Der Schweizer an sich ist ein seltsames Wesen. Ständig ist er mit sich selbst beschäftigt, und obgleich er im Wohlstand lebt, hadert er mit sich und seiner Geschichte und seiner Neutralität. Dieser in den Bergen ausgiebig gepflegten Übung der Selbstvergewisserung hat nun das Züricher "Theater am Neumarkt" eine neue Variante hinzugefügt: ein viereinhalbstündiges Exerzitium über die Schweiz im Ersten Weltkrieg.
Im ersten Teil meint man, einem Probewohnen auf offener Bühne beizusitzen, so ausführlich pellt eine multikulturelle Kompanie Soldaten, die sich alle als Schweizer entpuppen, die Hauptfiguren aus Plastikplanen heraus. Aber man hat ja Zeit.
Es geht um die großbürgerliche Familie Amann, freisinnig-konservativ geführt vom Patriarchen Alfred, der alles in einer Person ist: Rechtsanwalt, Unternehmer, Nationalrat und nebenbei natürlich Oberst der Armee - der kleine Jörg Schneider macht daraus eine knorrige Karikatur: der Familiendespot als Volkstheatraliker.
Familie Amann wird, wie die gesamte Schweiz, ergriffen vom kriegerischen Wahn des ersten Weltkriegs, von den Stahlgewittern, die man fast sehnsüchtig erwartet, die freilich in der Schweiz nie wirklich ankommen. Nur die verwundeten Soldaten, die in der Schweiz gepflegt werden, geben eine Ahnung vom Todestaumel jenseits der Grenzen.
Aber auch die Neutralität, die Mobilmachung zur Absicherung der Landesgrenzen versetzt das Land in eine fast erotische Erregung und Erlösungssehnsucht, ein Virus, der die inneren Widersprüche der vielsprachigen Schweiz hochpflügt: da agieren Deutsche gegen Welsche, Bürger gegen Proleten, Reaktionäre gegen Linke mit bürgerkriegsähnlichen Szenen am Schluss.
Der "Schweizerspiegel", ein bei uns völlig unbekannter 900-Seiten-Schinken des 1971 gestorbenen Schriftstellers Meinrad Inglin, ist Grundlage der Inszenierung - aber man wird den Eindruck nicht los, dass es den beiden Bearbeitern, Urs Bräm und Samuel Schwarz (die auch Regie geführt haben), politisch vor allem um die heutige Schweiz geht - die freilich in einem Ambiente spießiger 20er-Jahre-Muffigkeit angesiedelt ist. Mit ihrem trägen, depressiven Gestus könnten diese Züricher Familienbilder allerdings auch aus der postsozialistischen Ostblock-Lethargie stammen.
Noch heute spielt die Landesverteidigung in der Schweiz eine Hauptrolle, jeder Schweizer Bürger muß immer wieder zu einer objektiv eher schwach ausgerüsteten Armee einrücken, und wer dort Karriere macht, der hat es auch in Wirtschaft und Politik fast schon geschafft. Es ist dieses Verdeckt-Aggressive der heutigen Schweiz, das Bräm und Schwarz im Blick haben. Andererseits fragt man sich, ob das nicht die Schlachten von gestern sind - die Schweizer Rechte ist ja schon von der Züri-brennt-Bewegung der 80er Jahre bis aufs Hemd entkleidet worden.
Bräm und Schwarz lassen die Geschichte von einer lärmenden Soldateska erzählen, die per Video einen etwas fragwürdigen Heimatfilm dreht. Privates und Politisches werden auf bewährte Art verschränkt: während die Hauptfigur Hartmann (kurioserweise heißt der so wie der neue Schauspielhaus-Intendant Matthias Hartmann) ... während Hartmann als reaktionärer Scharfmacher preußische Tugenden pflegt, versucht Gattin Gertrud den Ausbruch aus dem Ehekäfig - ihre Liaison mit einem dekadenten Lyriker ist allerdings eher kläglich.
Verblüffend immer wieder die Vielzahl theatralischer Mittel, die am Neumarkt zum Einsatz kommen: während man in der letzten Saison die Pathetik von Todesarten mimisch durchorgelte, ausgiebig mit Puppen spielte und ganze Abende "den Dingen", sprich: den Requisiten widmete, hat man nun den Video-Film entdeckt und die Verfremdung durch versetztes Sprechen: ganze Szenen kommen vom Band, die Schauspieler sind ihre eigenen Synchronsprecher. Es gibt Schattenspiele wie bei Murnau und Scherenschnitte wie auf dem Jahrmarkt, Soldaten als antiken Chor und nicht immer tonrein dargebotenes Schweizer Liedgut.
Viereinhalb Stunden braucht man für diesen großen Schweizer Bilderbogen, und als Zuschauer fühlt man sich wie in einem Wim-Wenders-Film: ein wenig gequält und dann doch seltsam bestätigt, weil man durchgehalten hat. Am Ende triumphiert die multikulturelle Schweiz: zwar sei sie die "Republik des Kotes", teilen die Autoren mit, aber es gebe "polnische Huren im Tessin, tschechische Nutten in Davos" und "Exzesse im Jura". Für das "Theater am Neumarkt" offenbar ein Zeichen der Hoffnung.
Im ersten Teil meint man, einem Probewohnen auf offener Bühne beizusitzen, so ausführlich pellt eine multikulturelle Kompanie Soldaten, die sich alle als Schweizer entpuppen, die Hauptfiguren aus Plastikplanen heraus. Aber man hat ja Zeit.
Es geht um die großbürgerliche Familie Amann, freisinnig-konservativ geführt vom Patriarchen Alfred, der alles in einer Person ist: Rechtsanwalt, Unternehmer, Nationalrat und nebenbei natürlich Oberst der Armee - der kleine Jörg Schneider macht daraus eine knorrige Karikatur: der Familiendespot als Volkstheatraliker.
Familie Amann wird, wie die gesamte Schweiz, ergriffen vom kriegerischen Wahn des ersten Weltkriegs, von den Stahlgewittern, die man fast sehnsüchtig erwartet, die freilich in der Schweiz nie wirklich ankommen. Nur die verwundeten Soldaten, die in der Schweiz gepflegt werden, geben eine Ahnung vom Todestaumel jenseits der Grenzen.
Aber auch die Neutralität, die Mobilmachung zur Absicherung der Landesgrenzen versetzt das Land in eine fast erotische Erregung und Erlösungssehnsucht, ein Virus, der die inneren Widersprüche der vielsprachigen Schweiz hochpflügt: da agieren Deutsche gegen Welsche, Bürger gegen Proleten, Reaktionäre gegen Linke mit bürgerkriegsähnlichen Szenen am Schluss.
Der "Schweizerspiegel", ein bei uns völlig unbekannter 900-Seiten-Schinken des 1971 gestorbenen Schriftstellers Meinrad Inglin, ist Grundlage der Inszenierung - aber man wird den Eindruck nicht los, dass es den beiden Bearbeitern, Urs Bräm und Samuel Schwarz (die auch Regie geführt haben), politisch vor allem um die heutige Schweiz geht - die freilich in einem Ambiente spießiger 20er-Jahre-Muffigkeit angesiedelt ist. Mit ihrem trägen, depressiven Gestus könnten diese Züricher Familienbilder allerdings auch aus der postsozialistischen Ostblock-Lethargie stammen.
Noch heute spielt die Landesverteidigung in der Schweiz eine Hauptrolle, jeder Schweizer Bürger muß immer wieder zu einer objektiv eher schwach ausgerüsteten Armee einrücken, und wer dort Karriere macht, der hat es auch in Wirtschaft und Politik fast schon geschafft. Es ist dieses Verdeckt-Aggressive der heutigen Schweiz, das Bräm und Schwarz im Blick haben. Andererseits fragt man sich, ob das nicht die Schlachten von gestern sind - die Schweizer Rechte ist ja schon von der Züri-brennt-Bewegung der 80er Jahre bis aufs Hemd entkleidet worden.
Bräm und Schwarz lassen die Geschichte von einer lärmenden Soldateska erzählen, die per Video einen etwas fragwürdigen Heimatfilm dreht. Privates und Politisches werden auf bewährte Art verschränkt: während die Hauptfigur Hartmann (kurioserweise heißt der so wie der neue Schauspielhaus-Intendant Matthias Hartmann) ... während Hartmann als reaktionärer Scharfmacher preußische Tugenden pflegt, versucht Gattin Gertrud den Ausbruch aus dem Ehekäfig - ihre Liaison mit einem dekadenten Lyriker ist allerdings eher kläglich.
Verblüffend immer wieder die Vielzahl theatralischer Mittel, die am Neumarkt zum Einsatz kommen: während man in der letzten Saison die Pathetik von Todesarten mimisch durchorgelte, ausgiebig mit Puppen spielte und ganze Abende "den Dingen", sprich: den Requisiten widmete, hat man nun den Video-Film entdeckt und die Verfremdung durch versetztes Sprechen: ganze Szenen kommen vom Band, die Schauspieler sind ihre eigenen Synchronsprecher. Es gibt Schattenspiele wie bei Murnau und Scherenschnitte wie auf dem Jahrmarkt, Soldaten als antiken Chor und nicht immer tonrein dargebotenes Schweizer Liedgut.
Viereinhalb Stunden braucht man für diesen großen Schweizer Bilderbogen, und als Zuschauer fühlt man sich wie in einem Wim-Wenders-Film: ein wenig gequält und dann doch seltsam bestätigt, weil man durchgehalten hat. Am Ende triumphiert die multikulturelle Schweiz: zwar sei sie die "Republik des Kotes", teilen die Autoren mit, aber es gebe "polnische Huren im Tessin, tschechische Nutten in Davos" und "Exzesse im Jura". Für das "Theater am Neumarkt" offenbar ein Zeichen der Hoffnung.