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Wenig gewonnen, viel erreicht: Die politische Zukunft des "arabischen Frühlings"

Der Jubel im Westen über die arabische Rebellion ging mit vielen Missverständnissen, Fehlanalysen und Illusionen einher. Der Freudentaumel verdrängte das schlechte Gewissen, über Jahrzehnte geostrategisch kommode Diktaturen unterstützt zu haben. Nach dem Sieg islamistischer Kräfte bei den ersten freien Wahlen in Ägypten machen sich aber bereits Enttäuschungen breit.

Von Christoph Burgmer | 06.04.2012
    In den vergangenen Wochen hat Hans-Jürgen Heinrichs in seinen Gesprächen über "Die Zeit des Zorns" herauszufinden versucht, wie sehr "Arabellion" die Welt verändert hat. Wir schließen unsere Reihe heute mit einem resümierenden Essay von Christoph Burgmer. Sein Titel: "Wenig gewonnen, viel erreicht. Die politische Zukunft des arabischen Frühlings"." Burgmer ist Islamwissenschaftler und Hörfunkjournalist. 2007 war er Mitherausgeber des Buches "Streit um den Koran".

    Wenig gewonnen, viel erreicht
    Die politische Zukunft des "arabischen Frühlings"
    Von Christoph Burgmer

    "Seit nunmehr vier Tagen befinde ich mich inmitten von Schießereien und Nervengas, hier in Bab El Louq, fünf Minuten hinter dem Tahrir-Platz, ganz in der Nähe des ägyptischen Innenministeriums. Aus meinem Fenster sehe ich die Motorräder, die Stunde um Stunde, Tag und Nacht, Verletzte von den Barrikaden am Innenministerium zu den Feldlazaretten auf dem Tahrir-Platz bringen. Die ganze Zeit hört man die Schüsse und dann ist da dieses merkwürdige Gas ..."

    Die E-Mail hat ein ägyptischer Freund geschickt. Es ist die Nacht vom 23. auf den 24. November 2011. Ein Augenblick höchster Bedrohung. Eine Momentaufnahme. Man spürt, mit welcher Verzweiflung der im Januar 2011 begonnene und bis heute andauernde Widerstand der Menschen gegen das autoritäre Regime ausgetragen wird. Sein folgender Ausblick: "Nein, niemals weiter so", steht für die Überzeugung von Millionen von Arabern in über dreizehn Ländern, in denen seit Anfang 2011 immer wieder für demokratischen Wandel demonstriert wurde. Bekannt geworden sind diese Proteste im Westen als "Arabischer Frühling".

    "Eben ist die Situation noch einmal eskaliert. Die shebab, die Demonstranten, sind eine Stunde lang von schwarz uniformierten unidentifizierbaren Spezialeinheiten der sogenannten Sicherheitskräfte, Banden des alten Regimes, mit Salven scharfer Munition und verschiedener Arten von Gasgranaten attackiert und vorübergehend vom Platz vertrieben worden. Die gespenstische Szene ist nur von dämmrigem Mondlicht, den Feuerstößen aus den Gewehren und einem seltsam phosphoreszierenden Nebel erhellt worden. Aber die shebab haben den Platz mit Steinen und bloßer Entschlossenheit gegen Gewehre und Nervengas verteidigt. Und als sie die Angreifer nach einer Stunde zurückgeschlagen und den Platz wieder erobert haben, haben sie ununterbrochen geschrien: "hurriya" "Freiheit" und "madaniya" "ziviler Staat". Das sind unsere Parolen, und nicht "islamischer Staat". Wir geben nicht auf."

    Dieses kategorische Nein weist über die konkrete Situation am Tahrir-Platz in Kairo hinaus. Der Ägypter formuliert, was auch Tunesier, Jemeniten, Syrer und Bahrainis zu den Protesten getrieben hat und sie bis heute daran festhalten lässt. Über alle kulturellen, sozialen, religiösen und politischen Unterschiede hinweg lehnen die Menschen ihren jahrzehntelangen perspektivlosen Istzustand ab. Aber sie demonstrieren nicht im Namen einer politischen Ideologie. Sie fordern weder ein arabisch-nationalistisches noch ein islamisches politisches System. Ihr Vorbild ist weder die Revolution unter Gamal Abdel Nasser von 1952, die den Entkolonialisierungsprozess beschleunigte, noch die iranische Revolution von 1979, die in der Hochzeit des radikalen politischen Islam, schiitische Mullahs an die Macht gebracht hat. Ihre Parolen lauten "Freiheit", "Würde" und "soziale Gerechtigkeit".

    Der Arabische Frühling ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Araber. Neue soziale und politische Kräfte sind in allen arabischen Staaten aktiv, vom Maghreb über den Nahen Osten bis hin zur arabischen Halbinsel. Ihr plötzliches Erscheinen auf der politischen Bühne kam für viele im Westen überraschend. Aber diese Entwicklung war voraussehbar. Ihr Auftauchen ist das Ergebnis radikaler gesellschaftlicher Veränderungen in den vergangenen drei Jahrzehnten.

    Die Ursachen sind neben Bevölkerungswachstum, Landflucht, Verstädterung und Industrialisierung eine zunehmende Bildung der Jugend sowie das rasante Anwachsen der Kommunikationsmöglichkeiten. Aber auch die Transformation der Wirtschaft durch neoliberale Marktideologien. Und nicht zuletzt das Durchdringen aller Teile des öffentlichen und privaten Lebens mit moralischen Vorstellungen, die sich an einem politisierten Islam orientieren. Doch was folgt daraus? Die politischen Konsequenzen des Arabischen Frühlings sind auch über ein Jahr nach dessen Beginn noch offen.

    "Dasjenige, was für die arabischen Bürger niemals wieder infrage kommen wird, ist die Wiederherstellung einer autoritären Regierung mit einem gigantischen Sicherheitsapparat. Dagegen werden alle kämpfen. Wie? Das hängt vom jeweiligen Land ab. Eines ist aber klar geworden: Der schlafende Riese ist geweckt, damit meine ich die gesamte arabische Welt. Mehr als zwei Generationen, seit Anfang der 60er Jahre, ist die arabische die einzige zusammenhängende, undemokratische Region der Welt gewesen. Jetzt haben wir zwei Dinge gelernt. Erstens, dass diese Situation nichts ist, was uns Arabern sozusagen ‚zu eigen' ist, also irgendwie zu unserem Dasein dazugehört. Und zweitens haben wir begriffen, dass die einzige Möglichkeit für eine Demokratisierung darin besteht, dass die Araber gemeinsam dafür kämpfen. Uns hilft keine auch noch so gut gemeinte ausländische Hilfe. Und auch der Vorschlag kleinerer Gruppen, die Systeme zu reformieren, hilft uns nicht aus unserem Dilemma. Diese politischen Systeme sind niemals von innen heraus zu demokratisieren. Nur der öffentliche Widerstand in den Straßen und die ständige Wiederholung der Forderungen nach ‚Freiheit', ‚Würde' und ‚sozialer Gerechtigkeit' bringen uns auf einen Weg des demokratischen Wandels."

    Rami G. Khouri ist Direktor des Issam Fares Instituts für Politik und Internationale Beziehungen an der amerikanischen Universität in Beirut. Der Sturz Hosni Mubaraks in Ägypten und Muammar al Gaddafis in Libyen und die erfolgreiche Vertreibung Ben Alis in Tunesien und Ali Abdullah Salehs im Jemen haben Zeichen gesetzt, gezeigt, was möglich ist. Diese Erfahrung lässt ihren öffentlichen Protest auch nach über einem Jahr nicht erlahmen. Dies gilt besonders für Ägypten. Diese optimistische Sicht teilt auch die Politologin Rabah El-Mahdi, Professorin an der amerikanischen Universität in Kairo.

    "Politische Ereignisse in Ägypten haben globale Bedeutung. Ägypten ist der Dreh- und Angelpunkt in der arabischen Region. Sein wirtschaftlicher, politischer und sozialer Einfluss entspricht dem Brasiliens in Südamerika und Indiens in Südasien. Ägypten ist das bevölkerungsreichste arabische Land, es hat die größte Produktivwirtschaft und ist historisch gewachsen das kulturelle Zentrum der arabischen Welt. Was in Ägypten geschieht, hat grundsätzliche Auswirkungen im Nahen Osten und auf die Länder des Südens."

    Ein kurzer Blick auf die Ereignisse der letzten Monate scheint diese Einschätzung zu bestätigen. Die Demokratiebewegung in Ägypten wirkt über die nationalen Grenzen hinaus. Von hier aus werden die in der täglichen Auseinandersetzung gemachten politischen Erfahrungen, ihre Wirkungen und der aktuelle Zustand der Demokratiebewegung in alle Teile der arabischen Welt hinaus kommuniziert. Per Handy und über das Internet, Facebook, Twitter, YouTube. Auf der Webseite tahrirdocuments.org werden alle Erklärungen in Arabisch und Englisch veröffentlicht. Aber spätestens seit Herbst 2011, seit den Protesten im Kairiner Stadtteil Maspero vor dem Gebäude des staatlichen ägyptischen Fernsehens, hat der "arabische Frühling" sein Gesicht verändert.

    Am 9. Oktober 2011 haben Tausende Demonstranten in Kairo in Maspero friedlich vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehens protestiert. Anlass war ein Überfall angeblicher Islamisten auf eine Kirche in der südägyptischen Stadt Assuan. Dann ist die ägyptische Armee brutal gegen Demonstranten vorgegangen. Panzer haben Menschen überrollt, zum Teil mehrfach. Demonstranten wurden gezielt in den Kopf geschossen. Die ägyptische und arabische Öffentlichkeit ist von der Gewalteskalation, 27 Tote, Hunderte Verletzte, geschockt gewesen.

    Bis heute verhindern die alten Seilschaften mit allen Mitteln jede demokratische Veränderung. Es existiert weder eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie sie es in Südafrika gegeben hat, noch ein Abkommen mit den Vereinten Nationen zur juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit wie zum Beispiel das Rote-Khmer-Tribunal für Kambodscha. Das wäre wünschenswert. Aber die Realität sieht anders aus. Die Januarrevolution 2011, ägyptischer Teil des "Arabischen Frühlings" droht zu scheitern.

    So sind auch die Täter vom Maspero freigesprochen worden. Die Begründung, der Fahrer eines Panzers "hätte nicht auf den Zustand der schlechten Straßen geachtet" ist zynisch und verdeutlich die reale Macht des Militärrates. Die Auseinandersetzung zwischen der Demokratiebewegung auf der einen und dem Militär und der alten, noch immer fest in den Staatsstrukturen verwurzelten Anhängerschaft Mubaraks auf der anderen Seite ist ein Kampf David gegen Goliath. Und dennoch wird der Ausgang über die Zukunft Ägyptens entscheiden. Und darüber hinaus über den "Arabischen Frühling".

    Doch wie anders als durch öffentlichen Protest lässt sich Druck erzeugen, damit Spitzenbeamte und Entscheidungsträger in den staatlichen Medien, Ministerien und anderen staatlichen Institutionen, die direkt vom System Mubarak profitiert haben, entfernt werden. Tausende, die unmittelbar für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, arbeiten noch immer im Innenministerium. Sie waren und sind zentraler Teil des weiter existierenden Unterdrückungsapparates. Eine zentrale Forderung ist, dass das Militär ziviler Kontrolle unterworfen wird. Militärgerichtsprozesse gegen Zivilisten sollen verboten, der Justizapparat von regimetreuen Staatsanwälten gesäubert werden. Doch wer sollte die Forderungen durchsetzen? Den Demokratiebewegungen fehlt derzeit die Macht dazu.

    So ist die Euphorie der Erkenntnis gewichen, dass man in einer Phase zähen und teilweise gewalttätigen Ringens mit den Überresten der alten Regime feststeckt. Demokratische Veränderungen sind verlangsamt, vielleicht sogar unmöglich gemacht worden. Das Beispiel Syriens hat zudem deutlich gemacht, dass eine von internationalen Interessen geprägte Machtpolitik keine Rücksicht auf Demokratiebewegungen nimmt.

    Das Interesse an der säkularen Demokratiebewegung vonseiten des Westens hat nachgelassen. In den westlichen Thinktanks werden Stimmen hörbar, die darauf drängen, die Politik solle sich eher mit Muslimbrüdern und selbst radikalen Islamisten wie den Salafisten arrangieren, da diese zum Beispiel die wirtschaftlichen Interessen des Westens eher vertreten würden als säkulare Gruppen.

    Schon die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Bahrain durch eine militärische Intervention Saudi-Arabiens mit Billigung des Westens war der erste Hinweis auf ein solches Arrangement. Die Idee ist folgende: Während man den islamischen Kräften die Islamisierung der Gesellschaft zugesteht, verlässt man sich zur Wahrung der außenpolitischen Interessen auf das Militär. Die Beziehung zur türkischen AKP, die, in Regierungsverantwortung, einen islamischen Umbau der türkischen Gesellschaft, zum Beispiel durch die Islamisierung der Universitäten, vorantreibt, könnte als Bespiel für die politischen Beziehungen zu den Muslimbrüdern in Ägypten und Tunesien dienen.

    Aber die Akzeptanz islamistischer Kräfte durch den Westen wird radikalen antiisraelischen Parteien und einem antisemitischen Populismus den Weg bereiten. Eine reale Gefahr, der man sich nicht nur bewusst sein sollte, sondern international auch entschieden entgegentreten muss.

    Parallel zum sinkenden Interesse des Westens sind Militär und Sicherheitskräfte immer brutaler gegen die Demokratiebewegung vorgegangen. Internationale Konsequenzen, zum Beispiel durch Sanktionen, hat der durch jährlich 1,3 Milliarden Dollar US-amerikanische Militärhilfe gestützte regierende Militärrat nicht zu befürchten. Die Militärregierung in Ägypten wird durch den Westen indirekt ermutigt, den antidemokratischen Weg weiter zu beschreiten.

    So haben nicht nur die ägyptischen, sondern alle arabischen Sicherheitskräfte 2011 gezielt für den Einsatz im Inneren aufgerüstet. Auch wenn Demonstranten in Alexandria die Einfuhr von fünf Tonnen Nervengas verhindern konnten, wurden diese nach Chemiewaffenübereinkunft von 1997 verbotenen Waffen immer exzessiver eingesetzt. Die verwendeten Gasgranaten stammten aus Mazedonien, China, den USA und Israel. Bei einigen Gasgranaten fehlte die Beschriftung. Dr. med. Dagmar Schatz, Sanitätsoffizier der Bundeswehr hat die Folgen des Einsatzes von Nervengasen in Ägypten beschrieben:

    "Nicht nur Mohamed El-Baradei, ehemaliger Generaldirektor der internationalen Atomenergieorganisation und Friedensnobelpreisträger, ist der Meinung, dass dem Gas auch ein Nervenkampfstoff beigemischt wurde. Nervenkampfstoffe sind chemische Verwandte von Insektenvernichtungsmitteln. Dem in Kairo eingesetzten Gas soll auch Senfgas beigemischt worden sein. Senfgas ist ein Alkylans, das heißt, es bindet sich an chemische Gruppen der DNA und schreibt im Endergebnis die Erbinformation genauso um wie radioaktive Strahlung."

    Trotzdem ist die Politisierung und Mobilisierung der Bevölkerung nach wie vor groß. Dazu bei tragen die veränderten Aktionsformen der Demokratiebewegungen. Es sind für die arabische Welt neue, zivile Aktionsformen des öffentlichen Protestes ausprobiert worden. Dazu gehören Platzbesetzungen, künstlerische Aktionsformen, Graffiti, Film, Musik, Spontandemonstrationen, Internetaktionen, Straßenkampagnen mit Videoshows sowie Blockaden von staatlichen Einrichtungen.

    "Heute gibt es eine neue Generation von Ägyptern, die verstehen, lesen und analysieren kann."

    Waleed Rasched ist Mitbegründer der ägyptischen Jugendbewegung des 6. April, die den Protest bis heute mitorganisiert.

    In Tausenden von Streiks, Sit-ins, Büro- und Betriebsbesetzungen haben Demonstranten an ihrem Arbeitsplatz oder Wohnort ökonomische Verbesserungen, verbesserte Dienstleistungen und die Demokratisierung der verschiedensten Institutionen gefordert.

    Dabei spielten und spielen auch in der Zukunft die unabhängigen Gewerkschaften eine entscheidende Rolle. Sie fordern einen Mindestlohn von 1200 Pfund, was der Armutsgrenze entspricht. Die Übergangsregierung stimmte bisher einem monatlichen Mindestlohn von nur 700 Pfund zu, das sind 87,19 Euro. Davon kann in Ägypten niemand leben.

    "Die Arbeiter greifen auf ihre Erfahrungen in den letzten fünf Jahren zurück. Denn über diesen Zeitraum hat es über 3000 Arbeiterstreiks in Ägypten gegeben, die im Westen kaum wahrgenommen worden sind. 2007 haben zum ersten Mal in einem arabischen Land Streikende, Frauen und Männer, Christen und Muslime in einer Protestaktion zusammen auf der Straße übernachtet. Das ist vorher undenkbar gewesen. Frauen haben in dem Streik eine führende Rolle gespielt und es hat eine wichtige moralische Komponente gegeben. Die Straße als Protestort ist den Arbeitern vertraut und die Revolutionäre auf dem Tahrir-Platz haben viele unserer Widerstandsformen übernommen. In jedem Stadtviertel, in jedem Dorf und in jeder Familie wird heute über Politik diskutiert. Und wer nicht politisch aktiv ist, interessiert sich zumindest für gewerkschaftliche Forderungen."

    Kamal Abu Aita organisierte 2007 den ersten landesweiten Streik von Arbeitern und Angestellten in Ägypten. Am 30.1.2011 war er an der Gründung des ersten unabhängigen Dachverbandes ägyptischer Gewerkschaften seit 60 Jahren auf dem Tahrir-Platz beteiligt. Die unabhängigen Gewerkschaften Ägyptens haben heute 1,4 Millionen Mitglieder.

    Auch die geschätzten 35.000 NGOs, Nicht-Regierungsorganisationen, die in Ägypten aktiv sind, übernehmen zivilgesellschaftliche Aufgaben und organisieren Proteste. Die Anklage von 43 Mitarbeitern von NGOs, darunter zwei Mitarbeitern der Konrad-Adenauer Stiftung erhoben von Fayza Abou al-Naga, Ministerin für Internationale Kooperation und Mubarak-Getreue, ist eine Kampfansage des alten Regimes an diesen Teil der Demokratiebewegung. Denn die Anschuldigungen, illegal aus dem Ausland finanziert worden zu sein, Ägypten so zu destabilisieren und ins Chaos zu stürzen, wird schon seit den 90er Jahren zur Bekämpfung der Opposition genutzt.

    Ob sich die NGOs allerdings jetzt und in Zukunft davon einschüchtern lassen werden, ist zu bezweifeln. In vielen Bereichen des sozialen Lebens ersetzen sie den handlungsunfähigen Staatsapparat. Zusätzlich sind sie mit Zehntausenden Aktivisten von Marokko bis in den Irak vernetzt. Der Kommunikationsstrom überspringt spielend die historisch kolonial gezogenen Ländergrenzen und ignoriert die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die die Konflikte der Region jahrzehntelang aufoktroyiert haben. Befragt nach der Bedeutung des Israel-Palästina-Konflikts, nach der libanesischen Hisbollah und nach der Kriegsgefahr wegen des iranischen Atomprogramms antwortet die 29jährige bekannte ägyptische Bloggerin, Esraa Abdel Fattah, was viele denken:

    "Das interessiert uns alles nicht. Es ist uns völlig egal, was ein Hassan Nasrallah von der Hisbollah sagt oder was diese Leute im Iran behaupten. Wir sind angewidert von dem, was hier in Ägypten geschehen ist."

    Gewerkschaften, NGOs und Demokratiebewegung: Kann aus dem Straßenprotest, in Ägypten und darüber hinaus demokratische politische Partizipation erwachsen? Wie wird die Akzeptanz staatlicher Institutionen durch die Bevölkerung angesichts jahrzehntelang institutionalisierter Korruption wiederhergestellt werden können? Wie unabhängig können das Parlament, die Justiz und die gewählte Regierung agieren? Wie werden bislang staatliche korrumpierte Massenmedien demokratisiert? Welche Rolle spielen die zahllosen Parteien, welche Rolle der in zahllose Fraktionen aufgespaltene politische Islam, welche die traditionellen gesellschaftlichen Kräfte sowie die Jahrhunderte alten islamischen Bildungseinrichtungen, wie zum Beispiel die Al-Azhar, die älteste islamische Universität?

    Und wie reagieren die realen Machthaber, die Militärs? Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist zu bezweifeln, dass sie ihre politische Vormachtstellung freiwillig aufgeben. Zumal sie in vielen Ländern nicht nur seit Jahrzehnten den größten Teil des Staatshaushaltes für sich beanspruchen, sondern auch, wie zum Beispiel in Ägypten, 20 Prozent der zivilen wirtschaftlichen Unternehmen, von der Produktion von Gasthermen bis hin zu Hotelketten im Tourismusbereich betreiben.

    Antworten auf all diese Fragen sind nicht gefunden. Der "Arabische Frühling", der viele Hoffnungen geweckt hat, steckt realpolitisch in einer Sackgasse. Aber ist das verwunderlich? Nach 30 Jahren Notstandsgesetzen. Durch den "Arabischen Frühling" ist auch für viele Ägypter erstmals sichtbar geworden, wie komplex und vielfältig die Demokratiebewegung ist. Es ist zu erwarten, dass Wahlen zukünftig diese Komplexität der Interessen widerspiegeln werden. Wenn es in Zukunft zu fairen Wahlen überhaupt kommt.

    Denn entscheidend für die Stabilität der Demokratien sind Perspektiven zur Herstellung "sozialer Gerechtigkeit". Während man im Westen gerne kulturalistischen Konsequenzen des "Arabischen Frühlings" öffentlich nachspürt, Fragen nach der Bedeutung des politischen Islam, der Rolle der Frauen oder der Beziehung zwischen Christen und Muslimen, ist die Frage, wie es den politischen Parteien gelingt, die wirtschaftliche Misere zu überwinden, von größter Bedeutung in der arabischen Öffentlichkeit.

    Unter Mubarak wurde der ägyptische Staat zum Musterschüler einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Dazu einige Zahlen. Nach Angaben des ägyptischen Finanzministeriums stieg der Anteil der Privatwirtschaft von 30 Prozent 1991 auf 80 Prozent 2006. 92 Prozent der Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen wurden genauso privatisiert wie 93 Prozent des Groß- und Einzelhandels. Der damalige Direktor des Internationalen Währungsfonds, IWF, Dominique Strauss-Kahn, ließ im September 2008 nach seinem ersten Besuch in Kairo begeistert verlauten.

    "Ich gratuliere Präsident Hosni Mubarak, Premierminister Ahmed Nazif und dem Wirtschaftsteam zu Ägyptens beeindruckendem wirtschaftlichen Aufschwung in den vergangenen Jahren. Dies wurde von einem ehrgeizigen Strukturreformprogramm, mit der Liberalisierung des Handels, ausländischen Investitionen und dem Devisenmarkt, umfangreichen Privatisierungen und der Modernisierung des Finanzsektors untermauert. Ich versicherte Präsident Mubarak und dem wirtschaftspolitischen Team, dass der Internationale Währungsfonds weiterhin Beratung und Unterstützung für die Fortsetzung der Reformbemühungen Ägyptens anbieten wird."

    Das sogenannte Wirtschaftsteam, das der inzwischen wegen einer Sexaffäre von der IWF Spitze zurückgetretene französische Sozialist hier belobigend nennt, ist jene kleine korrupte Clique um den Präsidentensohn und gewünschten Nachfolger Gamal Mubarak. Viele derjenigen, die seit 1987 mit dem IWF verhandelten, sitzen heute im Gefängnis. Ihre unersättliche Gier ist, selbst nach westlichen Maßstäben, gigantisch. Allein Mubaraks Privatvermögen wird auf 70 Milliarden Dollar geschätzt. Aber es ist nur die Spitze des Eisbergs. "Kleine Mubaraks" gibt es viele in Ägypten. Staat und Privatwirtschaft arbeiteten unter IWF Anleitung Hand in Hand, Korruption und Privatisierung sind in Ägypten zwei Seiten derselben Medaille. Schon 2007 kritisierte die Weltbank:

    "Dem ägyptischen marktorientierten Wirtschaftsengagement fehlen Praktiken, die mit fortgeschrittenem Kapitalismus verbunden sind, wie formale Garantien des Rechtsstaats, ein faires Lohnsystem oder Investitionen in die Wissensproduktion durch Forschung und Entwicklung. In die Wirtschaftspolitik einbezogen ist stattdessen wiederholt der Versuch, radikal die öffentlichen Ausgaben zu senken, wie die Subventionen für Grundnahrungsmittel sowie Dienstleistungen und Sozialtransfers, die bereits eine der niedrigsten weltweit sind."

    Daran hat sich nichts geändert. Lösungen für diese Misere existieren bis heute nicht. Nur weitere Zahlen, die sie verdeutlichen. 2002 bis 2007 haben sich die Ausgaben für das Militär nahezu verdoppelt und die Ausgaben für öffentliche Ordnung und staatliche Sicherheit sind um 50 Prozent gestiegen. Dagegen wurden die Ausgaben für Jugend und Kultur gekürzt. Minus 25 Prozent für Gesundheitsausgaben, minus 36 Prozent für Bildung und minus 84 Prozent für Umweltschutz.

    Ahmad el-Sayed El-Naggar, einer der bekanntesten Wirtschaftsanalysten vom Al-Ahram-Zentrum für Politische und Strategische Studien in Kairo hat kürzlich die reale Arbeitslosigkeit mit 7,9 Millionen oder 26,3 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung Ägyptens angegeben. Die Arbeitslosigkeit der 15- bis 29jährigen liegt sogar bei über 70 Prozent. Diese dramatische wirtschaftliche Misere mit einer Inflationsrate von über 11 Prozent zu überwinden ist der Gradmesser, an dem die Bevölkerung die gewählten politischen Parteien in Zukunft messen wird.

    Betrachtet man die Wahlergebnisse der ersten freien und fairen Wahlen in Tunesien und Ägypten, so sind sie größtenteils Ausdruck dieser wirtschaftlich katastrophalen Situation. Die Wähler haben denjenigen politischen Kräften ihr Vertrauen ausgesprochen, die in Rhetorik und Auftreten am ehesten dasjenige vertreten, was der Überzeugung der Meisten nach nicht korrumpiert wurde in den Jahrzehnten des ökonomischen Ausverkaufs: die Religion, der Islam.

    In Ägypten errangen die Muslimbrüder 45,7 Prozent der Stimmen. Ihre politischen Strategien haben sich im Laufe der Jahrzehnte mehrfach verändert. Was ihnen heute vorschwebt, orientiert sich an der in der Türkei regierenden islamisch konservativ-demokratischen AKP. Der bekannte ägyptische Journalist Sameh Naguib hat ihre politische Ausrichtung so beschrieben:

    "Bei allen unterschiedlichen Flügeln und Strategien ist die Orientierung am Islam ihr einigender Faktor. Ihr zentraler Slogan ist ‚Islam ist die Lösung'. Sie fordern die Beachtung der Scharia-Regeln und einen ‚Islamischen Staat'. Darunter verstehen sie eine Art sozialdemokratisches Sozialsystem, das den Arbeitern Gerechtigkeit und Würde bringt, und verbinden es mit einer ultrakonservativen und reaktionären Utopie, in der Frauen, Arbeiter, Minderheiten und andere angeleitet werden zuzuhören und zu dienen."

    Die Muslimbrüder unterstützen ein demokratisches System, jedenfalls solange es sie an die Macht bringt. Wie erfolgreich sie darin in Zukunft sein werden, wird davon abhängen, ob es ihnen gelingt, die realen ökonomischen Bedingungen zu verändern. Für die islamische Agitation ist die mit saudiarabischen Kapital finanzierte an-Nur-Partei, die Partei des Lichtes, zuständig, die 20 Prozent der Stimmen bekam. Ihre Vorstellung eines "Islamischen Staates" besteht in der sofortigen Einsetzung der Scharia. Sie sind die Handlanger Saudi-Arabiens und garantieren dem reaktionären Golfstaat politischen Einfluss in Ägypten.

    Zu diesen beiden wichtigsten islamischen Gruppen kommen jedoch noch außerparlamentarische, nicht parteipolitisch gebundene, aber einflussreiche islamische Organisationen, wie die Al-Azhar-Universität, die einen akademischen, traditionellen Islam vertritt, und die Sufi-Orden, die mit drei Millionen Mitgliedern für einen Volksislam mit spirituellen Elementen stehen. Fakt ist, dass die Konkurrenzen, Unterschiede und Widersprüche im konservativen Lager erst durch den "Arabischen Frühling" öffentlich ausgetragen werden können.

    Die tägliche Berichterstattung belegt, wie dynamisch und unvorhersehbar die Entwicklungen immer noch sind. Zusätzlich wirken die am Erdöl orientierten geostrategischen Handlungsmaximen der USA, Europas und selbst Chinas auf den "Arabischen Frühling" genauso wie ein drohender Krieg mit dem Iran. Dazu kommen die im Westen kaum beachteten und oben beschriebenen Auswirkungen der durch IWF und Weltbank durchgesetzten Marktliberalisierungen und Privatisierungen, die die arabischen Volkswirtschaften in eine tiefe Rezession gestürzt haben und wesentlich zur Ausprägung und Stabilisierung der diktatorischen politischen Systeme beigetragen haben. Außerdem ist der Nahe Osten und der Golf schon jetzt die Region mit der höchsten Waffendichte der Welt. Eine Politik gezielter Abrüstung wäre zur Stabilisierung der Demokratien unablässig. Das Gegenteil ist derzeit der Fall. Der "Arabische Frühling" ist die Konsequenz dieser Umstände, nicht dessen Ursache.

    "Es gibt viele Gefahren, dass die Zustände vor der Revolution wieder hergestellt werden. Es gibt keine Visionen. Alles, was erreicht wird, ist das Ergebnis täglicher Demonstrationen und Streiks. Aber die Menschen haben sich verändert. Sie wissen nach den Erfahrungen auf dem Tahrir sehr genau, was sie tun und wo ihre Rechte liegen. Egal, wer regiert. Die Auseinandersetzungen gehen weiter. Die Geschichte zeigt, das es keinen Blueprint für Revolutionen, Aufstände und Revolten gibt. Es gibt neue Positionen, manches ist zu ändern. Manche Sachen bringen einen vom Ziel weg und man muss es korrigieren. Das ist die Natur dieses Wandels."

    Dies ist eine treffende aktuelle Beschreibung des "Arabischen Frühlings" von Ibrahim el-Issawy, Wirtschaftsprofessor am Institut für Nationale Planung in Kairo und Mitgründer der Socialist Popular Party. In der Wahrnehmung der arabischen Welt neigt die westliche Öffentlichkeit zu Vereinfachungen. Sich der komplexen politischen Konsequenzen bewusst zu werden, ist das Eine. Den demokratischen Aufbruch jedoch politisch und wirtschaftlich zu unterstützen und gleichzeitig islamistischen, autoritären und antiisraelischen Strömungen eine Absage zu erteilen, das weitaus Wichtigere.