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Wenn aus Daten Kunst wird

Digitale Kunst fristet ein Nischendasein: Meist wird sie nur als ein Abfallprodukt von Videospielen, Musik- oder Werbeclips wahrgenommen. Nun hat ein weltweit bedeutendes Museum die digitale Kunst gewürdigt. Die Rede ist vom Victoria and Albert-Museum in London.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 27.12.2009
    Überall fiept und blinkt und rattert es, psychedelische Klänge wabern durch die Galerie, und ab und zu ertönt das aufgeregte Lachen einer Besuchergruppe, die wieder herausgefunden hat, wie etwas funktioniert: Hier muss man winken, dort mit den Füßen stampfen oder einen Bildschirm mit der Hand berühren, dann antwortet der Apparat. Es gibt in dieser Ausstellung 35 Apparate. Sie Kunstwerke zu nennen, fällt ein bisschen schwer: vielleicht weil unser Kunstbegriff nicht ausreicht, um solche Werke zu erfassen, vielleicht muss sich unser Verständnisrahmen erst erweitern, und vielleicht ist es das, was die Ausstellung hauptsächlich zeigen will.

    Natürlich kann digitales Design sehr langweilig und kalt und trotzdem faszinierend sein. Irgendwann vor etlichen Jahren hat jeder zum ersten Mal einen Bildschirmschoner gesehen, der virtuos über das Display huschte und sich dabei verfärbte und verformte, dass es eine Freude war. Aber nach wenigen Minuten hatte man genug davon, und heute empfindet man diese elektronisch generierten Grafiken nur noch als nervtötend.

    Manches in dieser Ausstellung sieht ähnlich aus, aber dann erfährt man, dass der Code, der hier vom Computer in die entsprechenden Farbmuster umgerechnet wird, die aktuellen Aktienkurse sind – eine witzige Idee mit dennoch dürftigem ästhetischen Ergebnis. Das gilt wohl für die meisten Apparate-Exponate, wenngleich auf unterschiedlichem technischen Niveau.

    Der Ausstellungskurator Shane Walter erklärt sein Konzept:

    "Man kann die Werke hier auf ganz verschiedenen Ebenen interpretieren. Manche sind sehr gedankenvoll, manche explorieren das menschliche Subjekt, indem zum Beispiel der Körper zum Zeigegerät gemacht wird. Generell ist die Ausstellung dreigeteilt: Zum einen geht es darum, den binären Code als eine Art Rohmaterial zu betrachten, zum anderen geht es um Vernetzung. Die Künstler, die diese Daten sammeln und uns vorführen, helfen uns damit, die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen. Das kann auch sehr poetisch sein."

    Neben dem Code als einer Art Künstlerwerkzeug wie Pinsel oder Farbe und neben der Vernetzung, das heißt, der Überwindung des Raums durch die magische Gleichzeitigkeit der Daten, ist Interaktion das dritte Thema dieser Ausstellung.

    Das Interagieren macht natürlich dem Publikum am meisten Spaß: Wenn man vor einer Displaywand ausladende Bewegungen macht, erscheinen wilde Farbspritzer, als ob man mit einem Eimer Anstrichmittel danach geworfen hätte. Aus einem anderen Apparat glotzt ein Metallauge den Betrachter herausfordernd an, folgt ihm, wenn er sich bewegt, und zwinkert, wenn er zwinkert. Da baut sich eine Spannung auf, die aufs Gemüt wirkt und zu denken gibt; da ist der klassische Kunstbegriff nicht weit.

    Am allermeisten gilt das für den "Weave Mirror" des in New York lebenden Israelis Daniel Rozin. Das ist ein aus 768 Bildpunkten bestehender Spiegel, der das Bild einer vor ihm stehenden Person auf die kompliziertestmögliche Weise wiedergibt: die einzelnen Bildpunkte bestehen nämlich aus elektromechanisch bewegten Walzen, die eine helle und eine dunkle Hälfte haben und sich entsprechend dem von einer Kamera gelieferten Signal einstellen. Die Elektromechanik macht dazu ein Geräusch wie eine Telefonvermittlungsstelle aus der Epoche der Drehhebelwähler.

    Der Reiz der Anlage liegt natürlich in der Verschmelzung des Handfest-Mechanischen mit dem Abstrakt-Digitalen, und die wie gewebt aussehende Oberfläche der jeweils rechtwinklig zueinander eingesetzten Walzen ist ästhetisch durchaus ansprechend. Der matte Messington lässt an ein metallisches Material denken, aber erst bei ganz genauem Hinsehen erkennt man, dass es sich um Papyrus handelt.

    Freilich besitzen nur wenige der gezeigten Arbeiten solche Kommentarkraft. Vieles an der digitalen Kunst ist auch bloß Museumsmurks mit Fun-Faktor. Das will Shane Walter natürlich so nicht akzeptieren:

    "Ernst und Spaß schließen einander ja nicht aus. Obwohl die Ausstellung bedeutungsvoll ist, kommt sie spielerisch daher. Dadurch wird sie für das Publikum viel zugänglicher. Wenn man diesen Sinn fürs Spaßige bedient, bleiben die Dinge länger im Gedächtnis. Das ist eine sehr wichtige Form der Kommunikation."

    Jedenfalls ist es gelungen, eine Branche, die bis jetzt eher auf die Ästhetik von Videospielen getrimmt war, hochkulturell zu akkreditieren. Eine Schau im Victoria and Albert Museum ist nun mal ein Ritterschlag.