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Weniger infektiös aber überraschend vielseitig

Medizin. - Wie gefährlich ist das Schweinegrippe-Virus? Zwei Arbeitsgruppen aus den Niederlanden und den USA haben jetzt in "Science" versucht, diese Frage zu beantworten. Es ist weniger infektiös als der Erreger der Vogelgrippe oder der "Spanischen Grippe", aber es vermehrt sich auch im Magen-Darm-Trakt.

Von Martin Winkelheide |
    Das neue Grippevirus gilt als weniger gefährlich als der Erreger der "Spanischen Grippe" oder das Vogelgrippe-Virus H5N1. Dennoch sollte das neue H1N1-Virus nicht unterschätzt werden, sagt Ron Fouchier von der Universitätsklinik Rotterdam. Der Professor für Molekulare Virologie hat die krank machende Wirkung des neuen H1N1-Virus mit der von saisonalen Grippeviren verglichen - im Tierversuch, an Frettchen. Mit eindeutigem Ergebnis.

    "Frettchen, die sich mit dem neuen pandemischen H1N1-Virus ansteckten, wurden häufiger krank. Und sie erkrankten schwerer. Das Virus vermehrte sich besser in ihren Atemwegen und drang auch in tiefere Regionen der Atemwege ein als das saisonale Influenza-Virus."

    Die Ergebnisse der Tierversuche, so Ron Fouchier, deckten sich mit den Beobachtungen von internationalen Gesundheitsexperten.

    "Weltweit ist es so, dass auf 200 bestätigte H1N1-Infektionen ein Todesfall kommt. Das ist deutlich mehr als bei der saisonalen Grippe. In den USA und den europäischen Ländern sterben im Durchschnitt weniger Menschen. Das liegt daran, dass das Gesundheitssystem in den Industrienationen besser ist. Infektionen werden früher entdeckt. Die Patienten bekommen antivirale Medikamente und in unseren Krankenhäusern haben wir deutlich bessere Behandlungsmöglichkeiten."

    Auch Forscher der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta haben das neue H1N1 an Frettchen getestet. Sie kommen in einem Punkt zu einem anderen Ergebnis als ihre Kollegen in Rotterdam: Das neue Grippevirus, sagen sie, werde weniger leicht von Mensch zu Mensch weitergegeben als das saisonale Virus. Es sei weniger infektiös. Eine mögliche Erklärung ist ihrer Ansicht nach im Erbgut der Viren zu finden: dem neuen Virus fehlt ein typischer Abschnitt im so genannten PB2-Gen – Pandemie-Viren aus den Jahren 1918, 1957 und 1968 besaßen alle diesen Gen-Abschnitt. Dafür könne sich das neue H1N1-Virus dank einer genetischen Besonderheit auch im Magen-Darm-Trakt vermehren. Eine für Grippe-Viren ungewöhnliche Eigenschaft. Und wahrscheinlich ein Grund dafür, warum Patienten häufig über Übelkeit und Durchfälle klagten. Bislang, so sagen die Forscher aus Rotterdam und Atlanta übereinstimmend, deute nichts darauf hin, dass das Virus sich genetisch stark verändert habe und gefährlicher geworden sei. Dies, so Ron Fouchier, gelte, obwohl bei einzelnen Patienten Viren gefunden wurden, die bereits unempfindlich sind für das Grippe-Medikament Tamiflu.

    "Tatsächlich sind erste Tamiflu-Resistenzen entdeckt worden. Zuerst bei einem Kind in Dänemark. Aber wir haben keinen Hinweis darauf, dass sich das Virus weiter ausgebreitet hat. Möglicherweise ist die Übertragbarkeit von Tamiflu-resistenten Viren auch schlechter als die von Wild-Typ-Viren, die sich noch mit Tamiflu behandeln lassen."

    Für Ron Fouchier steht fest: Die bislang diagnostizierten rund 77.000 neuen Influenza-Fälle stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. Er geht davon aus, dass sich heute schon deutlich mehr Menschen mit dem Virus angesteckt haben. Das Virus wird wohl in etwas mehr als einem Jahr einmal um den Erdball gereist sein. Das Argument: Wer sich früh mit dem Virus ansteckt, ist später geschützt – falls das Virus in einer aggressiveren Form zurück kehrt nach Europa und die USA, dieses Argument lässt Ron Fouchier allerdings nicht gelten.

    "Jeder Dritte wird Krankheitszeichen entwickeln. Und dann ist die große Frage: Wie viele Menschen erkranken schwer und wie viele sind unglücklich genug, an der Infektion zu sterben? Ehrlich gesagt: Ich würde mit einer Ansteckung lieber so lange warten, bis ich gegen das Virus geimpft bin. Denn dann bin auch geschützt, - ohne das Risiko, eine schwere Lungenentzündung zu bekommen. Ich hoffe, ich stecke mich nicht an, bevor ich geimpft bin."

    Die Zeichen dafür stehen nicht schlecht. Die meisten Impfstoffhersteller haben die Produktion des saisonalen Influenza-Impfstoffs bereits abgeschlossen. Sie können jetzt beginnen, den Impfstoff herzustellen, der vor dem neuen Pandemie-Virus H1N1 schützt. Wenn alles gut geht, so Ron Fouchier, könnten die ersten Impfdosen schon im Oktober ausgeliefert werden. Also pünktlich zur zweiten Infektionswelle, die für den Spätherbst erwartet wird.