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Wendig im Kreis der Großen:

Handle ganz nach bestem Wissen und Gewissen,.aber hoffentlich wirst Du am Schluss nicht wie alle andern sein, singt die irische Gruppe Sawdoctors. – Irland übernimmt also die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Garret FitzGerald, der 1975 als irischer Außenminister zum ersten Mal den Vorsitz für die kleine Republik angetreten hatte, ist zuversichtlich.

Von Martin Alioth |
    Irland habe in den bisherigen 5 Präsidentschaften immer das Glück gehabt, mit einem konkreten Problem konfrontiert zu sein, und man habe stets einen konstruktiven Beitrag zur Lösung geleistet.

    Und in der Tat, so auch diesmal: Die europäische Verfassung liegt in Scherben, der Stabilitätspakt ist Makulatur geworden. Der neue Vorsitzende, Irlands Premierminister Bertie Ahern, macht sich keine Illusionen:

    250 wichtige Sitzungen in 180 Tagen, das sollte ein Spaß werden.

    Die ehemalige irische Präsidentin und spätere UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, sieht Irland in einer Sonderstellung, weil es beim eigenen Beitritt vor über dreißig Jahren eines der ärmsten Länder Europas war. Irland habe die angebotene Hilfe weise investiert, namentlich im Aufbau eines anspruchsvollen Bildungswesens. Jetzt habe das Land die Chance, die ihm zugedachte Rolle als Vorbild für die kleineren, ärmeren Beitrittsländer zu spielen, und sie hoffe, Irland werde dabei großzügig sein und die Geschicke Europas entsprechend beeinflussen.

    Eines steht ja schon fest: der Höhepunkt des irischen Halbjahres kommt am 1. Mai, wenn zehn neue Länder formell der EU beitreten. Viele von ihnen verhehlen nicht, dass sie Irlands Werdegang und sein wendiges Verhalten im Kreis der Großen als Muster betrachten. Der irische Regierungschef Ahern will gerne helfen:

    Viele der Beitrittsländer hätten Irland Komplimente für seine Leistungen gemacht und wollten nun Erfahrungen austauschen. Da wolle er gerne mit Rat und Tat aushelfen, erklären, was funktioniert hat und was nicht; erzählen, was er selbst vergeblich ausprobiert habe.

    Patricia McKenna, die grüne irische Abgeordnete im Europäischen Parlament, meldet Widerspruch an und stört die Idylle, wie es so ihre Gewohnheit ist. Es sei nicht richtig, den Beitrittsländern vorzugaukeln, sie würden so reich wie die Iren, sobald sie nur der EU beiträten. Denn die meisten Ursachen für Irlands Wirtschaftswunder hätten nichts mit der EU zu tun gehabt. McKenna nennt die tiefen Körperschaftssteuersätze und die Währungskrise der frühen 90er-Jahre als Beispiele. In diesem Sinne gebe es kein irisches Modell, jedenfalls keins zum Nachahmen.

    Die grüne Politikerin vertritt eine Minderheit, aber der frühere Finanzminister und Oppositionsführer Alan Dukes, der heute das Dubliner Europainstitut leitet, spricht mit seiner abgeklärten Europabegeisterung auch nicht mehr wie früher für die überwältigende Mehrheit der Iren.

    Die EU habe den Iren gegeben, was sie einst versprach, jetzt sei es an den Iren, dafür zu sorgen, dass die neuen Mitglieder in den Genuss derselben Hilfe kämen.

    Ein Chipshooter, eine raffinierte Maschine, die nur akustisch an eine Nähmaschine erinnert, fügt mit atemberaubender Geschwindigkeit elektronische Bauteile in eine Leiterplatte ein. Zum Ortstermin beim 'Keltischen Tiger' - das ist der Spitzname, der dem irischen Wirtschaftsaufschwung der letzten zehn Jahre verpasst wurde – sind wir in Cork bei der multinationalen Firma Flextronics. Der globale Konzern mit einem Umsatz von etwa 13,5 Milliarden Dollar fertigt hier mit 850 Angestellten elektronische Geräte und Halbfabrikate für illustre Kunden wie Sony, Erikson, Hewlett-Packard und dergleichen. Den Namen Flextronics sucht man deshalb vergeblich im Fachgeschäft.

    Die älteste Kundin von Flextronics Cork ist indessen eine irische Firma: MDS Gateways, ein Unternehmen, das mit etwa 50 hoch qualifizierten Mitarbeitern Telefonsysteme und Nebenstellenanlagen für Klein- und Mittelbetriebe entwickelt. Mit Erfolg, wie der Verkaufsleiter von MDS, Séamus Doran, erläutert:

    Bis jetzt haben wir immer, sagen wir, in den kleineren europäischen Märkten gearbeitet, und nicht in den ganz großen, nicht in Deutschland und in Frankreich; aber jetzt beginnen wir dort. Und zur Zeit haben wir auch neuen Möglichkeiten bekommen in Polen, in den neuen europäischen Ländern im Osten.

    In der Fabrikhalle in Cork kramen Arbeiterinnen in Plexiglas-Schubladen nach jenen Versatzstücken, die von Hand eingesetzt werden müssen. Es erinnert stark an einen Kinderbaukasten – nur unendlich viel präziser. Und die Leiterplatte gleicht allmählich der Skyline von Manhattan mit all ihren Aufsätzen und den bunten Quadern auf dem streng gemusterten Brett. John Scanlan ist der Werksleiter von Flextronics in Cork:

    Er ist stolz auf die Geschäftsbeziehung mit MDS, denn das sei sein einziger wirklich irischer Kunde, alle andern seien multinationale Firmen. Der Erfolg von MDS sei besonders bemerkenswert, weil der Wettbewerb in der Telekom-Branche derart aggressiv sei.

    Am Ende der Fertigungslinie tätschelt David Manning, Produktleiter für MDS bei Flextronics, eine Schachtel mit einem MDS-Produkt für die niederländische Firma KPN.

    Und alles sei von MDS selbst entwickelt und entworfen worden – nicht schlecht für eine kleine irische Firma, lobt Manning.

    Und nun ist dieser Winzling dabei, sich den weiten Osten zu erobern. In seinem Dubliner Büro erklärt Gary Nolan, der die polnischen Kontakte knüpfte, wie die irische Exportförderungsbehörde Enterprise Ireland den polnischen Markt für ihn nach viel versprechenden Partnern durchstöberte.

    Die erhalten dann alle Informationen über MDS, samt einer Dokumentation auf polnisch. Der Kleinbetrieb kriegt die Marktanalyse auf dem Silbertablett. Am Schluss erst fliegt Nolan für ein paar hektische Sitzungstage nach Polen, um den richtigen Partner zu finden.

    Bei Flextronics in Cork blubbert das flüssige Zinn. Erinnerungen an längst vergangene Sylvesterparties regen sich. Im Schmelztiegel der globalen Wirtschaftsbeziehungen suchen die Iren eine neue Position. Denn nicht genug damit, dass jetzt in diesen Tagen der polnische und der ungarische Markt erschlossen werden – auch die Fertigung wandert ostwärts, wie der Verkaufsleiter von MDS, Séamus Doran, erklärt:

    Wir haben das vor 5 Jahren, haben wir damit aufgehört, dass wir das von selbst machen, hier in der Firma hier in Dublin und wir haben das weiter an Flextronics gegeben in Cork. Aber jetzt bei den irischen Preisen können wir das nicht mehr aushalten und wir gehen mit einer Verlagerung von der Fertigung nach Polen. Und das findet zur Zeit statt, und die Lieferungen die kommen aus Polen von März an.

    Was vor zwanzig Jahren noch als Wunschtraum formuliert wurde, wird hier in die Wirklichkeit umgesetzt: Angeregt durch das Vorbild der großen multinationalen Firmen in Irland, wachsen nun einheimische Unternehmungen heran, als Indiz für einen Reifungsprozess. Arbeitsplätze in Irland müssen an der so genannten Wertschöpfungskette hochklettern, die Produkteentwicklung bleibt in Irland, die Fertigung wandert aus. (Musik weg) Allerdings bleibt der multinationale Sektor unverändert dominant. Kevin Hannigan ist Dozent und Wirtschaftsberater:

    Diese Firmen bestreiten die Hälfte der irischen Industrieproduktion, noch mehr bei den Exporten, und beschäftigen 30 bis 40 Prozent der Arbeitskräfte.

    Kein Wunder also, dass die irische Regierung bei den Verhandlungen über die neue EU-Verfassung gar keinen Spaß versteht, wenn es um die Harmonisierung der Steuersätze geht. Denn der irische Körperschaftssteuersatz von 12,5 Prozent gilt als unantastbar. Hannigan macht periodisch Umfragen bei den Multis:

    Als Hauptgrund für den irischen Standort wird überwiegend der Steuersatz genannt. - Inzwischen lohnt sich das sogar für den irischen Staat: der Steuerbeitrag der multinationalen Firmen zum Haushalt ist –angesichts der Kleinheit der irischen Wirtschaft – beträchtlich. Voraussetzung dafür bleibt die bedingungslose Einbindung Irlands in den europäischen Wirtschaftsraum:

    Der Euro sei von großem Vorteil für die irische Wirtschaft, stellt Hannigan fest. Und dann zieht er gleich den Vergleich zu den Beitrittsländern im Osten, die sich grundsätzlich entscheiden müssten, ob sie sich auch langfristig in den europäischen Wirtschaftsraum einfügten, oder ob sie Billigproduzenten mit geringer Wertschöpfung bleiben wollten.

    Kann denn Irland nach Ansicht des Experten Hannigan auch in Zukunft schneller wachsen als der Rest der EU, oder sind diese Zeiten angesichts der Konkurrenz aus dem Osten vorbei?

    Irland habe einen Startvorteil aufgrund der Altersstruktur seiner Bevölkerung, wobei die jüngeren Altersgruppen zugleich die besser ausgebildeten seien. Niemand in der bestehenden EU könne den Unternehmungen so viele junge, flexible, ausgebildete Arbeitskräfte anbieten.

    Vor dem Büro der EU-Kommission in Dublin skandieren Schulkinder in irischer Sprache ihre Forderung: <sei schlau="" und="" nimm="" irisch="" auf="" die="" liste.=""> Auf Irisch reimt sich das sogar. Padraic O'Laighin erklärt den Wunsch der Kinder:

    Vom 1. Mai an werde es 20 offizielle EU-Sprachen geben, Irland aber werde das einzige Mitgliedsland bleiben, dessen erste Amtssprache nicht dazugehöre.

    O'Laighin ist ehrlich genug zuzugeben, dass diese Entscheidung 1973 in Dublin gefällt wurde, und nicht in Brüssel. Wie so oft werden nationale Ungereimtheiten auf dem Buckel Europas ausgetragen. - Die vorbeifahrenden Autofahrer hupen zustimmend.

    Inzwischen rufen die Kinder: Ein Land ohne Sprache ist ein Land ohne Seele.

    Die Suche nach ihrer eigenen Identität überlässt die EU mit gutem Grund den Iren selbst. Aber in anderen Bereichen werden die angeblichen Muster-Europäer auch schon mal zu ihrem Glück gezwungen. Die Kläranlage der Agglomeration Dublin hier- in Ringsend gelegen, mit Blick auf die Dubliner Bucht – ist ein anschauliches Beispiel:

    Chefingenieur Batty White nennt es bescheiden die modernste Anlage ihrer Art auf der Welt und schüttelt begeistert einen Behälter mit selbst gemachtem Dünger. Die Abwässer von 1,2 Millionen Hauptstädtern werden erst seit einem guten halben Jahr anständig aufbereitet, die EU zahlte siebzig Prozent der Baukosten. Jetzt wallt und schäumt die braune Brühe in riesigen Betontanks, durchlüftet von ungezählten Ventilen.

    Die Beitrittsländer stehen offenbar Schlange, um das technologische Wunder zu besichtigen. Irland auch als ökologisches Vorbild? Nicht ganz. Frank McDonald kann ein sarkastisches Lächeln nur schwer unterdrücken. Er schreibt seit 25 Jahren über Umweltfragen in der Irish Times, er gilt als das grüne Gewissen Irlands.

    Ungeachtet des grünen Postkartenklischees Irlands ist McDonald überzeugt, dass die Republik in den 30 Jahren ihrer EU-Mitgliedschaft längst nicht soweit gekommen wäre in der Umweltpolitik, wenn Brüssel das Land nicht dazu gezwungen hätte. Dabei gelte es allerdings in Irland immer sorgfältig zwischen Sein und Schein zu unterscheiden:

    Wie viele Gesetze bildeten auch Irlands Umweltschutzvorschriften oftmals Wunschdenken ab – niemand erwarte ihre Umsetzung.

    In einer riesigen Stahltrommel wird der Klärschlamm auf 160 Grad erhitzt und nach Schweizer Patent getrocknet. Mit den restlichen Abfällen allerdings gehen die Iren weniger pfleglich um – sie vergraben fast alles.

    Es gibt keine Müllverbrennung in Irland, stellt Frank McDonald trocken fest, noch nicht. Niemand will die Anlagen im Blick- oder Geruchsfeld, irrationale Ängste über Dioxinausstoß werden geschürt. Da hilft es nichts, dass das in Wien oder Kopenhagen bestens funktioniert, die Iren wollen es einfach nicht.

    Hier zeigen sich die Grenzen des europäischen Einflusses. Ein Land, das unverdrossen auf seinen Straßen Geschwindigkeiten anders misst als Distanzen – die einen in Meilen, die andern in Kilometern – braucht so rasch nicht um seine Eigenart zu fürchten. (Atmo weg) Mary Robinson erinnert sich an die irische Debatte vor dem eigenen EG-Beitritt vor über 30 Jahren, und an die Angst, die eigene Identität zu verlieren:

    Sie habe damals behauptet, Europa werde Irlands Obsession mit der großen britischen Nachbarin lindern. Irland habe sich so lange durch das Verhältnis mit dem alten Feind oder dem großen Bruder definiert. Und tatsächlich: Neben den wirtschaftlichen Segnungen kam Irland plötzlich in Kontakt mit Ländern, die sich ehrlich für irische Kultur interessierten, und die Irland nicht bloß als arme ehemalige Kolonie nebenan sahen.

    Die Entfesselung des Kleinstaates durch die Kollektivierung der Souveränität ist zum Credo irischer Europapolitiker geworden. Garret FitzGerald, der große alte Europäer, dessen Vater einst schon Minister zur Zeit der irischen Staatsgründung gewesen war, gibt die historische Perspektive:

    Irland habe allzu lange unter britischer Souveränität gelitten, und damit meine er nicht die Kolonialzeit, sondern nachher, als die Engländer auf billigen Nahrungsmitteln aus Irland bestanden, und die restlichen Märkte Europas verschlossen waren. Da nützte die formelle Souveränität den Iren herzlich wenig. Deshalb sei Irland grundsätzlich integrationsfreudig, ähnlich wie die Deutschen.

    FitzGeralds gegenwärtiger Nachfolger im Amt des Premierministers, Bertie Ahern, hat diese Botschaft verinnerlicht.

    Wenn er sich im Ministerrat auf seine armseligen paar Stimmen stützen wollte, bräuchte er erst gar nicht hinzugehen.
    So machen die Kleinen aus der Not eine Tugend. An Selbstvertrauen mangelt es den Iren jedenfalls nicht.</sei>