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Weltrekord: Belgien seit einem Jahr ohne Regierung

Seit dem 13. Juni 2010 wird Belgien nur geschäftsführend regiert. Das funktioniert zwar recht gut, wirft aber ein trübes Licht auf den für Außenstehende nur schwer nachvollziehbaren Streit zwischen Flamen und Wallonen. Dieser Tage erleben die Belgier einen erneuten Regierungsbildungsversuch.

Von Doris Simon | 10.06.2011
    Weltrekord – bald 365 Tage nach den Wahlen in Belgien versuchen die Macher der Website "Record du Monde" der wenig hoffnungsfrohen Lage etwas Lustiges abzugewinnen. So wie vor ihnen schon viele andere Belgier: mit Studenten-Happenings und Frittenrevolution, mit Rauschebärten, die solange wachsen, bis eine neue Regierung vereidigt wird, mit Kunst und Musik von Künstlern aus dem ganzen Land.

    Im Januar brachte eine Handvoll Zwanzigjähriger mithilfe des Internets Zehntausende in Brüssel zusammen, um gegen fehlende Kompromissbereitschaft flämischer und französischsprachiger Politiker zu demonstrieren. Organisator Felix de Clerck war damals zuversichtlich, nun liege der Ball bei den Politikern: Jugend und Bevölkerung hätten klar signalisiert, dass sie endlich eine Regierung wollten.

    Doch die Monate seither haben Belgien keinen Schritt weiter gebracht.

    Die Verfassung verlangt, dass jede belgische Regierung aus flämischen und französischsprachigen Parteien gebildet wird. Das war immer schwierig, hat sich aber verschärft seit dem Erfolg der flämischgesinnten NVA unter ihrem charismatischen Chef Bart de Wever: De Wever erhielt vor einem Jahr die meisten Stimmen in Flandern. Die Forderungen der NVA, die ein unabhängiges Flandern anstrebt, und möglichst wenig Belgien, lassen nicht nur französischsprachige Belgier schlecht schlafen. Mit ihren populistischen Parolen treiben die flämischen Separatisten die flämischen Liberalen und auch die flämischen Christdemokraten, die über Jahrzehnte Belgiens Ministerpräsidenten stellten, vor sich her. Aus Angst vor weiterer Wählerbestrafung geben sich vor allem die Christdemokraten inzwischen so unnachgiebig wie die flämischen Separatisten. Daran scheiterte der Kompromissvorschlag des bisher aussichtsreichsten Vermittlers, Senator Johan van de Lanotte:

    "Es fehlte an der Bereitschaft zur Einigung. Man kann ein Pferd an die Tränke führen, aber man kann es nicht zum Trinken zwingen."

    Der belgische Kompromiss, selten schön, aber oft erforderlich für das Funktionieren eines sehr vielschichtigen Landes, gilt vielen Flamen heute als Ausdruck all dessen, was falsch läuft in Belgien. Doch keine Seite kann allein jahrzehntealte Streitfragen auflösen. Flämische und französischsprachige Parteien müssen sich einigen: über die Neuordnung des letzten zweisprachigen Wahl- und Gerichtskreises ebenso wie über die Rechte französischsprachiger Belgier in den flämischen Gemeinden rund um Brüssel, über die Übertragung von Kompetenzen vom belgischen Staat auf die Regionen und die Zukunft der chronisch unterfinanzierten Hauptstadt Brüssel. Derzeit sucht der Sozialist Elio di Rupo nach einem Kompromiss. Bald will der Wahlsieger im französischsprachigen Süden Belgiens seinen Vorschlag den übrigen Parteien und der Öffentlichkeit präsentieren. Vorab kündigte der wallonische Sozialist auf Niederländisch an, man habe im Süden Belgiens sehr wohl den flämischen Wunsch nach mehr Autonomie und finanzieller Eigenverantwortung verstanden, sein Plan ziele ab auf eine Stärkung der Teilstaaten Flandern, Wallonie und Brüssel :

    "Wir brauchen ein neues Gleichgewicht zwischen unseren Institutionen mit einer größeren Autonomie für die Regionen und die Gemeinschaften."

    Doch dafür muss zuerst eine Einigung zwischen flämischen und französischsprachigen Parteien her. Die aber kann derzeit keiner erkennen. Es wäre bereits ein großer Erfolg, wenn Belgien im Herbst eine Regierung hätte, sagt der Politologe Carl Devos.

    Glaubt man einer Umfrage aus dem letzten Monat, dann bereitet das Ausbleiben einer neuen Regierung vielen Belgiern Sorge. Doch im täglichen Umgang merkt man davon nichts, da zählt, dass die Konjunktur wieder anzieht und die Arbeitslosenzahlen sinken – auch wenn einige Ratingagenturen immer noch damit drohen, Belgien herunterzustufen, wenn nicht bald eine neue Regierung Reformen anpackt und Milliardeneinsparungen vornimmt. Denn eine so weitgehende Kompetenzüberschreitung traut sich die geschäftsführende Regierung trotz lockeren Umgangs mit den verfassungsrechtlichen Einschränkungen dann doch nicht zu. Übergangs-Premier Yves Leterme hat übrigens auch einen Rekord aufgestellt: Leterme ist geschäftsführend nun länger im Amt als als ordentlich gewählter Premierminister – und wird dabei jeden Tag in Belgien populärer.