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Weniger, älter, bunter

Bielefeld ist ein exemplarischer Blick in die demografische Zukunft von vielen Großstädten: Die Bevölkerung wird immer älter, ihre Anzahl sinkt und mehr Migranten bewohnen sie. Bielefeld beschäftigt deshalb eine Demografiebeauftragte.

Von Beatrix Novy |
    Ein ehemaliges Schlachthofgelände in Bielefeld. Eine abgeräumte Brache, wie der Postindustrialismus sie in vielen Städten zurücklässt, einige Neubauten ragen auf, ein großes Café belebt schon die Atmosphäre. Hier kann Susanne Tatje bei ihrem demografischen Stadtrundgang demonstrieren, wie Quartiersentwicklung offensiv auf die demografischen Veränderungen reagiert. Hier gibt es einen Entwicklungsplan.

    "nach den Kriterien entwickelt, die über das Demografiekonzept beschlossen worden sind."

    Denn das hat Bielefeld: ein Demografiekonzept. Es macht zum Beispiel die hindernisfreie Wohnung zur Auflage, so etwas brauchen alte Menschen. Und alte Menschen sollen in Bielefeld-Mitte wohnen bleiben können. Das Konzept denkt nicht nur an Kitas, sondern auch an die Sprachförderung, die Migrantenkinder dort bekommen sollen.

    "Stadthäuser, freifinanziert, aber auch öffentlich finanziert, Studenten, alt und jung, junge Familie. Das ergibt die Gemengelage von Angeboten und urbanen Flächen."

    Das Wort Gemengelage lässt auch auf die Urbanität hoffen, die sich so schwer planen lässt. Immerhin: Das Café und der neue kleine Supermarkt sorgen schon für kurze Wege. Städtische Freiflächen, undefinierte womöglich, entspannt vom Druck der Vermarktung jedes Quadratmeters, und das einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt – die Zeit, als so eine Lage nach renditeträchtiger Vermarktung schrie, ist auch für Bielefeld vorbei.

    "Bielefeld schrumpft. Nicht dramatisch, aber Bielefeld schrumpft. "

    Dramatisierung ist gerade nicht der Job der ersten Demografiebeauftragten Deutschlands, das Amt, das Susanne Tatje vor über sechs Jahren antrat. Ein sogenanntes Querschnittsamt, ämterübergreifend und für alle kommunalen Handlungsfelder zuständig: von der Jugendhilfe übers Schulwesen bis zur Bauleitplanung. Selbst die Wasserrohre werden zum Problem: Für eine schrumpfende Bevölkerung fließt immer weniger Wasser durch zu große Rohre, mit der Folge, dass diese verkeimen und verpilzen. Auch ein Erbe des 200jährigen Städtewachstums, das jetzt zuende geht.

    "Und es entsteht die Frage: Was machen Städte mit dieser überdimensionierten Infrastruktur."

    Susanne Tatjes demografische Stadtrundgänge führen durch Quartiere, in denen die Wirklichkeit hinter den Fassaden auf verschiedene Weise deutlich wird, wie in Bielefeld-Mitte.

    "Also diese Straße ist die August-Bebel-Straße, eine ganz klassische Bielefelder Straße, die war immer eine wichtige Verbindung. Und als ich nach Bielefeld gekommen bin, 1972, da gab es hier noch diese ganz klassischen Bielefelder Einzelhandelsgeschäfte, mit so 'ner Traditionsgeschichte. Der Bielefelder Bäcker, der Metzger, das Bielefelder Textilhaus."

    Heute gibt es sie alle nicht mehr und auf den Klingelschildern stehen viele ausländische Namen. Ein Kulturwandel, der bittere Gefühle provoziert, dessen positive Seiten aber betont werden müssen. Susanne Tatje weiß gerade von älteren Leuten, die sich gut versorgt fühlen vom türkischen Lebensmittelladen: Beim Kauf einer Miniportion Kartoffeln treffen sie sich, die Alten und die Migranten, die das Weniger-älter-bunter der gesellschaftlichen Entwicklung verkörpern: Weniger, bunter, älter. Die europäische Stadt hat in ihrer Geschichte mehr als einen gesellschaftlichen Wandel verkraftet. Jetzt fällt ihr die Aufgabe zu, das Leben ohne Wachstum zu organisieren – exemplarischer könnte der Blick in die Zukunft nicht sein.