau wird uns als Spiel im Spiel im Spiel als Kampf der Bilder und Geschlechter gezeigt. Rollenmuster und Geschlechterbilder werden aus- und in Frage gestellt und Mann-Frau-Klischees werden zur kritischen Ansicht ausgespielt.

    Die in Resten heutiger Uniformen aus dem Krieg kommenden Männer sind allesamt körperlich wie seelisch mächtig be- und geschädigt. Major Tellheim, gespielt von der jungen Jana Schulz, hält seinen kaputten rechten Arm eng an den Körper und presst die Hand in den Schoß. Die Darstellerin erspielt sich erst zum Schluss, wenn Tellheim mit seinem Recht und Geld auch sein männliches (Selbst-) Bewusstsein wieder erlangt hat, die typischen, auftrumpfenden Männerkörpergesten. Die meiste Zeit aber bleibt sie eine Frau, die ein Mann sein und uns wohl daran erinnern soll, dass es hier um Identitätskrisen geht. Weshalb er/sie sich gelegentlich zwischen Frauen- und Männerklo verirrt und von dort mal in Majorsuniform, mal in Ritterrüstung, als Cowboy oder als Kapitän Ahab wiederkehrt. Minna ist zum fetten Monster im Brautkleid ausstaffiert, in der einen Hand die Geldscheine, in der anderen die Keksdose, aus der sie sich unablässig bedient. Wenn diese Minna ihren Tellheim wieder zu haben glaubt, bespringt sie den Mann und begräbt ihn unter sich. Und Franziska, im schwarzen Kostüm und mit geflochtenem Haarkranz im Julia-Timoschenko-Look, ist eine herrisch strenge Person. Daß diese von Julia Nachtmann wunderbar ins Haltungskorsett der Figur gezwängte Franziska später mit dem Stoffel Paul Werner irgendwie anbändelt, ist in dieser Inszenierung allerdings nicht zu verstehen. Wie auch manche Figurenbeziehungen im irrlichternden Gewitter der vielen Regieeinfälle nicht mehr so richtig verständlich bleiben, seien sie als scheinbar intakt vorgeführt oder kritisch befragt.

    In dieser Inszenierung geht es nicht wie bei Lessing um die Kritik an einem falschen Ehrbegriff, sondern um Selbstbewußtsein und um Macht. Das Hotel heißt "Krieg und Frieden", und der Kampf tobt zwischen den Geschlechtern. Weit über die Hälfte von Karin Henkels mehr als drei Stunden andauernder szenischer Verwirr- und Versuchsanordnung kommt als eine Klamotte daher, die vor keiner groben Aktualisierung und keinem szenischen Kalauer zurückschreckt. So rollt Tellheims Bedienter Just beinlos auf einem Brett herum, läßt sich aber vom Wirt mit zwei Dosenbier bestechen, - auf einem Bein kann man nicht stehen. Und der Riccaut de la Marlinière ist ein blutiges Splatter-Monster im Trainingsanzug eines Arbeitslosen, dessen kurze, krause Komik allein in seinem die Frauen erschreckenden zitathaften Outfit besteht. Karin Henkels von aktualisierenden Gags überbordende, die Darsteller oft in ein hohl tönendes Überdruckspiel treibende Inszenierung kennt wenig szenische Ökonomie und verliert sich in der wilden Lustigkeit eines Spiels im Spiel und zwischen sich immer wieder neu öffnenden Bedeutungs- und Spielebenen. Hier erwacht man nie wie bei Lessing aus einem schreckhaften Traum, sondern amüsiert sich wie bei Bolle, weshalb der Wirt passenderweise auch noch berlinert.

    In den Schlussrunden dieses szenischen Geschlechterkampfes werden mehrere mögliche Ergebnisse der Kommunikationsprobleme zwischen Tellheim und Minna durchgespielt. An Lessings Utopie von zu sich selbst gekommenen Individuen glaubt Karin Henkel nicht mehr. So begibt sich zwar Minna, indem sie ihre Dickleibigkeits-Vermummung abstreift und als hübsche, zarte Person kenntlich wird, in die für ein Happy End nötige Frauenrolle. Doch ein Tellheim, der mit Nähe immer Probleme hatte, der stets "nicht anfassen" forderte, erschießt sich. Vorhang, trauriges Liebeslied. Dann kriecht Marie Leuenbergers Minna unter dem Vorhang hervor und fordert: "Weiterspielen, ich habe noch nicht gewonnen." So wird Minna von ihrem Tellheim erst blutig zusammengeschlagen und umgebracht und Werner und Tellheim wollen nach Persien in den Männerkrieg. In einer weiteren Schlussvariante taucht Minnas Onkel als Chor der Schauspieler auf, steckt das zueinander stolpernde, blutige Paar in seine Brautkleider, und alle fahren mit der hintersten Guckkastenbühne hinab ins Dunkle der Untermaschinerie.

    Karin Henkels konzeptionell kluge, szenisch nicht immer einsichtige und sich im wilden Spiel der undeutlichen Anspielungen und überdeutlich groben Gags manchmal verheddernde Inszenierung ist eine für das bisher unter dem Intendanten Friedrich Schirmer recht glücklose Hamburger Deutsche Schauspielhaus äußerst beachtliche Inszenierung. Das Publikum schwankte zwischen viel Jubel und einiger Verständnislosigkeit.