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Wenn der Arztbesuch zum Luxus wird

Frankreichs Gesundheitssystem sei das beste der Welt, lobt die französische Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot. Eine geschönte Wirklichkeit, der sich die Politikerin regelmäßig bedient. Etwa wenn sie Personalabbau in französischen Krankenhäusern ankündigt oder höhere Zuzahlungen bei Medikamenten verteidigt.

Von Margit Hillmann | 26.01.2010
    In einem überfüllten Saal des Pariser Krankenhauses Saint Louis warten Patienten darauf, dass sie aufgerufen werden. Sie brauchen Geduld. Es geht nur langsam voran, denn es fehlt an Personal. Aber niemand beschwert sich. Die Leute sind froh, wenn sie einen Arzt finden, der sie behandelt, obwohl sie nicht zahlen können, weiß Krankenhausärztin Brigitte Georges:

    "Die Patienten, die zu uns kommen, haben zu große finanzielle Probleme, um sich anderswo eine medizinische Behandlung leisten zu können. Besonders die Patienten, die keine Sozialversicherung haben."

    Die sozialmedizinische Abteilung ist eigentlich gedacht für Patienten ohne Krankenversicherung. Doch seit einiger Zeit sieht Krankenhausärztin George eine andere Gruppe von Patienten vermehrt in ihre Sprechstunde kommen: Arbeitslose oder Berufstätige mit geringem Einkommen, die schlecht versichert sind:

    "Wir sehen diese Patienten jetzt öfter. Es ist eine Tendenz, von der auch Kollegen anderer sozialmedizinischer Einrichtungen berichten. Bei uns machen schlecht versicherte Patienten inzwischen fünf bis zehn Prozent aus. Wir stellen fest, dass sie später und seltener zum Arzt gehen, teure Untersuchungen hinausschieben und Schwierigkeiten haben, vom Arzt verschriebene Medikamente zu bezahlen. Sie kommen dann wieder und sagen, dass sie ihre Medikamente nicht kaufen konnten. Diese Probleme tauchen jetzt öfter auf."

    In Frankreich erstattet die gesetzliche Krankenkasse bestenfalls 75,5 Prozent der Arztrechnungen, Medikamente und Laboruntersuchungen, durchschnittlich aber nur gut 50 Prozent der Kosten. Für die Mehrheit der Franzosen ist das noch kein Problem: Sie haben eine freiwillige Zusatzversicherung: Die deckt das Restrisiko ab und zahlt - je nach Beitragshöhe – auch bei Zahnproblemen, für Brillen oder Krankenhausaufenthalte. Doch rund sieben Prozent der Franzosen können sich monatlich 50 Euro oder mehr für eine private Zusatzversicherung nicht leisten. Anderseits verdienen sie zu viel, um als Sozialfall freigestellt zu werden. Sie müssen mindestens ein Drittel der Behandlungskosten aus eigener Tasche finanzieren.

    "Wir haben in Frankreich längst eine Zwei-Klassen-Medizin", sagt Annie Thébaud-Mony, Soziologin am Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung, kurz INSERM.

    "Dem einzelnen Kranken werden immer mehr Behandlungskosten aufgebürdet. Und je niedriger das Einkommen der Patienten, umso größer sind ihre Schwierigkeiten, das nötige Geld aufzubringen. Ein weiteres Indiz für die schwindende Solidarität: die sozial Schwächsten der Gesellschaft haben immer mehr Mühe, einen Arzt zu finden. Zwar übernimmt die gesetzliche Krankenkasse ihre Behandlungskosten zu 100 Prozent, doch sind die von der Kasse veranschlagten Honorare vielen Ärzten zu niedrig. Einer von drei Ärzten lehnt diese Patienten grundsätzlich ab."

    Um möglichst wenig dazuzuzahlen, gehen viele Franzosen zur ambulanten Behandlung ins Krankenhaus. Dort wird der Honorarrahmen der gesetzlichen Krankenkassen eingehalten, Sozialfälle werden nicht abgelehnt. Doch sind die staatlichen Krankenhäuser diesem Ansturm nicht mehr gewachsen. Sie schreiben tiefrote Zahlen und leiden unter Personalmangel.

    "Die Überlastung der Krankenhäuser ist enorm. Wenn Sie in die Notaufnahme gehen, warten Sie etliche Stunden, selbst kleine Kinder und alte Leute. Die Ärzte kommen einfach nicht nach, können nicht alle Patienten annehmen. Nicht mal in akuten Notfällen, weil sie nicht genügend Betten beziehungsweise nicht das Minimum an Krankenschwestern haben, um die Patienten zu versorgen."

    Mit den Sparplänen und der eingeleiteten Krankenhausreform der französischen Regierung wird es mit dem bereits angeschlagenen Gesundheitssystem weiter bergab gehen, ist INSERM-Soziologin Thébaud-Mony überzeugt:

    "Hauptanliegen der Regierung ist es, die wirtschaftlichen Akteure des französischen Gesundheitswesens zu unterstützen, zum Beispiel die Pharmaindustrie. Um eine angemessene Gesundheitsversorgung der Bevölkerung kümmert sie sich immer weniger."