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Welterfolg des Nachkriegstheaters

"Andorra" von Max Frisch wurde vor allem deshalb zum viel gespielten Nachkriegsdrama, weil das Stück die Mechanismen des Antisemitismus aufzeigt und die Frage nach der Schuld der Mitläufer stellt. Am 2. November 1961 kam es erstmals in der Regie von Kurt Hirschfeld am Zürcher Schauspielhaus auf die Bühne.

Von Eva Pfister | 02.11.2011
    Andri:

    "Seit ich höre, hat man mir gesagt, ich sei anders, und ich habe geachtet darauf, ob's so ist, wie sie sagen. Und es ist so Hochwürden, ich bin anders."

    Wie wird ein Mensch zum Außenseiter? Max Frisch hat diese Frage in seinem erfolgreichsten Theaterstück so anschaulich durchgespielt, dass die Geschichte des jungen Andri, den die Einheimischen in dem fiktiven Kleinstaat Andorra für einen Juden halten, zum bekanntesten Modell für das Dilemma von Identität und Anpassung geworden ist.

    Andri:

    "Man hat mir gesagt, wie meinesgleichen sich bewege, nämlich so und so, und ich bin vor den Spiegel getreten fast jeden Abend. Sie haben recht: Ich bewege mich so und so. Ich kann nicht anders. Und ich habe geachtet auch darauf, ob's wahr ist, dass ich alleweil denke ans Geld, wenn die Andorraner mich beobachten und denken, jetzt denke ich ans Geld, und sie haben abermals recht: Ich denke alleweil nur ans Geld. Und ich habe kein Gemüt, sondern Angst."

    Max Frischs "Andorra" kam am 2. November 1961 in der Regie von Kurt Hirschfeld am Zürcher Schauspielhaus erstmals auf die Bühne. Der Andrang von Prominenz und Kritik war so groß, dass man gleich drei Vorstellungen zur Uraufführung erklärte. Frisch war seit "Homo Faber" ein berühmter Autor, aber das Interesse galt auch dem Zeitstück. Denn dieses beschreibt das Verhalten der Schweiz während des Dritten Reichs: Der Kleinstaat brüstet sich mit seiner Menschlichkeit, passt sich aber aus Angst vor dem Einmarsch des Nachbarstaates zunehmend dessen Ideologie an. So war "Andorra" auch ein Beitrag zur Debatte über die Schuld der Mitläufer, wie es Max Frisch in einem Brief deutlich machte:

    "Das Stück handelt ( ... ) nicht von den Eichmanns, sondern von uns und unseren Freunden, von lauter Nichtkriegsverbrechern, von Halbspaß-Antisemiten, das heißt von den Millionen, die es möglich machten, dass Hitler (um schematisch zu reden) nicht hat Maler werden müssen. Die Andorraner, denen ich nicht ohne Noblesse mehr schweizerische als deutsche Töne verliehen habe, werden nie einen Jud abschlachten ... "

    Sie machen Andri bloß zu einem Juden "in einer Welt", wie Frisch schrieb, "wo das ein Todesurteil ist." Aber auch rückblickend sind sie sich keiner Schuld bewusst:

    "Was hat unsereiner denn eigentlich getan? Überhaupt nichts. Ich war Amtsarzt, was ich heute noch bin. ... Ich kann nur sagen, dass es nicht meine Schuld ist, einmal abgesehen davon, dass sein Benehmen (was man leider nicht verschweigen kann) mehr und mehr (sagen wir es offen) etwas Jüdisches hatte, obschon der junge Mann, mag sein, ein Andorraner war wie unsereiner."

    In der prominenten Besetzung der Zürcher Urinszenierung wirkten neben Willy Birgel als Doktor auch Ernst Schröder als Lehrer und Heidemarie Hatheyer als Andris Mutter mit. Peter Brogle gelang in der Rolle des Andri der Durchbruch. Die meisten Kritiker waren von "Andorra" tief beeindruckt. Siegfried Melchinger schrieb in der "Stuttgarter Zeitung":

    "Dieses Stück, dessen Uraufführung ein Ereignis des deutschsprachigen Theaterlebens war, wird von vielen westdeutschen Bühnen gespielt werden. Wir wünschen den Vorstellungen nicht den spontanen Applaus der Nichtbetroffenheit, den das Zürcher Publikum spendete. Noch unziemlicher wäre es freilich, wenn das Stück dazu missbraucht würde, das Alibi hervorzukehren, jenes wohlbekannte: 'Die anderen wären auch nicht besser gewesen.'"

    "Andorra" wurde im Januar 1962 von drei großen Bühnen in Deutschland zugleich aufgeführt, und das war nur der Anfang seines großen Erfolgs. Das Stück traf den Nerv der Zeit: in Jerusalem war gerade Adolf Eichmann zum Tode verurteilt worden. Die Publikumsreaktionen waren gespalten, es gab Buhrufe und Zuschauer, die Türen schlagend den Saal verließen. Kritische Stimmen waren auch von jüdischer Seite zu hören. Friedrich Torberg wandte ein, dass Judentum und Antisemitismus nicht zum Modellhaften taugten, und Hans Weigel machte auf eine Unstimmigkeit aufmerksam:

    "Wenn Andorra nicht Andorra ist, wenn Menschen Andrí, Barblín, Fedrí heißen, wenn der Nachbarstaat jeder faschistische Staat von Mussolini über Hitler zu Perón sein könnte, müsste statt Jud gleichfalls eine verallgemeinernde, gleichnishafte Chiffre stehen."

    Max Frischs "Andorra" war der Welterfolg des deutschsprachigen Nachkriegstheaters und wird – als Modell über die Entstehung eines Außenseiters – auch heute noch gespielt.