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Wenn das Fett zur Krankheit wird

Deutschlands Pädiater schlagen Alarm, Kinder und Jugendliche beklagen typische Altersleiden - noch vor wenigen Jahren ein unbekanntes Phänomen. Während akute Krankheiten immer besser behandelt werden, nimmt die Zahl der chronisch kranken jungen Patienten dramatisch zu: Altersdiabetes, Fettsucht, Allergien... Nicht nur Ärzte müssen sich etwas einfallen lassen.Auch die Eltern können gegensteuern, so der Tenor vieler Experten auf dem Kongreß für Kinder- und Jugendmedizin letzte Woche in Leipzig.

William Vorsatz |
    Alles könnte so schön sein. Keine neuen schlimmen Krankheiten, und in der Intensivmedizin scheint mittlerweile nahezu Unmögliches machbar. Hightech-Apparate messen immer genauer die Körperfunktionen, neue Therapien retten Leben, wo früher kaum Hoffnung war. Dr. Werner Siekmeyer von der Uni-Klinik Leipzig:

    Die größten Fortschritte haben wir sicher im Bereich der Neugeborenen-Intensivmedizin. Da ist es immer mehr möglich, kleinere Kinder mit kleinerem Geburtsgewicht und größerer Unreife zu behandeln vor allem beispielsweise die Behandlung der Lunge, die bei diesen Kinder in der Regel das größte Problem darstellt, weil die Lunge unreif ist, und der Sauerstoffaustausch noch nicht gut möglich ist, da gibt’s jetzt Substanzen, um diese Reife schnell zu fördern dann gibt es neue Beatmungstechniken ...

    Diese Apparate etwa pumpen bei schweren Lungenentzündungen nicht mehr die üblichen drei Liter Atemluft in den Körper. Um die Lungenblässchen zu schonen, führen sie nur kleinste Mengen Luft zu, bei acht Atemstößen pro Sekunde. Und künftig will Dr. Siekmeyer die angegriffenen Lungen gar mit Flüssigkeit füllen und dann beatmen, noch mehr Entlastung.

    Knochenmarkstransplantationen machen wir jetzt auch, und das ist ein Bereich, in dem besonders schwere Infektionen auftreten. Und die zu erheblichen Beeinträchtigungen aller Organsysteme führen können. Das heißt, wir behandeln gleichzeitig zum Beispiel die Niere, weil wir eine Dialyse brauchen. wir behandeln das Herz, weil die Pumpfunktion nicht mehr ausreicht, wir behandeln die Leber, weil die Produktion von körpereigenen Substanzen, Gerinnungssubstanzen beispielsweise, nicht mehr funktioniert.

    Gelegentlich fragt sich Siekmeyer allerdings auch nach dem Sinn solcher Therapien. Oft überleben die Patienten nur mit schwersten Behinderungen. In anderen Fällen sind alle Versuche vergebens, das Kind sowieso zum Sterben verurteilt.

    Und wie lange darf sich so etwas hinziehen ohne dass man jetzt sagen muss, da wird die Wohltat zur Plage. Auch in einem anderen Bereich: Neonatologie zum Beispiel, wie klein ist zu klein. Wann machen wir eigentlich was und wann müssen wir sagen, das ist ein Kind, das jetzt wirklich keine Chance hat. Die Grenzen haben sich ja in den letzten Jahren immer weiter nach unten bewegt, und die Frage, wo hört man auf, ist fließend zu beantworten. Bei jedem Patienten muss man diese Frage immer wieder neu stellen

    Viele Ärzte fühlen sich angesichts solcher Entscheidungen überfordert, die Gesellschaft ist gefragt. Dies gilt auch bei chronischen Erkrankungen: denn die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen ist längst aus dem Lot. So hat sich die Zahl der Übergewichtigen und Fettsüchtigen in Ballungszentren seit den 80er Jahren verdoppelt und nimmt weiter dramatisch zu. Heute ist bereits jedes sechste Kind in Deutschland zu dick, warnt Dr. Martin Wabitsch von der Universität Ulm.

    Und 7-8 Prozent aller Kinder sind krankhaft übergewichtig, haben Adipositas.

    Zu deutsch: Fettsucht. Gleichzeitig lässt die motorische Geschicklichkeit seit 20 Jahren bei allen Kindern nach. Bewegungsmangel, Reizüberflutung und zu energiereiche Kost wirken zusammen desaströs. Und die Übergewichtigen werden immer schwerer:

    Die Folgen daraus sind, dass Krankheiten, die wir bei Erwachsenen kennen, übergewichtigen Erwachsenen, jetzt auch bei Kindern schon finden. Dazu gehören typische Alterserkrankungen wie Typ2-Diabetis, Gelenkverschleiß-Erkrankungen, Hypertonie, also Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und auch Atemstörungen, Schlaf-Apnoe-Syndrom bei den extrem Übergewichtigen, alles Krankheiten, die man normalerweise nur aus der Erwachsenenmedizin kennt, und die jetzt bei Kindern, Jugendlichen auftreten, aufgrund ihres zunehmenden Körpergewichts.

    Weil sie neu sind, werden diese Alterskrankheiten bei Kindern und Jugendlichen oft zu spät entdeckt. Blutdruck, -zucker und Fettwerte müssten schon bei jüngeren Übergewichtigen regelmäßig überprüft werden, fordern die Kinderärzte. Und raten neben gesünderer Nahrung vor allem zu mehr Bewegung. Dr. Wabitsch:

    Es geht sicher nicht um Sporttreiben. Das will ich betonen. Da gibt es auch gute Untersuchungen dazu, die Tastsache, dass, wenn man drei mal in der Woche Sport treibt, dadurch wenig Auswirkungen auf das Gewicht hat. Das ist das, was sie sagen. Sondern die Bewegung in den Alltag mit einbeziehen. Das heißt Treppen statt Rolltreppen benutzen. Oder anstelle von 3 Stunden Fernsehen einen Stunde Fernsehen und 2 Stunden Ballspielen und Spazieren gehen.

    Neben Fettsucht sind auch die Allergien auf dem Vormarsch und manifestieren sich früh. Etwa achtzig Prozent aller Asthmaerkrankungen beispielsweise beginnen bereits im Jugendalter. Aber auch hier können die Eltern für ihre Kinder rectzeitig etwas tun. Oft sind es ganz einfache Dinge. Der Münchner Allergologe Walter Dorsch:

    Möglichst lang stillen, möglichst ein halbes Jahr ausschließlich stillen, späte Zukost in Form von Eiern, Nüssen und Fisch, keine unbearbeitete Kuhmilch innerhalb des ersten Lebensjahres. Nicht Rauchen, kein Halten von Haustieren in engen räumlichen Verhältnissen.

    Gegen Neurodermitis haben die Russen schon seit je her Fasten und Kefir empfohlen. Mittlerweile ist die immunisierende Wirkung bestimmter Lactobazillen bewiesen. Gerade bei chronische Erkrankungen mit schlechten Prognosen experimentieren viele Eltern und greifen auch zu alternativen Verfahren. Nach jahrelanger Forschung jedoch warnt Professor Dorsch: Ob beispielsweise Auspendeln, Bioresonanz-, oder Eigenbluttherapien: einen wissenschaftlich belegten Erfolg hat bisher niemand nachgewiesen. Doch: gerade bei den chronischen Kinderkrankheiten gibt es noch viel Forschungsbedarf.

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