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Weltgeschichte aus der Froschperspektive

Alex Capus erzählt die Liebesgeschichte von Léon und Louise. Ihr Leben ist bestimmt von den Umständen vor und während der Besatzung von Paris durch die Deutschen. Ein Roman zwischen Fiktion und historischem Bericht.

Von Agnes Hüfner | 09.05.2011
    "Die Liebesgeschichte habe ich überhaupt nicht recherchiert, die ist meine Erfindung. Die äußeren Umstände, da habe ich mich schon sehr intensiv damit befasst. Ich meine, ich will eine Liebesgeschichte erzählen zwischen zwei und noch mal zwei oder drei Leuten, die vor bald hundert Jahren begonnen hat. Wir wissen ja kaum von unseren eigenen Liebesgeschichten, was, warum, weshalb, wann, wie genau passiert ist, auch wenn sie noch viel weniger lang zurückliegen. Wie sollen wir denn fremder Leute Liebesgeschichten, die 100 Jahre her sind, irgendwie rekonstruieren können. Das ist nicht möglich. Das ist einfach die Vorstellung von mir, wie es gewesen sein könnte, nicht mehr und nicht weniger."

    Die Liebe ist das eine, das andere sind die historischen Ereignisse, die das Leben nicht nur von Léon und Louise bestimmen. Louise trägt als Gehilfin des Bürgermeisters während des Ersten Weltkriegs die Gefallenenmeldungen in die Häuser der Kleinstadt. Léon wird, als Paris von den Deutschen besetzt ist, von SS-Hauptmann Helmut Knochen kontrolliert, mit Kaffee bestochen, schließlich verwarnt, weil ihm beim Abschreiben der Ausländerkartei auffällig viele Fehler unterlaufen.

    "Die äußeren Umstände, die in die Geschichte eingebettet sind, für die verbürge ich mich, für die historischen Ereignisse und was sonst noch alles geschieht in dem Roman, die sind ebenso wichtig, weil einfach eine Liebesgeschichte zwischen zwei, drei oder meinetwegen auch fünf Leuten erzählen, die intensive Gefühle haben und einander in ihre blauen Augen schauen, dann irgendwie erschüttert sind, das interessiert mich nicht. Für mich ist die Liebe eigentlich immer eine Tätigkeit, die man ausübt in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, mit der Gesellschaft, in der man lebt, mit Mensch und Tier, und Justiz und Polizei, und Militär, und Krieg und Frieden. Das gehört alles dazu, und deswegen schildere ich das alles mit."

    Das Bild der von der Wehrmacht besetzten Stadt Paris besteht aus lauter einzelnen Beobachtungen. Einmal sieht Léon Hitler im Auto vorbeifahren, ansonsten wird der Alltag geschildert, die überstürzte Flucht der Bewohner, nach dem Einmarsch der Deutschen, die Rückkehr, als die erwartete Apokalypse ausbleibt, der Schwarzmarkt, der Kollege, der sein Boot verkaufen will, weil er in die freie Zone fliehen muss, der Clochard, der sich der Résistance anschließt. Die Beschreibung der Jahre 1940 bis 44 liest sich wie ein Augenzeugenbericht.

    "Ich versuche mir vorzustellen, wie gewöhnliche Leute in Paris, wie mein Großvater beispielsweise, der Rue des Ecoles gewohnt hat, wie der die Besatzung miterlebt haben mag. Der bekommt die nicht aus der welthistorischen Vogelperspektive mit, wenn er da lebt, sondern der schaut aus dem Fenster und sieht: Ach, da sitzt ein Soldat, ein ganz alltägliches Bild, und isst einen Apfel. Aber Moment Mal, der trägt ja gar keine kakibraune Uniform, sondern die ist wehrmachtgrau. Was ist da los? Und so haben die Pariser überhaupt mitbekommen, dass sie jetzt besetzt worden sind, weil die Wehrmacht ist ja, zumindest zu Beginn, ganz auf Samtpfoten, ganz höflich und leise über Nacht einmarschiert. Ich versuche, diese Froschperspektive sozusagen immer einzunehmen und nicht die Weltgeschichte von oben zu erzählen, sondern in dem Phänomen, wie sie sich eben dann ausgeprägt haben unten auf der Straße."

    Die Eigenart des Autors Geschichte von unten zu erzählen, geht einher mit seinem Ehrgeiz, bis ins Detail exakt, überprüfbar zu sein. In Sachen Fakten und Faktentreue schlüpft der Erzähler in die Rolle eines Kartografen.

    "Ich habe auch Reisen gemacht. Ich gehe immer an die Schauplätze hin, auch, wenn ich sie eigentlich schon kenne von früheren Besuchen her, fahre ich trotzdem noch mal hin, meist, wenn ich schon das entsprechende Kapitel geschrieben habe, um einfach sicherzustellen, dass es tatsächlich ein Fußweg von drei Minuten ist und nicht sieben oder zehn. Ich will, dass das stimmt. Das trägt auch zur Glaubwürdigkeit der Geschichte bei. Es gibt ja zwei, drei Afrika-Kapitel. Dann fahre ich hin an den Senegalfluss. Ich will wissen, ob man von dieser Terrasse aus, die ich beschreibe, tatsächlich den Hähnchenbeinknochen in den Senegalfluss schmeißen kann, ob die Distanz nicht zu groß ist und so weiter. Dann esse ich tatsächlich ein Hähnchen und schmeiße den Knochen in den Fluss. Und solche Sachen mache ich schon. Das sind auch Belohnungen natürlich. Mache ich gern."

    Im seinem ersten Roman "Munzinger Pascha" folgt Alex Capus dem Lebenslauf des Afrikaforschers Werner Munzinger, der im 19. Jahrhundert in Ägypten zum Gouverneur aufsteigt. Der Roman "Eine Frage der Zeit" spielt am Tanganikasee in Deutsch-Ostafrika, wohin Kaiser Wilhelm II. kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Dampfschiff transportieren lässt, um den Engländern am gegenüberliegenden Ufer Paroli zu bieten. Jetzt verfrachtet der Autor Louise mit den Goldreserven der Banque de France in den Senegal. Von dort schreibt sie Léon Liebesbriefe. Das Faible für Afrika verbündet sich mit der Absicht des Autors, dramaturgisch zu überzeugen.

    "Man muss aufpassen, wenn man sich als Geschichtenerzähler Afrika zur Bühne wählt, dass man nicht in kolonialistische oder spät- oder postkolonialistische Mechanismen verfällt. Sehr rasch einmal ist Afrika der Sehnsuchtsort in der Negation all dessen, was wir ein bisschen satthaben in Europa. Auch als Geschichtenerzähler ist es tatsächlich so, dass das afrikanische Setting natürlich gewisse Vorteile bietet. Es ist, das muss man nur offen zugeben, auch bunt. Es bietet was fürs Auge, wenn man das beschreibt, man kann das beschreiben. In diesem Fall jetzt musste ich ja für diesen Roman einen Weg finden, um Louise weit genug von Léon zu entfernen, damit sie sich ihm öffnen kann. Die verzichten ja aufeinander und halten sich voneinander fern, weil es einfach nicht denkbar ist, dass jetzt Mitte der 20er-Jahre, Weltwirtschaftskrise, in einem katholischen Land, die beiden einfach wegen ihrer persönlichen persuasion of happiness alle Brücken abbrechen."

    Vor Jahr und Tag antwortete Alex Capus auf die Frage nach den Techniken, dem Handwerk des Schreibens mit dem Satz: "Ich bin ein Naiver".

    "Mir gefällt das eigentlich gut. ... Ich erzähle Geschichten. Das ist wirklich so, und ich überlege mir nicht erst eine ideologische Konstruktion, beispielsweise, weshalb ich jetzt diese Geschichte erzählen will, sondern ich hab' einen Instinkt für gute Geschichten. Ich fühle die, und deswegen erzähle ich die, wie ich sie fühle. Und erst im Nachhinein weiß ich eigentlich, weshalb ich was wie gemacht habe. ... Ich weiß, wie ich eine Geschichte erzählen will, das muss ich mir nicht überlegen."

    Alex Capus: Léon und Louise. Roman. Carl Hanser Verlag, München, 2011. 315 Seiten, 19,90 Euro.