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Wenn das Ungeborene mittrinkt

Nur 20 Prozent der Frauen trinken während der Schwangerschaft überhaupt keinen Alkohol. Über acht Prozent haben einen starken bis riskanten Alkoholkonsum. Die Folge: Nach dem Down-Syndrom ist das Fetale Alkoholsyndrom die häufigste angeborene körperliche und geistige Behinderung bei Säuglingen. Doch das Problem Alkohol in der Schwangerschaft ist bei der Schwangerschaftsvorsorge sowie bei den meisten Geburtsmedizinern und Kinderärzten nicht im Focus der Aufmerksamkeit.

Von Henning Mielke |
    Marvin saust mit seinem Bobbycar den Flur entlang. Dass Marvin heute lebt, spielt und lacht, grenzt an ein Wunder. Seine Mutter war schwer alkohol- und drogenhabhängig. Während der Schwangerschaft wurde Marvins Zentralnervensystem durch den Suchtmittelkonsum im Mutterleib irreversibel geschädigt. Weil seine Mutter Marvin nicht behalten wollte, kam er in eine Pflegefamilie. Das Jugendamt gab seiner Pflegemutter, Marita Albrecht, keinerlei Information über die Ursachen von Marvins Schwerst-Mehrfach-Behinderung. Doch es wurde ihr schon bald klar: Mit Marvin stimmt etwas nicht.

    " Er hat Gedeihstörungen, er wächst nicht so schnell wie andere Kinder, ist zu klein für sein Alter, hat einen zu kleinen Kopf. Seine Wahrnehmungsstörungen äußern sich dahingehend, dass er Autoaggressionen hat. Er schlägt dann mit dem Kopf auf die Fliesen, ganz heftig. Manchmal bis er verletzt ist. "

    Zwei Jahre lang versuchte Marita Albrecht herauszufinden, an welcher Störung Marvin leidet. Der Kinderarzt schickte den Jungen von einem Therapeuten zum nächsten - ohne Erfolg. Erst vor kurzem stolperte Marita Albrecht im Internet über eine Website über Kinder mit alkoholbedingten Behinderungen. Ein Besuch beim Experten brachte endlich Gewissheit: Marvin leidet an vorgeburtlichen Alkoholschädigungen, sogenannten Fetalen Alkoholeffekten. Mit seinen dreieinhalb Jahren ist er auf dem Entwicklungsstand eines Zweijährigen. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr ca. 10.000 Kinder geboren werden, die an gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums ihrer Mütter während der Schwangerschaft leiden. Prof. Hans-Ludwig Spohr, langjähriger Chefarzt der Kinderklinik an den DRK Kliniken Berlin Westend:

    " Wir wissen, dass der Alkohol ein Mitosegift ist, ein Zellteilungsgift. Deswegen sind die Kinder zu klein, das Gehirn ist zu klein. Insgesamt ist es ein Gift, gegen das sich das Embryo sich nur ganz schlecht wehren kann. Die Mutter verstoffwechselt das und das Kind wird überflutet - in dem selben Maß wie die Mutter- vom Alkohol, und es kann nicht selber entgiften. "

    Die Alkoholvergiftung im Mutterleib kann für die Kinder lebenslange Folgen haben: Sie sind hyperaktiv, haben Intelligenzmängel und Lernschwächen. Ein eigenständiges Leben als Erwachsene ist für die meisten von ihnen nicht möglich. In besonders schweren Fällen kommt es auch zu äußerlich sichtbaren Gesichtsstigmata wie verengten Lidspalten, schmalen Oberlippen, und tiefsitzenden Ohren. Das deutlichste Symptom einer alkoholbedingten Schädigung ist die Mikrozephalie, ein deutlich zu kleiner Schädel des Kindes. Doch es ist außerordentlich schwierig, ein Fetales Alkoholsyndrom oder die äußerlich weniger sichtbare Form der Fetalen Alkoholeffekte zu diagnostizieren. Aufklärung bei den Geburtsmedizinern und Kinderärzten wäre nötig, um ein Problembewusstsein für Alkoholschädigungen im Mutterleib zu schaffen. Aber auch bei den Jugendämtern, die die alkoholgeschädigten Kinder in den allermeisten Fällen in Pflegefamilien vermitteln, versickert viel zu oft die wichtigste Information: der mütterliche Alkoholmissbrauch. Der Fall von Marvin ist symptomatisch.

    " Man erhält ganz wenig Informationen über die Herkunfsfamilie, über die Schwangerschaft, die Geburt, der Gesundheitszustand der Eltern. Man wird schlecht vorbereitet, muss sich vieles selbst erkämpfen. Und gerade bei solchen Kindern wie unserem Kleinen finde ich das furchtbar. Wenn man sich da überhaupt nicht auskennt, da kann ich mir vorstellen, dass es da viele Pflegeeltern gibt, die da resignieren. "

    Pflegeltern für Kinder mit fetalen Alkoholschädigungen brauchen Marathonqualitäten, meint Hans-Ludwig Spohr. Und sie sind die wichtigste Therapie.

    " Sie geben diesen hibbeligen, ängstlichen, deprivierten Kindern schon ganz früh das Gefühl, dass sie eine Bindung entwickeln können. Sie geben ihnen einen festen Lebensrahmen und immer wieder Liebe, um ein Urvertrauen wiederzugewinnen. Das können Pflegeeltern besser als jede Therapie "

    Seit Marvin bei seiner Pflegefamilie ist, hat er sich gut entwickelt. Marita Albrecht ist fest entschlossen, den Marathonlauf durchzuhalten. Doch auch für sie ist überdeutlich: In Deutschland herrscht ein Informationsdefizit in puncto Alkohol während der Schwangerschaft.

    " Ich wünsche mir, dass auch Schwangere Frauen den Mut haben, ihren Gynäkologen zu sagen, dass sie ein Alkoholproblem haben. Dass sie darauf aufmerksam gemacht werden, was für Folgeschäden das haben kann. Dass Kinderärzte immer und immer wieder die Möglichkeit haben, sich zu informieren, das vermisse ich, weil wir als Pflegeeltern noch mehr Laie sind als diese Leute, und wir drauf angewiesen sind, Hilfe zu bekommen. "