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Wem gehört Europa?

Schäfer-Noske: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen ist zur Zeit wieder stark belastet. Im September hatte das polnische Parlament die Regierung aufgefordert, mit Berlin Verhandlungen über Kriegsreparationen aufzunehmen. Bundeskanzler Schröder lehnte dies ab und SPD-Chef Müntefering sprach gar von einer Provokation. Inzwischen hat die polnische Regierung klar gemacht, dass sie gar keine Reparationen will, doch da war das Kind schon in den Brunnen gefallen. Zuvor hatte eine Randgruppe der Vertriebenen eine Entrüstung in Polen ausgelöst, mit der Ankündigung, man wolle Eigentumsansprüche an Polen richten. Die deutschen Pläne für ein Zentrum gegen Vertreibungen hatten in Polen ebenfalls für Verstimmungen gesorgt. Manche polnischen Nationalisten predigen, die Deutschen wollten ganz Europa beherrschen und für die Polen sei nur die Rolle der billigen Arbeitskraft vorgesehen. Viel Zündstoff also für eine Diskussion beim Warschauer Literaturfestival zum Thema, "Wessen Europa? - Kollektive Geschichte und individuelle Erinnerung". Daher habe ich Martin Sander zunächst nach der Stimmung bei der Veranstaltung gefragt.

Moderation: Doris Schäfer-Noske |
    Sander: Die Stimmung dieser Diskussion oder dieser Veranstaltung muss man fast sagen - denn die Diskussion ist vielleicht nicht ganz gelungen - die war zerfahren. Das hatte etwas damit zu tun: Man hatte sich vorgestellt, dass Journalisten, Autoren aus verschieden Ländern, aus Ungarn, Weißrussland auch aus Russland und Deutschland ihre Thesen vortragen oder auch ihre Bücher vorstellen und dann haben doch aktuelle Fragen das ganze überschattet. Es war ein Autor, der das sehr und auch wie ich finde in einer polemischen Weise angesprochen hat, nämlich dieses deutsch-polnische Verhältnis im Blick auf die polnische, politische Klasse. Er hat sie sehr, sehr heftig kritisiert und gesagt, "Das ist ein Rückfall in eine Sprache der Kriegsführung und das ist eigentlich die Beendigung des Dialogs." So polemisiert also ein polnischer Autor mit der polnischen, politischen Klasse. Wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass die Gruppe der deutschen Vertriebenen und Frau Steinbach, die eigentlich zu dieser ganzen sehr negativen Entwicklung geführt hat, in Polen eben nicht als eine randständige Gruppe gesehen wird - das ist eigentlich der Hintergrund -, sondern dass es doch in Polen immer noch leicht fällt, historische, unglaublich traumatische Erfahrungen wieder zu beleben.

    Schäfer-Noske: Inwieweit ging es denn ganz konkret um diese Vorfälle der letzten Monate und Jahre?

    Sander: Zunächst mal ging es, wenn auch nicht richtig zu Ende diskutiert, aber von einzelnen Vortragen immer wieder, darum zu überlegen, was kann man machen, wie kann man die Scherben wieder kitten zum Beispiel im deutsch-polnischen Verhältnis, überhaupt das Projekt Europa wieder zurück zu nehmen, den Politikern aus der Hand zu nehmen und gewisser Maßen in einem intellektuellen Forum zu diskutieren. Aber das ist natürlich leichter gesagt als getan, und der relativ kleine Kreis, der dazugehört, zeugt auch davon, dass Interesse vielleicht existiert in einer wichtigen Gruppe von liberalen Intellektuellen und Politikern in Polen wie auch in Deutschland oder in anderen Ländern, über diese Fragen zu diskutieren, aber die Stimmung ist erregt, aber es gibt ja nicht nur das deutsch-polnische Verhältnis. Ein weißrussischer Autor hat sich zu Worte gemeldet, und es wurde über diese ganze Situation diskutiert, was bedeutet eigentlich dieses Europa, östlich der Grenzen der europäischen Union? Wie weit fühlt es sich selber europäisch und wie verhält man sich aus der Sicht des heutigen EU-Mitglieds Polen, aber auch der anderen europäischen Staaten gegenüber diesen Gesellschaften?

    Schäfer-Noske: Sie haben eben gesagt, es wurden Lösungen versucht. Gab es denn da Erfolg versprechende Ansätze?

    Sander: Es hat dann letztendlich einen Appellcharakter. Was interessant war, dass doch diese unterschiedlichen Gedanken zu Europa, also etwa in der Frage, was sind eigentlich diese europäischen Werte? Das ist ja eine fast schon abgegriffene Diskussion, man kommt dann immer wieder auf die Menschenrechte, auf die Individualität. Da ist eigentlich dieser ganze Doppelcharakter dieses europäischen Selbstbewusstseins wieder herausgekommen, nämlich auf der einen Seite ist man offen, man will sich erweitern, man will auf andere zugehen, dann will man sich aber wieder abgrenzen. Aber man hat deutlich gesehen, dass sowohl angesichts der Wahlen vor einigen Tagen in Weißrussland, der unglaublichen Vorfälle der Unterdrückung der Opposition, der bevorstehenden Wahlen in der Ukraine eine ähnliche Diskussion wahrscheinlich auch in nächster Zeit beginnen wird, wie man sie in Deutschland im Blick auf die spätere eventuelle Aufnahme der Türkei in die Europäische Union führt und wenn man dann bei den Werten angekommen ist, dann muss man auch fragen: Was sind das für Werte und werden die Werte eigentlich wirklich realisiert in der Europäischen Union? Ein interessantes Schlaglicht gab hier ein kroatische Satirikerin. Sie hat eigentlich die Frage, "Wessen Europa? - Wem gehört Europa?" ganz konkret beantwortet und sagte, es gibt ja nicht mehr das Europa der verschiedenen Länder, Kulturen und Regionen, sondern es gibt vor allen Dingen ein Europa, das sich die internationalen großen Konzerne mehr und mehr nach ihren Wünschen formen.