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Wenn der Meeresspiegel ansteigt

Lebensräume zu erhalten, wenn der Meeresspiegel steigt, ist auch ein Anliegen in Europa. So zum Beispiel an den Küsten, wo Millionen von Menschen leben und arbeiten und natürlich auch ihr Hab und Gut gegen die Naturgewalten sichern wollen. Dafür gibt es die Deiche. Nur halten die den möglicherweise künftig härteren Anforderungen nicht mehr stand und müssen deshalb vorsorglich erhöht und verbreitert werden.

Von Andreas Klose |
    Es stürmt an der Nordseeküste. Die Deiche halten stand aber der Meeresspiegel steigt an und das Wasser flutet bei Neßmersiel in Ostfriesland über den Deich. In diesem Fall ist das gewollt, der Deich wurde an der Landseite extra verstärkt. Das eindringende Wasser wird von der zweiten Deichlinie zurückgehalten und kann nicht weiter in das Hinterland strömen. Der Hauptdeich erfüllt so seinen Zweck ohne erhöht worden zu sein, erläutert Frank Ahlhorn, Meeresumweltwissenschaftler vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg:

    "Dadurch, dass die Deiche erhöht werden, werden sie in der Regel auch breiter und wenn sie breiter werden dann brauchen sie auch mehr Platz. Das ist an vielen Stellen ein Problem, weil direkt hinter den Deichen gebaut worden ist. Da hat man sich überlegt, ob man wirklich die ganze Last dem einzigen Element nämlich dem Hauptdeich zumuten muss und ob man nicht vielleicht zusätzliche Schutzelemente im Binnenland einfügen kann, das heißt alte Deichlinien wieder reaktivieren, das sind zweite Deichlinien, die es aus früheren Zeiten gibt. In den Niederlanden ist es aber auch so, dass vorhandene Infrastruktur genutzt wird, das heißt es gibt Straßen, es gibt Schienen, die liegen im Binnenland, die liegen höher, die sind als zusätzliche Schutzlinien zu nutzen. "

    Comcoast heißt das Projekt der Europäischen Union. Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Deutschland haben Konzepte für mehrfach nutzbare Küstenschutzzonen erarbeitet. Die Kosten liegen bei insgesamt sechs Millionen Euro. Die Universität Oldenburg als Projektpartner hatte sich für Neßmersiel entschieden, da hier entsprechende Vorrausetzungen vorliegen:

    "Wir haben vom Wattenmeer aus gesehen ein breites Vorland, also die sogenannte Salzwiese. Dann befindet sich darin ein Sommerdeich. Zwischen Sommerdeich und Hauptdeich finden sie dann einen Sommerpolder. Nach dem Hauptdeich kommt dann noch eine zweite Linie und der Bereich zwischen Hauptdeich und zweiter Deichlinie, der wird als Polder landwirtschaftlich genutzt. Wir haben also schon einen flächenhaften Schutz, der sehr gut ausgestattet ist und für uns ging es jetzt darum, wie können Küstenschutz und andere Nutzer, eben Tourismus, Nationalpark, Naturschützer; Landwirtschaft miteinander neue Konzepte für die Zukunft im Bereich des Küstenschutzes entwickeln. "

    Unter der Annahme, dass der Meeresspiegel bis 2050 um 30 Zentimeter ansteigt, wurden drei Szenarien A,B und C entwickelt, die das Deichvor- und hinterland zum Spielfeld für verschiedene Vorhaben werden lassen. In A wird das Land nicht überflutet, die Menschen können den Küstenstreifen wirtschaftlich nutzen. Sie betreiben Biogas- und Windkraftanlagen. Naturerlebnispfade erschließen das Deichgebiet touristisch. Unter dem Eindruck von zwei Naturkatastrophen wird in B lediglich der Hauptdeich verstärkt. Zurückgedrängt wird aber der Naturschutz, da der Parkplatz für den Inselverkehr nach Baltrum vergrößert wird und Landwirte ihre Flächen stärker bewirtschaften. Szenario C bietet nachhaltige Handlungsperspektiven an. Überlegt wird beispielsweise den vorgelagerten Sommerdeich einzureißen. Ebbe und Flut renaturieren auf dem Weg das Vorland. An bestimmten Stellen kann dann auch gezeltet werden. Das ist im Sinne des Tourismus. Und nachdem zwei Sturmfluten den Deich überflutet haben, bietet das Hinterland weiteren Entwicklungsraum.

    "Darüber hinaus hat auch die Landwirtschaft gesagt, ach ja wenn wir jetzt vielleicht mal ein bisschen Wasser hinter dem Deich haben, wäre es ja auch eine Möglichkeit, dass wir in einem Bereich einmal verschiedene Formen von Pflanzen anbauen, also zum Beispiel salzresistente oder salztolerante Pflanzentestfelder machen. Das ganze wird dann kombiniert und das ist eben der wichtige Punkt in C, dass da auch zum Beispiel Lehrpfade und so weiter durchgehen. "

    Touristen können auf den Pfaden gehen und sich informieren. Vorstellbar ist, dass Wirtschaft und Industrie Interesse zeigen. Denn anbauen lassen sich auch Pflanzen, die in einer Biogasanlage Energie erzeugen. Neben die Felder werden Windkraftanlagen gestellt. Die Energie aus Biogas und Windkraft reicht dann aus, um die gesamte Gemeinde Neßmersiel zu versorgen, so die Vision von Frank Ahlhorn. Das alles geht nur mit den Menschen vor Ort. In dem Fall trafen sich Küsten- und Naturschützer, Verwaltungsangestellte und Landwirte zu Gesprächen. Dadurch werden Nutzungskonflikte vermieden und andere Regionen erschlossen, sagt Meeresbiologe Dietmar Kraft von der Universität Oldenburg. Denn das Projekt zeigt eines deutlich:

    "Es geht, dass man miteinander redet, dass man diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und auch das, was Verwaltungspraxis oder Alltagspraxis ist, zusammenträgt und dann in anderen Gebieten auch einsetzen kann. Also selbst wenn Neßmersiel etwas ist wo es sehr gut funktioniert, gibt es ja auch Regionen zum Beispiel am Jadebusen, wo es sehr deutliche Probleme gibt und wo diese quasi Fingerübung, dass es in diesem Projekt funktioniert hat, ein gutes Beispiel dafür ist, wie man in einer konkreten anderen Situation damit umgehen kann."

    Die EU und das Land Niedersachsen hat die Vorgehensweise überzeugt. Bewilligt wurde ein weiteres Projekt, das sich mit dem Landkreis Wesermarsch beschäftigt. Hier muss Niedersachsen Millionen investieren, um die Küste zu sichern.