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Weniger Risiko bei Gesichtsoperationen

Die chirurgische Behandlung von Unfallopfern, die schwere Verletzungen im Gesicht davon getragen haben, birgt besondere Risiken, etwa eine Erblindung des Patienten. Wissenschaftler der Universitätsklinik Freiburg haben nun ein neues Computer-gestütztes Verfahren entwickelt, das Operationen im sensiblen Gesichtsbereich sicherer machen soll. Forschung Aktuell stellt die Neuentwicklung im Rahmen der Technikreportage zum Jahr der Technik vor.

Autor: Matthias Schlott | 04.08.2004
    Nach einem netten Einkaufsbummel mit ihrer Mutter sitzt Kerstin Ott am 28 Mai 2003 am Steuer ihres Wagens. Mitten im Urlaub und daher besonders gut gelaunt sind die beiden Frauen auf dem Weg zurück in ihr Hotel in Bad Herrenalb. Es ist gerade halb sieben am Abend, als der jungen Frau plötzlich eine Auto entgegenkommt, das ihr Leben komplett verändern wird.

    Dann hat sich unser Auto gedreht, und der, der hinter uns gefahren ist, ist mir noch in die Fahrertür hinein gefahren. Hauptsächlich waren die Beine gebrochen. Ich habe am linken Oberschenkel einen Trümmerbruch, Oberschenkelhalsbruch auf der rechten Seite, das Sprunggelenk war gebrochen, dann hatte ich Rippenbrüche, einen Lungenriss und die Wirbel waren angeknackst. Und dann eben das Gesicht. Da hatte ich Schnittverletzungen, Nasenknorpelabriss und dann die Augenhöhle.

    Als Kerstin Ott in der Uniklinik Freiburg wieder zu sich kommt, ist ihr Gesicht von der Wucht des frontalen Aufpralls entstellt. Ihr erstes Ziel: wieder normal laufen können. Doch je weiter die Heilung ihrer Brüche voranschreitet, desto mehr beginnt die 32-Jährige unter den Problemen in ihrem Gesicht zu leiden.

    Äußerst unangenehm ist, dass ich kein richtiges Gefühl mehr habe. Inzwischen habe ich mich da auch schon wieder teilweise dran gewöhnt, aber am Anfang war diese Seite komplett taub, die Nase, Lippen. Aber ich muss auch sagen, in den letzten Wochen stört es mich mehr einfach dadurch, dass ich jetzt wieder laufen kann. Nachdem da also keine weitere Operation mehr notwendig war, konnte ich mich mit dem Gesicht beschäftigen, und jetzt stört es mich immer mehr.

    Das Glück im Unglück hat Kerstin Ott nach ihrem schweren Autounfall in die Uniklinik nach Freiburg verschlagen. Denn hier hört sie von einem revolutionären neuen Operationsverfahren, das Chirurgen für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie bis zur Operationsreife entwickelt haben. Auch Kerstin Ott stellen die Freiburger Operateure in Aussicht, dass sich ihre Unfallfolgen mit Hilfe der neuen computergestützten Operationsmethode fast gänzlich abmildern lassen. Nils Claudius Gellrich, Leitender Oberarzt:

    Das Besondere an dieser Methode ist, dass wir jetzt erstmals international die Möglichkeit haben, normale Computertomographiedatensätze so auszuschöpfen, dass wir Modelloperationen virtuell ausführen können, dass wir also auf einem Bildschirm eine Idealsituation des Patienten erstellen, die wir dann eins zu eins im Operationssaal auch so wieder kontrolliert erzielen können.

    Ausgerechnet eine Praktikantin verhalf den Freiburger Operateuren beim Einsatz der Aufsehen erregenden Computermethode zum entscheidenden Durchbruch. In monatelanger Arbeit machte es die Software-Spezialistin möglich, dass man Computertomographie Daten spiegeln kann. Im Fall von Kerstin Ott wird Oberarzt Alexander Schramm die Operation am Computer vorbereiten:

    Insbesondere haben wir hier jetzt erstmals die Möglichkeit, Datensätze zu spiegeln, um präoperativ, also vor der Operation, den Eingriff schon einmal perfekt durchzuführen und dann diese Simulation als Operationsschablone mit in den Operationssaal zu nehmen.

    Die Aussicht auf ein normales Gesicht hat auch Kerstin Ott überzeugt. Im Februar vereinbart sie einen Operationstermin im Uniklinikum in Freiburg. Weil die Planung des Eingriffs von entscheidender Bedeutung ist, treffen sich alle Beteiligten am Vorabend zur Abschlussuntersuchung:

    Gellrich:
    Morgen ist ja die Operation vorgesehen bei ihnen, sie wissen worum es geht, wir haben ja lange darüber gesprochen. Der Unfall war jetzt genau wann?

    Ott:
    28. Mai.

    Gellrich:
    Wenn sie den Kopf einmal grade drehen, etwas das Kinn nach unten nehmen, wenn sie mal geradeaus zum Fenster schauen, dann sieht man, dass das rechte Auge nicht nur tiefer steht, sondern auch zu weit nach hinten. Das wird deutlich, wenn sie den Kopf einmal ganz nach hinten überstrecken und wir uns die Vorderflächen der Augäpfel anschauen, einmal hier und hier. Dann sieht man, dass das rechte Auge insgesamt zurück liegt. Und wenn sie jetzt mal lächeln, sieht man, dass das Wangenpolster hier tiefer sitzt.

    Und was erwartet Kerstin Ott ganze zwölf Stunden vor dem bevorstehenden großen Eingriff?

    Eigentlich denke ich und hoffe ich, dass es einen Erfolg bringt. Im Moment mache ich mir relativ wenig Sorgen und hoffe einfach nur, dass es wieder etwas wird oder wieder besser wird. Das Risiko ist nicht groß, dass es sich verschlechtert. Dann den Ursprungszustand wieder herzustellen - das wäre schon schön.

    Ein Quantensprung hin zu mehr Sicherheit und vor allem zu einer noch nie da gewesenen Präzision ist das computergestützte neue Freiburger OP-Verfahren auch für den Operateur, der Kerstin Ott am nächsten Morgen auf dem OP-Tisch hat:

    Früher hat man entweder ganz gemäß der klinischen Erfahrung gehandelt oder man hat sich zum Beispiel Hilfsmodelle anhand von Kunstharzmodellen so gemacht, dass man außerhalb des Operationssaales an Kunststoffschädelmodellen Verschiebungen vorgenommen hat, um sich eine dreidimensionale Vorstellung zu machen von dem, was man dann in der Operation tun muss. Das brauchen wir nicht mehr, sondern wir können es jetzt direkt, zeitgleich mit der Operation am Rechner verfolgen, wie dicht wir an dem Optimalziel sind.

    Die Rechnersimulation zeigt ihm genau, wie das rechte Auge nach dem Eingriff wieder am richtigen Platz sitzen soll. Während jeder Phase der Operation liegen diese Daten quasi als dreidimensionale Schablone vor. Doch bevor der eigentliche Eingriff beginnen kann, müssen die errechneten Computerbilder und die reale Situation der Patientin auf dem OP-Tisch zur Deckung gebracht werden. Der Schlüssel in diesem System ist eine Spezialschiene mit insgesamt vier Messpunkten, die der Patientin in den Mund gesetzt wird. Die gleiche Schiene trug Kerstin Ott bereits bei der Computertomographie.

    Mit Hilfe eines Messfühlers bringt Nils Gellrich zunächst die reale Lage der Patientin mit der errechneten Schablone auf dem Computerbild in Übereinstimmung. Erst dann kann die eigentliche Operation beginnen.

    Stunde um Stunde dauert der komplizierte Eingriff, bei dem Kerstin Otts zerborstene Jochbeinknochen mit Hilfe von Titangittern Millimeter für Millimeter wieder aufgebaut werden. Immer wieder kontrolliert Nils Gellrich dabei mit seinem Messfühler, wie nahe er dem Wunschziel auf dem Computerbildschirm bereits gekommen ist. Nach über neun Stunden ist es dann endlich geschafft:

    Der Vorteil dieser Methode ist, dass wir - zurzeit national wie international einzigartig - eine Methode haben, die uns mit einer einzigen Operation das erzielen lässt, was sonst mit drei oder vier Operationen erzielt werden kann. Das zweite ist, dass wir keine zusätzlichen Strahlenbelastungen benötigen, sondern wir können mit einem CT sowohl die Modellkorrektur als auch während der Operation die Kontrolle, wo wir uns befinden, vornehmen.

    Trotz all der neuen Technik im OP bleibt für Gellrichs Kollegen Alexander Schramm die Qualität des Chirurgen natürlich weiterhin ein ganz entscheidender Faktor für das Gelingen der Operation:

    Wie auch früher ist nach wie vor natürlich der gute Operateur der bessere Operateur. Nur jetzt habe ich die Möglichkeit, schon während der Operation mögliche Fehler zu erkennen, die man früher erst nach der Operation erkannt hatte. Das ist der große Vorteil.

    Von den Vorteilen der neuen Methode hat auch Kerstin Ott sichtbar profitiert, als ich sie fünf Monate nach der schweren Operation in Freiburg wieder treffe. Auch wenn die Heilung mit Komplikationen wie unangenehmen Doppelbildern verlief und die Taubheit im Gesicht geblieben ist, Kerstin Otts Bilanz fällt dennoch äußerst positiv aus:

    Mit dem Ausgang der Operation bin ich sehr zufrieden. keine Frage. Ich bin total froh, dass ich es gemacht habe. Klar, am Anfang wurden auch Risiken genannt, außer den Doppelbildern, die auch zu einer Blindheit führen können, und noch Schlimmeres. Dann überlegt man sich ja schon, ob man zu eitel ist oder nicht. Ich bin schon ziemlich dankbar, dass es so gelaufen ist. Das Gesicht ist das was jeder sieht. Man fühlt sich einfach viel wohler, man geht anders durch die Straße, wenn man das Gefühl hat, man wird nicht von jedem angeguckt.

    Und die Leute die mich jetzt kennen lernen, die sagen: Das ist mir gar nicht aufgefallen. Das ist das schönste Feedback, das man kriegen kann, denn die Leute, die einen kennen, die würden einem das ja nie ins Gesicht sagen, weil sie einen ja nicht verletzten wollen.