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Wendell Steavenson: Gestohlene Geschichten. Aus Georgien

Mit dem Buch "Die hundert bedeutendsten Frauen des europäischen Ostens" möchten wir auf die vielen Frauen verweisen, die Großartiges geleistet haben und auf Grund ihres Geschlechtes, aber auch ihrer geographischen Herkunft nur wenigen bekannt sind. Sie als die "bedeutendsten" zu bezeichen, ist eher ein Antwort auf männlichen Reihungswahn als unsere Überzeugung, es gäbe so etwas überhaupt. Im besten Fall sind viele LeserInnen nicht unserer Meinung und beginnen selbst die Geschichten von Frauen zu erforschen, und sei es nur, um zu beweisen, wir hätten jede Menge wichtiger Frauen übersehen. Generell kann nur Oscar Wilde zugestimmt werden: "There is one thing worse than being talked about, and that is not being talked about."

Von Marianna Butenschön | 01.03.2004
    So unprätentiös annoncieren Helena Verdel und Traude Kogoj ihre bei Wieser in Klagenfurt erschienene Sammlung von Frauenbiographien aus Osteuropa. Das Spektrum dieser Lebensläufe reicht von der im Jahre 500 in Byzanz geborenen Kaiserin Theodora bis zur georgischen Parlamentspräsidentin Nino Burjanadze. Katharina die Große steht hier neben Lenins Gattin Nadeshda Krupskaja, Alexandra Kollontaj, die frühe Prophetin freier Liebe neben Mutter Theresa. Kein Buch, das auf Vollständigkeit oder Repräsentativität setzt, eher der sympathische Entschluss, Nichtzusammenhängendes zusammenzubringen und den Leser zum Stöbern zu ermuntern. Der Beitrag über Nino Burjanadze berichtet von deren Studium in Moskau und dass sie, zurück in Tiflis, 1990 im Alter von nur 27 Jahren zur jüngsten Professorin an der dortigen Universität berufen wurde.

    Just zu jener Zeit begann sich die Sowjetunion endgültig aufzulösen. Mit den baltischen Staaten zählte die seinerzeitige Sowjetrepublik Georgien zu den Vorreitern dieses Prozesses, was historisch wenig verwundert. Denn Georgien hatte sich nach der Oktoberrevolution 1917 als eines der wenigen Territorien des ehemaligen Zarenreiches der neuen Ordnung verwehrt und einen eigenen Staat gebildet, der eine sozialdemokratische Regierung unter den prominenten Menschewisten Noah Zhordanja und Irakli Zeretelli besaß. Erst nach dem Ende des Bürgerkriegs zwischen "Weißen" und "Roten" auf dem Gebiet Sowjetrusslands konnte die nachmalige UdSSR Georgien Ende 1921 in ihr Territorium inkorporieren, was nicht zuletzt auf Initiative des seinerzeitigen Volkskommissars für Nationalitätenfragen, Josef Stalin, der selbst Georgier war, geschah. Am Ende der Sowjetunion stellte Georgien mit dem sowjetischen Außenminister Edvard Schewardnadse einen prominenten Vertreter in den Bundesbehörden, doch wollte selbst dieser nach dem so genannten "August-Putsch" 1991 der Union keine Zukunft mehr einräumen. Wie die anderen Republiken der UdSSR wurde Georgien daher bereits Ende 1991 unabhängig und Anfang 1992 von der Staatengemeinschaft auch völkerrechtlich anerkannt.

    Weder Georgiens erster Präsident nach der Unabhängigkeit, der exzentrische Schriftsteller Swiad Gamsachurdia, noch Edvard Schewardnadse brachten der Kaukasus-Republik den erhofften Wohlstand. Und dass es nun mit der neuen Regierung aufwärts gehe, ist auch nicht mehr als eine vage Hoffnung.

    Der Kaukasus, Georgien würde jeden zum Narren machen, der eine Voraussage wagte. Ich kann jedoch sagen, dass die Lage nicht immer besser wird und dass sie manchmal schlimmer wird und dass sie häufig bleibt, wie sie ist. Das ist deprimierend, wahr und gilt ganz allgemein. Daran ändern kann man nichts. Das Beste, was wir tun können, ist Achtung vor unserer Familie haben, unsere Freunde lieben, eine Flasche Wein öffnen, sie trinken und dann eine weitere öffnen.

    Zu diesem Ergebnis kommt die New Yorker Journalistin Wendell Steavenson nach ihren Reisen durch Georgien. "Gestohlene Geschichten. Aus Georgien" hat sie ihre Beobachtungen in der Kaukasus Republik überschrieben, und Marianna Butenschön hat das Buch gelesen.

    So ganz genau kann Wendell Steavenson eigentlich nicht sagen, was sie Ende der 90er Jahre ausgerechnet nach Georgien getrieben hat, in ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Land im südlichen Kaukasus, das nichts verhieß außer Verfall, Chaos, Armut, Korruption und sonstige Probleme, die aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken hinreichend bekannt waren. Doch womöglich hat ein Aufenthalt in Moskau den Ausschlag gegeben. Schließlich haben die Russen Georgien mit der Seele gesucht wie die Deutschen Italien. Puschkin, Lermontow, Tschechow, Pasternak u.v.a. waren da. So etwas färbt ab, und Mythen leben lange. Übrigens auch der Mythos Stalin, der Georgier war. Wendell Steavenson flog also nach Tiflis und geriet mit dem Tag ihrer Ankunft in einen Zustand, den man nicht beschreiben, sondern nur erleben kann:

    "Ich war Gast. In Georgien eine höchst ehrenwerte Aufgabe. Wenn ich in jenen ersten Tagen im Oktober 1998 morgens aufwachte und feststellte, dass der Strom abgestellt war und ich also kein heißes Wasser haben würde, sagte ich mir, welch großes Glück ich hatte, so zufällig in den herzlichen behaglichen Armen von Tiflis gelandet zu sein."

    Die Georgier heißen Wendell mit dem willkommen, wofür sie berühmt sind: mit Geschichten und Trinksprüchen, die bei Tisch unter Leitung eines "Tamada" ausgebracht werden. Überhaupt wird viel getrunken in diesem Buch, am liebsten Tschatscha, Selbstgebrannten aus Trauben, denn dabei lassen sich Geschichten am besten erzählen und – erleben. Der Tamada-Kultur kann die Autorin sich jedenfalls nicht entziehen, schon weil sie sich häufig langweilt. Es passiert ja nicht viel in diesem Land, das im Winter ohne Licht und Heizung auskommen muss, und mit Komfort geizt auch die Hauptstadt. Die "Gestohlenen Geschichten" sind denn auch nicht schwärmerisch, sondern realistisch erzählt. Sie bieten keinen Erklärungsversuch des georgischen Alltags, der so ist, wie er ist:

    "Zu erklären, warum es in Tiflis während der Wintermonate sehr selten Strom und gar keine Wärme gab, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen."

    Entweder man erträgt diesen Alltag, oder man geht. Wendell Steavenson bleibt und nimmt ihre Leser mit: auf ihren Balkon in einer Seitenstraße der Perowskajastraße, in das trauliche "Zauberzimmer" des Steinzeitarchäologen Saliko, dessen Lieblingssatz "Alles ist Scheiße" lautet, und in die "heimeligen" Tifliser Bäder, die schon Alexander Puschkin und Alexandre Dumas entzückt haben. Spätestens auf dem riesigen Tifliser Zentralmarkt, wo es mehr Verkäufer als Käufer gibt, fragt man sich, wie die Leute über die Runde kommen. Irgendwie lebt einer vom anderen:

    "Wenn man etwas Geld hatte, gab es jemanden, der es sich leihen musste. Halb Tiflis schuldete der anderen Hälfte Geld."

    Außerhalb der Hauptstadt ist die Lage nicht weniger trostlos, das Land wimmelt von verlassenen Großobjekten der Sowjetzeit. Rustawi zum Beispiel, die Retortenstadt mit ihren stillstehenden Chemiefabriken, wo das Gras den Schrott schon überwuchert hat und wieder Schafe weiden:

    "Die industrielle Zukunft hatte die Arbeit niedergelegt und zerfiel zu schlichter Erde."

    Es sind wohl Sätze wie diese, die Wendell Steavenson in die Nähe des großen Ryszard Kapuśćinki rücken. Leben in den Hüllen einer vergangenen Zivilisation, nämlich der sowjetischen, und Überleben im Schwebezustand, der nicht Zukunft werden will, sind derart plastisch bisher noch nicht beschrieben worden. Fahrten mit dem PKW über Land verstärken das Gefühl von Aussichtslosigkeit weit. Neben allem anderen hat Georgien noch viele ungelöste nationale Probleme: Abchasien, Adscharien und Südossetien. Immer auf Materialsuche fährt Wendell Steavenson auch nach Berg-Karabach, dessen Status ebenfalls nicht geklärt ist, und nach Baku, der Hauptstadt Aserbajdschans, wo wieder alles ganz anders ist:

    "Die Region lag im Spannungsfeld rivalisierender Imperien, von denen sie aufgerieben, zermalmt und zertrampelt wurde, und so ist es wohl immer noch."

    Nach Persern, Türken und Russen sind jetzt die Amerikaner da, und natürlich würden die Russen gerne zurückkommen. Die Präsenz der Tschetschenen im Pankisi-Tal "am Ende Georgiens" ist ihnen ein Dorn im Auge. Doch Wendell Steavenson gehen die Nachrichten aus Tschetschenien an die Nieren. Eines Tages hat sie das Gefühl, ihren journalistischen Biss zu verlieren:

    "Ich musste über mich lachen. Ich trank freiwillig Bordschómi, salziges georgisches Mineralwasser, hasste die Russen und saß herum und tat nichts. Vielleicht verwandelte ich mich in eine Georgierin."

    Also Zeit zu gehen. Die "Gestohlenen Geschichten" schreibt sie in Karabach, weil es dort nach der Vertreibung der Aserbaidschaner "so langweilig" ist. Eine Filigranarbeit:

    "Mir wurde klar, dass ich Tausende Dinge wusste, Tausende Geschichten kannte, merkwürdige Häppchen von widersprüchlichen Fakten und dass es unmöglich sein würde, sie zu erklären. Wenn man darüber spräche, würde der Witz verloren gehen, durch Vereinfachung würde das Pathos auf der Strecke bleiben."

    Am Ende der Buches werden zwei junge georgische Politiker erwähnt, die Staatspräsident Eduard Schewardnadse inzwischen aus dem Amt vertrieben haben: Mischa Saakaschwili, "aalglatt" und "ein vielversprechender Parlamentarier", ist seit Jahresbeginn Staatspräsident, Zurab Schwanija, ein "kluger politischer Kopf", der jeden Mittag seine Strecke im Freibad Laguna Vera abschwamm, seit zwei Wochen Regierungschef in Tiflis. Der Machtwechsel hieß "Rosenrevolution". Die beiden neuen starken Männer Georgiens sind politische Ziehkinder Schewardnadses und wollen nun alles besser machen. Aber wie hatte doch der Historiker Sasa gemeint? "Es kämpft immer jemand um die Macht." Die einzige Konstante in dieser Welt sind die Freunde, Zukunftsprognosen verbieten sich:

    "Im Kaukasus gibt es nirgends eine klare Fläche. Nur Berge und Täler, zerknitterte Distanzen, Straßen mit Schlaglöchern. Nie sah man, wohin der Weg führt."

    Auch in der Politik nicht. Leider sind an diesem wunderbaren Buch ein paar Schwächen zu bemängeln. Georgien war keine Autonome Republik der UdSSR, sondern eine Unionsrepublik, und Schewardnadse war nicht deren Oberhaupt, sondern deren Parteichef. Die Regionen Imeretien und Swanetien heißen auf der beigefügten Karte genauso, im Text aber "Swaneti" und "Imereti". Die nördlichen Nachbarn der Georgien heißen mal Osseten, mal Ossetier, die Adscharen im Westen mal Adscharier oder gar Adscharianer, und die im Text vorkommenden russischen Wörter, die in der englischen und nicht in der deutschen Umschrift wiedergegeben werden, sind den Übersetzern irgendwie fremd geblieben. "Varenije" ist natürlich nicht Rote Grütze, sondern eingemachtes Obst, das wie Zucker zum Tee serviert wird, auch in Georgien!

    Marianna Butenschön über Wendell Steavenson, Gestohlene Geschichten. Aus Georgien. EVA, Hamburg, 290 Seiten, 24 Euro 90