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Weltfremde Lösungsvorschläge eines Computerfreaks

In den Chor der WWW-Kritiker stimmt nun Jaron Lanier ein, der Erfinder der virtuellen Realität, einer der Pioniere des Internetzeitalters. In seinem neuen Buch "Gadget" bemängelt Lanier vor allem, dass sich nämlich das Internet nicht ausreichend zum Geld verdienen eignet.

Von Gerhard Klas |
    "Die Worte in diesem Buch sind für Menschen geschrieben, nicht für Computer. Ich möchte sagen: Man muss jemand sein, bevor man etwas mitzuteilen hat."

    ... schreibt der überzeugte Individualist Jaron Lanier. Die High-School hat er ohne Abschluss abgebrochen und lehrt heute an mehreren Universitäten in den USA Informatik. Die Haare des 49-Jährigen hängen als verfilzte Dreadlocks vom Kopf, er spielt Flöte und Klavier, komponiert Musik für kleine Kammerensembles und große Orchester. Der Autodidakt programmierte bereits 1983 eines der ersten Computerspiele. Er gilt als Begründer der Technologie der "virtuellen Realität". Doch der Veteran ist skeptisch geworden und sieht durch neue Anwendungen – zum Beispiel durch Facebook - die Individualität jedes Einzelnen gefährdet.

    "Wer einen Strom standardisierter Daten über die Gefühlswelt einer Gruppe von Freunden erhält, muss lernen, in den Begriffen dieses Stroms zu denken, damit er überhaupt als lesenswert erscheint. Mache ich damit den vielen hundert Millionen Nutzern von Social-Networking-Sites den Vorwurf, sie setzten sich selbst herab, um diese Dienste nutzen zu können? Ja. Genau das tue ich. Ich kenne viele Menschen, meist (aber durchaus nicht nur) junge Leute, die stolz von sich behaupten, über Facebook Tausende von Freunden gewonnen zu haben. Offensichtlich kann diese Behauptung nur zutreffen, wenn man die Bedeutung von "Freundschaft" herabmindert."

    Lanier greift in seinem Buch immer wieder die weitverbreitete Angst auf, dass Maschinen eines Tages die Menschen beherrschen könnten. Tatsächlich gibt es Computerfreaks, die davon träumen, dass eine künstliche Intelligenz eines Tages die Macht übernehmen wird. Aber zumindest in dieser Hinsicht beruhigt Lanier seine Leser, denn das könne niemals der Fall sein, weil auch der leistungsfähigste Computer immer noch auf menschliche Eingaben angewiesen sei. Allerdings zerstöre das Internet – so wie es heute genutzt wird – die Verdienstmöglichkeiten und damit die Kreativität von Musikern und Journalisten, meint Jaron Lanier.

    "Was mich wirklich enttäuscht: Es ist uns nicht gelungen, genügend Jobs zu schaffen. Vor zehn Jahren dachten wir noch, das Internet würde zu einer der großen, amerikanischen Industrien werden und würde die amerikanischen Krisensektoren – wie die Autoindustrie – ersetzen. Wir haben uns sogar vorgestellt, es sei eine Art Ent-Wirtschaftlichung. Wir haben das Internet leichtfertig als Mittel betrachtet, Texte und Musikdateien umsonst herumzuschicken. Dabei dachten wir, das sei alles im Dienste der Werbung für diese Produkte."

    Jaron Lanier, hier zu hören in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen US-Fernsehsender PBS, hat deutlich erkannt, dass Filesharing sowie Copy&Paste–Kultur zu einer Haltung geführt haben, wonach kreative Inhalte wie selbstverständlich kostenlos zur Verfügung stünden. Dabei käme wenig "Neues" zustande, denn die Inhalte des Internets speisten sich zu einem großen Teil aus den "alten Medien", die auf alle erdenkliche Weise wieder aufbereitet werden: Musik, Filme, Bücher und journalistische Erzeugnisse.

    "Wenn Inhalte keinen Wert haben, werden Menschen bald hohl und inhaltslos sein."

    Leider stellt sich im Laufe der Lektüre heraus, dass Laniers Sorge weniger dem Gebrauchswert, sondern vielmehr dem Tauschwert der Kreativität gilt. Ihm geht es darum, mit Inhalten vor allem Geld zu verdienen – und um die Rolle der USA als Wirtschaftsmacht.

    "Es war ein Fehler, das Internet und den Kapitalismus voneinander zu trennen. Das ist schlecht für unser Land. Erinnern Sie sich – es gab eine nationale Entscheidung, dass wir uns zu einem Land der intellektuellen Eigentumsrechte entwickeln wollen. Die Waren würden in China produziert, aber wir würden das Design entwickeln und all die kreative Arbeit leisten. Aber mittlerweile haben wir vergessen, was wir damals wollten und verschleudern unsere intellektuellen Produkte zunehmend umsonst. Für uns bleibt immer weniger übrig. Das ist nicht länger hinzunehmen."

    Die reale Welt außerhalb des Internets besteht bei Lanier aus Musik, Partys und der Finanzwelt – der er ebenfalls kreative Potenziale zuschreibt. Seine Problemanalyse enthält zwar einige wichtige Anregungen – seine Lösungsvorschläge jedoch erscheinen sehr weltfremd. Es stellt sich die Frage, ob es Lanier tatsächlich um die kreativ Tätigen geht, oder ob er vielmehr versucht, die in der Internet-Gemeinde umstrittene Logik der Marktwirtschaft zu rechtfertigen. Besonders deutlich wird das in seinen unverhohlenen Attacken auf die Open-Source-Bewegung und die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die sich bewusst von profitorientierten Unternehmen wie Microsoft oder Apple absetzen. Die "Weisheit der Vielen" auf die sich deren Anhänger berufen, kritisiert Lanier als "Mob, als Herde, als Masse", die Individualität und Kreativität ersticke. Er nennt das kybernetischen Totalitarismus oder digitalen Maoismus.

    "Wikipedia zelebriert die intellektuelle Herrschaft des Mobs."

    Immer wieder und fast schon pathologisch baut Lanier den Gegensatz zwischen Kollektiv und Individuum auf. Er scheint nicht in der Lage, dieses Gegensatzpaar dialektisch zu begreifen, das heißt das Individuum als Produkt des Kollektivs und das Kollektiv als Zusammenschluss von Individuen. Lanier hofft vielmehr darauf, dass das Internet stärker als individuelle Einnahmequelle genutzt wird und werden kann.

    "Die Menschen sind unternehmerisch und schätzen die Chance, mit ihren Bits Geld zu verdienen."

    Lanier glaubt an den Fortschritt. Daran, dass Computer irgendwann den neuen, entkörperlichten Menschen ermöglichen, der mithilfe der virtuellen Welt völlig neue Erfahrungen sammeln kann. Leider ignoriert er dabei die ganz banalen, materiellen Bedürfnisse, die in der virtuellen Welt kaum zu befriedigen sein werden. In seinem Buch wirft Jaron Lanier einige wichtige Fragen auf. Aber ihm fehlen die Antworten. Nach der Lektüre wirkt der Medienrummel um ihn und seine bisweilen überheblichen Thesen völlig überzogen. Nicht von ungefähr ist er in den USA nach der Veröffentlichung des Buches von Microsoft angeheuert worden: als Entwickler für neue Internet-Technologien.

    Jaron Lanier: Gadget. Warum uns die Zukunft noch braucht, 247 Seiten, 19,90 Euro, Suhrkamp