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Wem gehört die Vergangenheit?

Geballte Anglizismen, erregte Diskussionen über die Vorteile von XML-Dateien, Namen von E-Journals, Subject Gateways und virtuellen Bibliotheken, die durch die Luft schwirrten wie aufgescheuchte Spatzen - das war die Kulisse von .hist 2003. Man hätte die Veranstaltung in der Berliner HumboldtUniversität über weite Strecke für ein Treffen von Multimedia-Experten halten können - tatsächlich aber war es eine Historiker-Tagung, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat.

Ein Beitrag von Arno Orzessek |
    Vertreter einer Zunft, der oft zurecht nachgesagt wurde, im Abseits der neuen Medien zu stehen, brillierten mit Computer- und Internet-Kompetenzen - aber keineswegs um der bloßen Freude willen. Denn in der sprichwörtlichen Datenflut des Netzes, im Anschwellen der digitalisierten Quellen und Texte, der differenzierten Bibliotheks- und Archivzugänge, in einer Zeit, in der die Informationsmenge ausufert, aber durch Passwords und Nutzergebühren auch schon wieder eingeschränkt wird, sich technische Standards ablösen und manches frische Digitalisat übermorgen schon wieder unerreichbar ist, weil die Speicherformate inkompatibel geworden sind - in dieser Situation wünschen sich die Historiker Orientierung, Qualitätssicherung und vor allem natürlich Beständigkeit des netz-basierten Angebotes.

    Rüdiger Hohls, der Projektleiter von Clio-online, dem größten deutschsprachigen Fachportal für Geschichtswissenschaften, das auch die Berliner Tagung veranstaltet hat, nimmt die berühmte Internet-Suchmaschine Google zum Maßstab. Denn Google ist so einfach und verführerisch, dass viele Historiker bisher die Fachangebote links liegen lassen.

    Es gibt den Google-Schock, aber es gib auch das Faszinosum Google - was meint, im Grunde wollen wir als Historiker irgendwann eine Zeile auf dem Webbrowser haben, der uns sicherstellt, wenn wir dort was eintippen, dass wir zu allen relevanten historischen Ressourcen durchgeleitet werden und diese Suchen stattfinden. Davon sind wir noch sehr, sehr weit weg, weil die Materialien, mit denen wir uns hier beschäftigen, einfach völlig unterschiedlich Strukturen haben, nach unterschiedlichen Verfahren nachgewiesen sind und so weiter.

    Auf der Berliner Leistungsshow präsentierten sich elektronische FachJournale wie "Zeitenblicke" und "Sehepunkte". Das preisgekrönte Übungsprogramm "Ad fontes", bei dem Studenten am Computer die Arbeit im Stiftsarchiv Einsiedeln lernen können, erregte genauso Aufsehen wie die digitale Zeitreise durchs 16. Jahrhundert namens "pastperfect". Es gab überhaupt viele seriöse und pfiffige Initiativen. Doch sie alle haben eine Sorge - nämlich im digitalen Orkus zu landen, wenn die Selbstausbeutung der Projektemacher und die Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft eines Tages endet. Es zeichnet sich ab, dass die wichtigsten Netzaktivitäten nur durch überregionale Kooperationen zwischen Universitäten, Bibliotheken und Archiven auf Dauer zu stellen sind. Wie das gelingen soll, weiß man noch nicht genau, aber ein Konsortialmodell namens Calliope - das ist der Name der ranghöchsten Muse im griechischen Mythos - zeigte immerhin, wie es rechtlich und organisatorisch funktionieren könnte.

    Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt gut fünfzig Retrodigitalisierungs-Projekte, darunter Zedlers Universallexikon, das Deutsche Rechtswörterbuch und das Grimmsche Wörterbuch. Es ist letztlich eine schmale Auswahl von kulturtragenden Schriftstücken, denen die Ehre der Digitalisierung widerfährt. Die verlockende Vision, Quellen und Schriften auch nur annähernd flächendeckend im Netz zugänglich zu machen und damit das kulturelle Gedächtnis umzusiedeln, kam in Berlin unter die Räder. Rüdiger Hohls.

    Die Archive gehen davon aus, das hat heute der Präsident des Bundesarchives vorgestellt, sie würden sich sehr glücklich schätzen, wenn sie in zehn Jahren etwa ein Prozent des Archivgutes als Digitalisate zur Verfügung stellen. In Bereich der Bibliotheken wird sich das nicht ganz anders darstellen.

    .hist 2003 war nicht auf Streit angelegt, dazu fehlte es an Technik-Skeptikern. Nur bei der Abschlussdiskussion zur Frage "Wem gehört die Vergangenheit in der Wissensgesellschaft?" gab es Widerborstige. Während Jürgen Renn, Direktor des Max Planck Instituts für Wissenschaftsgeschichte, die digitale Revolution der Wissensstrukturen anpries, hielt der Historiker Eev Overgauuw dagegen, dass eine digitalisierte mittelalterliche Handschrift am Bildschirm 90 Prozent ihrer Aussagekraft verlöre.

    Die überlieferte Kompetenz der Historiker - handwerklich die Erschließung von Archivmaterial, geistig die Stiftung von Zusammenhängen - wird weder durch das Internet, noch im Internet überflüssig. Das Gegenteil ist der Fall. Und das große Publikum wird wohl weiter Geschichtsbücher lesen, die in der Tradition von Golo Mann, Joachim Fest und Heinrich August Winkler stehen.

    Das wird es auch zukünftig geben, bin ich mir sehr sicher. Das sind die historischen Meistererzähler, die eine literarische Schreibe haben, in der Lage sind, Zeitgeist-Grundstimmungen aufzunehmen und die in eine literarische Form zu überführen.


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