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Wenig Morde, aber viel Elend

Spektakuläre Morde, zerlöcherte Leichen, literweise Blut und Gerichtsmediziner, die Tag und Nacht die Spuren der Täter verfolgen.

Von Jens P. Rosbach |
    Die Riefen sind identisch, die Kugeln stammen aus derselben Waffe! Genau! Eine halbautomatische Glock-9mm. Die Dienstwaffe der Bostoner Polizei. Vielen Dank Doktor Benner!

    So die Welt der Rechtsmediziner im Fernsehen. Die Realität dagegen sieht anders aus.

    Äußere Besichtigung. Leiche einer bekannten, 30 Jahre alt gewordenen, 164 Zentimeter großen und 78 Kilogramm schweren Frau. Neuer Punkt. Totenstarre in den großen und kleinen Gelenken.

    Sven Hartwig sitzt am Schreibtisch und diktiert ein Gutachten für die Staatsanwaltschaft. Der 28-Jährige absolviert eine Facharztausbildung zum Rechtsmediziner an der Berliner Charite. Sein Hauptjob: Akten wälzen und Schreiben verfassen.

    Deutliche Leichenkälte, die Augen stehen spaltweit offen.

    Hartwig bekommt nur drei bis vier Leichen pro Woche zu Gesicht - denn Obduktionen sind teuer, die Gerichte geizen mit Aufträgen. Und die wenigen Toten, die der Arzt im Institut oder vor Ort untersucht, sind in den seltensten Fällen Mordopfer. Die meisten haben sich selbst umgebracht oder sind verunglückt.

    Der Klassiker sind zum Beispiel Alkoholiker, die nach jahrelangem Alkoholkonsum schwere Leberschäden davongetragen haben und über eine verminderte Blutgerinnungsleistung verfügen, sich verletzen durch einen Sturz, sukzessive über Stunden zum Beispiel verbluten. Diese Wohnungen sehen dann so aus, dass diese ganze Wohnung voller Blutspuren ist. Das sieht auf den ersten Blick nach einem Verbrechen aus, aber das klärt sich ganz schnell von selbst.

    Es existiert ja immer die Vorstellung, dass man nur mit Toten zu tun hat. Es ist aber bei weitem nicht so. Wir führen auch viele so genannte Geschädigten-Untersuchungen durch, klassischerweise Vergewaltigungsopfer oder misshandelte Kinder. Und hier ist es ganz wichtig, dass ein Rechtsmediziner eine Dokumentation der Verletzungen vornimmt, denn nur eine gute Dokumentation ist auch gerichtsverwertbar.

    Es geht aber nicht nur um die Opfer. Der Rechtsmediziner muss auch Kriminelle begutachten - etwa wenn ein Opfer sich gewehrt hat und der Täter ebenfalls verwundet wurde.

    Ich hatte persönlich jetzt mehrfach die Situation, dass ich zunächst das Opfer untersucht habe am Tatort und der Täter inzwischen schon festgenommen wurde und ich dann quasi eine Stunde nach dem Opfer auch noch den Täter untersucht habe. Das ist schon eine Gratwanderung. Man hat das Opfer gesehen und weiß, was der da gerade vor wenigen Stunden angerichtet hat, und man muss sich natürlich jetzt zwar nicht teilnahmslos aber schon mit einer professionellen Objektivität an die Untersuchung des Täters machen. Ich will nicht sagen, dass wir davon leben - aber das ist unser Job.

    Arbeit am Mikroskop - etwa um Spermien zu entdecken -, Seminare für Medizinstudenten sowie Vorträge vor Polizisten und Juristen - auch das gehört zu Hartwigs Alltag. Wovon zehrt der junge Assistenzarzt angesichts all der Verbrechen, Unfälle und tragischen Schicksale?

    Den Opfern kann man in der Regel nicht mehr helfen, so sie dann tatsächlich gestorben sind. Aber man kann Angehörigen helfen, indem man unbekannte Tote identifiziert, den Angehörigen die Möglichkeit des Abschiedes und der Bestattung gibt. Zum anderen hilft man auch Angehörigen, wenn Kinder verstorben sind, wenn man sagen kann, dass sie am Tode des Kindes keine Schuld haben, weil gerade junge Eltern dann von Schuldgefühlen zerfressen sind. Na ja - und dann das Klassische, dass man hilft, einen Täter, der da frei herum läuft, hinter Gitter zu bringen. Das ist schon ein gutes Gefühl.