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Wem dient das Kölner Beschneidungsurteil?

Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist tief verunsichert. Seitdem das Kölner Landgericht die Beschneidung von Jungen aus religiösen Motiven verboten hat, herrscht große Unruhe in den Gemeinden. Denn der Richterspruch trifft einen besonders sensiblen Punkt: Im Lauf der Geschichte gab es immer wieder Beschneidungsverbote als Instrument einer judenfeindlichen Politik.

Von Carsten Dippel | 03.07.2012
    "Diese Urteil heißt mit anderen Worte: Juden, ihr seid in Deutschland nicht gewünscht. Das ist eine Vertreibung der Juden aus Deutschland. Weil jeder vernünftige Mensch weiß, sogar wenn er wenig von Religion versteht, dass Beschneidung in der jüdische Religion ist ein Fundament. Und Juden werden nicht leben in so einem Ort, das Beschneidung verboten ist."

    Yitzhak Ehrenberg ist seit 1997 orthodoxer Gemeinderabbiner in Berlin. Er stammt aus Israel, ist Vater von fünf Kindern und war lange Zeit in Wien und München tätig. Als Rabbiner betreut er viele Beschneidungen. Nun versteht er die Welt nicht mehr.

    "Was wird diese Gesetz Religionsfreiheit, wenn die Fundament, die Säule der Religion ist weg? Geht es überhaupt nicht. Ich glaube, es ist wirklich ein Widerspruch."

    Die Brit Mila, die Beschneidung eines jüdischen Jungen am 8. Tag nach seiner Geburt, gehört zu den elementaren Geboten des Judentums. Oft gibt es zu Fragen des religiösen Gesetzes, der Halacha, divergierende Meinungen. Was ist an einem Shabbat erlaubt? Wie streng müssen Speisevorschriften befolgt werden? Bei der Beschneidung jedoch sind sich orthodoxe wie liberale Juden einig: Über sie kann nicht verhandelt werden. Und auch unter säkularen Juden ist die Beschneidung weitgehend üblich. Sie macht einen wesentlichen Teil jüdischer Identität aus.

    "Wir sind eine goldene Kette von Tausenden von Jahren. Ich habe das von meinen Eltern, von meinen Großeltern bekommen und die haben das von deren Großeltern bekommen. Es gibt solche Dinge, das ist überhaupt keine Frage da. Unsere Pflicht ist und das steht in der Tora, auch im Talmud, ein Vater muss sein Sohn, wenn der Sohn zu acht Tage kommt, Brit machen. Brit Mila ist nicht eine Sache zu debattieren und das wir unsere Kinder lassen."

    Das Kölner Urteil trifft einen besonders sensiblen Punkt in der Beziehung des säkularen, aber doch wesentlich vom Christentum geprägten Staates zum Judentum. Denn im Lauf der Geschichte gab es immer wieder Beschneidungsverbote als Instrument einer judenfeindlichen Politik. Eine Tradition der Diskriminierung, die vom römischen Kaiser Hadrian bis in die Sowjetunion reicht.

    "Ich frage mich, wem dient das Urteil eigentlich. Wir sind jetzt das einzige Land auf der Welt, das die Beschneidung unter Strafe stellt. Das ist aufgrund unserer Tradition nicht besonders gut für uns. Offensichtlich haben die Richter ein Interesse daran, die religionspolitischen Koordinaten in unserem Land zu verändern. Und das halte ich für problematisch."

    Rolf Schieder lehrt Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Berliner Humboldt-Universität. Für ihn wirft die umstrittene Entscheidung des Kölner Landgerichts grundsätzliche Fragen zum Verhältnis zwischen säkularem Staat und Religion auf.

    "Man hat ein bisschen den Eindruck, der säkulare Staat hätte am liebsten unsichtbare Religionen um sich, die sich möglichst nur im Geistigen, Ethischen, Innerlichen abspielen. Sobald es sich um sichtbare Zeichen des Religiösen handelt, fühlen sich diejenigen, die hier in Deutschland das Verhältnis von Staat und Religion regeln, deutlich unwohl. Also wenn das mit dem säkularen Staat so stimmt, dass er das Kind vor Religion schützen muss, dann haben wir wirklich eine spannende Debatte im Lande."

    Ist die körperliche Unversehrtheit des Kleinkindes höher zu bewerten als die Religionsfreiheit und das Elternrecht? Die Kölner Richter haben so argumentiert und damit die rituelle Beschneidung von Jungen als strafbare Körperverletzung eingestuft. Dies sei ein physischer Eingriff in das Kindeswohl, der sich durch keinerlei religiöse Tradition rechtfertigen lasse. Rolf Schieder kann dieser Argumentation nicht folgen.

    "Wenn wir ein Kind zur Operation bringen und das Kind bekommt eine Betäubungsspritze, ist das zwar rechtsmedizinisch Körperverletzung, aber die Frage ist, ob es rechtfertigende Gründe gibt. Und die Behauptung, dass es diese rechtfertigenden Gründe nicht gibt, das ist das Problem dieses Urteils. Weil ja geurteilt wird, das Kind könne sich ja für seine Religionsgemeinschaft entscheiden, wenn es religionsmündig sei. Das bedeutet also für alle Kinder von der Geburt bis zum 14. Lebensjahr müssten wir eigentlich die Frage offen lassen, ob es in eine Religionsgemeinschaft hinein sozialisiert werden soll oder nicht. Insofern wird hier eine neue Debatte eröffnet: Ob man überhaupt Kinder religiösen Ritualen aussetzen soll."

    Über einen so folgenreichen Eingriff müsse das Kind selbst entscheiden können, sagen die Kölner Richter. Dies ist frühestens dann der Fall, wenn es mit 14 Jahren religionsmündig wird. Das hieße aber auch: Die gerade für einen Jugendlichen heikle Frage der Beschneidung würde sich ausgerechnet in die Phase der Pubertät verschieben. Die Sorge auf jüdischer Seite ist groß, dass viele Heranwachsende damit überfordert wären und sich gegen eine Beschneidung entscheiden würden. Nicht weil sie das Judentum ablehnten, sondern weil der Umgang mit dem eigenen Körper gerade in der Pubertät schwierig ist. Auf lange Sicht aber würde so eine der konstitutiven Säulen der jüdischen Religion wegbrechen. Ab wann also darf die religiöse Erziehung der Eltern beginnen? Und wie weit darf sie gehen? Theologe Rolf Schieder:

    "Man kann ja nicht so tun, als ob Religion ein isolierbarer Bereich wäre. Also auch dort, wo keine Religion im Sinne eines Bekenntnisses zu einer Konfession gepflegt wird, gibt es natürlich Grundeinstellungen, Grundwerte, die immer an das Kind weitergegeben werden. Also mit anderen Worten, kein Mensch entkommt der Beeinflussung durch Eltern, durch die Gesellschaft, in der er lebt. Sodass also diese Form des Schutzes, den das Landgericht einem Kind angedeihen lassen möchte, dazu führen müsste, dass es eine eigene aseptische kindliche Welt ohne jegliche Beeinflussung gibt."

    Die Folgen des Kölner Urteils sind derzeit kaum abzusehen. Das Urteil ist rechtskräftig. Schon haben am Wochenende zahlreiche Mediziner, Kliniken und Ärztevertreter angekündigt, Beschneidungen bis auf weiteres nicht mehr an Kindern durchzuführen. Was werden jüdische Eltern tun, deren neugeborenes Kind gerade bereit für die Brit Mila ist? Für Rabbiner Ehrenberg ist nun vor allem die Politik gefragt.
    "Deutschland hat sehr viel getan, damit dass die Juden hier wiederkommen nach dieser schrecklichen Shoah. Wir wollen hier bleiben und wir erwarten eine ganz klare Aussage von deutscher Regierung: Juden ihr seid gewünscht!"