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Wenn der Kopf erkältet ist

Den Deutschen wird, wenn sie traurig sind, das Herz schwer - Angst schlägt Franzosen auf die Leber. Kulturelle Prägungen können auch bei psychischen Erkrankungen eine Rolle spielen. In einer Zuwanderergesellschaft gilt es, diese Unterschiede zu erkennen und mit der Erkenntnis Diagnose und Therapie zu verbessern.

Von Martin Winkelheide | 14.12.2010
    Die Psychotherapie über Kulturgrenzen hinweg, die transkulturelle Psychotherapie, ist eine junge Disziplin. Zu Beginn, vor etwa 20 Jahren, stand ein Unbehagen, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Wielant Machleidt.

    Mediziner und Psychotherapeuten schienen gerade bei Menschen aus der Türkei an ihre Grenzen zu stoßen:

    "Es kommt zu vielen Therapieabbrüchen, es kommt zu Missverständnissen. Und da sind dann eben Reflexionen in Gang gekommen: Woran liegt denn das?"

    Ein Problem: Die Krankheitszeichen richtig zu deuten. Bei Bauchschmerzen etwa, nicht allein die Organe zu untersuchen, sondern auch an seelische Probleme zu denken. Also Ursachen für Beschwerden zu finden, die sich in ungewohnten Bildern äußern. Etwa: "Ich habe mir den Kopf erkältet".

    "Ein Metapher dafür, 'Ich bin depressiv'. Oder 'Meine Galle platzt'. Dann hat jemand einen Schreck bekommen. Oder irgendetwas ist anders und ich fühle mich nicht wohl, das heißt, die Organe sind nicht mehr an dem Platz, sie sind verrückt, ver-Bindestrich-rückt, nicht verrückt."

    Kulturelle Prägungen spielen eine Rolle, sie sollten aber nicht überbetont werden, sagt der Psychotherapeut Ibrahim Özkan von der Ambulanz des Asklepios Fachklinikums Göttingen:

    "Das sieht man vielleicht in der ersten Generation der angeworbenen Migranten, der sogenannten früheren Gastarbeiter vielleicht noch so, sollte dann aber gleichzeitig mit berücksichtigen, dass diese Menschen ein Medizinverständnis haben, von der Zeit, zu der sie nach Deutschland gekommen sind – vor 40 Jahren mittlerweile schon."

    Nach Ansicht von Özkan besteht die Gefahr, Patienten zu schnell in eine Schublade zu stecken und falsch zu behandeln. Ein Beispiel:

    "Wenn jemand über Ängste berichtet hat, dass der Therapeut gesagt hat: Diese Frau ist schwer belastet durch ihre eigene Kultur, sie ist türkischer Herkunft, darf nicht heraus, sie fühlt sich eingeengt. Und hat das dann eher als eine depressive Störung, ängstlich depressive Störung einsortiert, und dann vielleicht auch gar nicht mehr nachgefragt, wovor sie Angst hat. Hätte er sie befragt, wovor sie Angst hat, hätte er vielleicht noch herausbekommen, dass sie Angst vor den Käfern hat, die an ihr hoch krabbeln und im Grunde auch psychotische Symptome auch dargestellt hat."

    Statt an einer Depression litt die Frau unter einer Psychose. Solche Fehldiagnosen können vermieden werden, wenn Therapeuten genau hinhören und nachfragen. Ibrahim Özkan sieht seine Zunft hier auf einem guten Weg.

    "Die Sensibilität nimmt ständig zu und viel mehr Kollegen sind bemüht, gerade aus diesen Stereotypisierungen heraus zu kommen und eine adäquate, eher individuell orientierte, die Kultur akzeptierende tolerante Behandlung durchzuführen."

    Ein praktisches Hindernis für eine gute Behandlung ist oft die Sprache, sagt die Psychotherapeutin Irmgard Demirol aus Wien. Sie spricht fließend Türkisch:

    "Es ist von mir sicher in Schritt, den Klienten ein Stück entgegen zu kommen."

    Ihr Motto: Psychotherapie ist nicht, wie einkaufen gehen.

    "Meine Klienten formulieren das so: Auf Deutsch kann ich mich nicht erklären. Ich kann mein Inneres nicht erklären. Und genau um das geht es in der Psychotherapie. Es geht um innere Vorgänge, die sehr differenziert sind, es geht um Gefühle, es geht auch um die Reflexion dessen, was in meinem Inneren vorgeht."

    Nun wird nicht jeder Therapeut Türkisch lernen können. Aber ihrer Ansicht nach sollte es die Möglichkeit geben, einen neutralen Dolmetscher dazu zu ziehen. Eine häufige Praxis, Bekannte, Verwandte oder sogar die eigenen Kinder dolmetschen zu lassen, hält Irmgard Demirol für problematisch:

    "Zum einen geht es dabei wirklich auch um sehr persönliche, sehr intime Dinge und Erfahrungen, auch Dinge, die man vielleicht nicht gerade Familienmitgliedern erzählt, Kindern erzählt, oder Freunden, Bekannten, Verwandten erzählt. Es geht ja auch um Geheimnisse in der Psychotherapie."

    Solche Geheimnisse sollten die psychotherapeutische Praxis nicht verlassen. Denn das ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung.