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Weniger Missbildungen durch Lebensmittelzusatz

Medizin. – Auf so genannte Neuralrohrdefekte sind Missbildungen bei Neugeborenen zurückzuführen, darunter etwa unvollständig geschlossene Wirbelsäulen. Immer wieder kommen solche Behinderungen auch in Deutschland vor. Eine mögliche Lösung sehen kanadische Forscher in einem Zusatz von Folsäure, einem Vitamin der B-Reihe, in Nahrungsmitteln. Kanadische Studien, die heute in der Fachzeitschrift ''The Lancet'' vorgestellt wurden, belegten, dass sich so Missbildungen vermindern ließen. Doch Kritiker warnen vor solchen Maßnahmen.

    Von Volker Mrasek

    Die neue Studie stammt aus Kanada. Dort enthalten Getreide-Mehle aus dem Supermarkt seit vier Jahren grundsätzlich Folsäure. Der Erfolg sei durchschlagend, freut sich Joel Ray, Klinischer Forscher an der Sunnybrook-Frauenklinik der Universität Toronto. Der Mediziner gehört zu den Autoren der jetzt im "Lancet" veröffentlichten Studie:

    Wir konnten feststellen, dass die Zahl von Neuralrohr-Defekten in der Schwangerschaft sehr stark zurückgegangen ist, seit die Mehle mit Folsäure angereichert werden. Und zwar um 40 bis 50 Prozent.

    Weit über 300.000 Frauen wurden in die Untersuchung mit einbezogen. Alle aus Ontario, Kanadas größter Provinz. Ähnliche Studien gab es bereits im Nachbarland USA. Dort kamen ebenfalls Lebensmittel mit Folsäure-Zusatz auf den Markt. Doch nach den Erhebungen der US-Mediziner wirkte sich das nicht so dramatisch auf die Anzahl von Neuralrohrdefekten aus. Wie es schien, gingen sie lediglich um ein Fünftel zurück. Diese Arbeiten zeigten aber nicht das Gesamtbild, betont Ray:

    In den US-Studien wurden nur Neuralrohr-Defekte nach der Geburt berücksichtigt. Man muss aber sehen: Häufig überleben Babys mit solchen Erkrankungen die Schwangerschaft gar nicht. Hätten unsere US-Kollegen auch Fehlgeburten mit erfasst, dann wären sie genauso wie wir auf rund 50 Prozent weniger Neuralrohr-Defekte gekommen.

    Frauenärzte raten ihren schwangeren Patientinnen zu Folsäure-Tabletten. Die wirken auch, wie man weiß. Das Problem ist nur: Die Arzt-Empfehlung kommt fast immer zu spät. Denn - auch das weiß man inzwischen: Mit der Zufuhr der Folsäure müssen Frauen schon Wochen vor Eintritt der Schwangerschaft beginnen. Denn es dauert seine Zeit, bis sich der Vitamin-Status der werdenden Mutter verbessert. Außerdem gibt es immer noch Frauen, die die Tabletten nicht nehmen, auch wenn sie ihnen empfohlen oder sogar schon verschrieben wurden. Das alles gelte nicht nur für die USA und Kanada, sondern auch für andere Industrieländer, sagt Ray - Deutschland eingeschlossen. Ihnen allen empfiehlt der Forscher, dem Beispiel Nordamerikas zu folgen:

    Wir denken, dass auch andere Länder Programme zur Anreicherung von Folsäure in Lebensmitteln einführen sollten. Allerdings müssen sie dann wissen: Nicht nur Frauen vor einer Schwangerschaft nehmen dann mehr Folsäure auf. Sondern die gesamte Bevölkerung. Man sollte also überwachen, ob mögliche Nebeneffekte auftreten.

    Genau diesen Punkt führen Gegner weiterer Nährstoff-Anreicherungen ins Feld. Es komme zu einer Art Zwangsversorgung mit Folsäure. Und die könne negative Auswirkungen haben. Das bestreitet auch Joel Ray nicht. Doch ihm fällt eigentlich nur eine mögliche - unerwünschte - Nebenwirkung ein: Wenn der Folsäure-Spiegel im Körper ansteigt, könnte das einen Vitamin-B12-Mangel verdecken. Er würde nicht mehr erkannt. Gefährdet wären vor allem sogenannte Veganer. Sie verzichten auf alle tierischen Lebensmittel, selbst auf Milch- und Eiprodukte. Und riskieren so eine Unterversorgung mit Vitamin B12. Denn das kommt nur in Produkten vom Tier vor. Dieses Risiko könne aber leicht vermieden werden, meint der Mediziner aus Toronto. Indem man Mehl oder anderen Grund-Nahrungsmitteln eben auch ein Quäntchen Vitamin B12 zugibt. In Deutschland könnte Rays Studie die Diskussion um die Folsäure-Anreicherung neu beleben. Die Gesundheitsbehörden sind bisher dagegen, Wissenschaftler wie Michael Thamm aber dafür. Der Mediziner arbeitet am renommierten Robert-Koch-Institut in Berlin. Dort hat man beunruhigende Zahlen zusammengetragen - bei einer bundesweiten Studie mit 1.200 Frauen im Alter von 18 bis 40 Jahren:

    Wir stellten dabei fest, dass die Folsäurezufuhr erheblich unter den Empfehlungen zurückbleibt. Dass heißt es werden 400 Mikrogramm Folat empfohlen, aber im Durchschnitt nehmen Frauen nur 240 Mikrogramm auf.

    Deswegen geht die Rate von Neuralrohrdefekten in der Schwangerschaft nicht spürbar zurück, anders als etwa in Kanada und den USA. Ein Grund, um vielleicht doch noch einmal über Folsäure in Lebensmitteln nachzudenken.