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Wenn der Schulbetrieb krank macht

Ausgebrannt vom Schulalltag und damit unfähig zu arbeiten. Wie vielen Lehrern es in Berlin genauso geht, ist unbekannt. 1450 Lehrer sind zurzeit dauerkrank gemeldet - fast doppelt soviel wie noch vor vier Jahren

Von Anja Nehls | 05.10.2010
    Noch immer ist Martina das Ende ihrer Zeit als Lehrerin unangenehm. So peinlich, dass sie ihren vollen Namen nicht nennen möchte. Vor vier Jahren ließ sich die heute 61-Jährige vorzeitig in Rente schicken. Depressionen, Burn-out. Weder vor Ärzten oder Kollegen noch vor sich selber wollte sie das damals zugeben:

    "Na, das konnte man vor allem deshalb vor sich selbst nicht eingestehen, weil man Kollegen gegenüber sich nicht öffnen konnte. Ich war sicher, dass auch andere mit dieser brisanten Thematik nicht so gut fertig wurden, aber jeder machte seine Klassentür zu und versuchte irgendwo den anderen nicht Einblick nehmen zu lassen in das wirkliche Geschehen."

    Martina liebte ihren Beruf und lernte extra Türkisch, um an ihrer Schule mitten im Kreuzberger Brennpunkt soviel wie möglich bewegen zu können, aber irgendwann nahm der Frust überhand.

    "Ich empfand als allergrößten Stress den täglichen Neubeginn mit den Kindern, von denen man meinte nach dem vortäglichen Gespräch und langen und ausführlichen Bemühungen ein bisschen den Weg aufgezeigt zu haben und die erschienen am nächsten Morgen mit genau derselben Problematik."

    Sie reagierte mit Schlafstörungen, nahm die Probleme mit nach Hause und klappte irgendwann völlig zusammen:

    "Nachdem dann irgendwann das Einschlafen nicht nur schwierig war, sondern auch das Durchschlafen und ein Schlafdefizit über Monate und Wochen entstanden war, hatte ich irgendwann das Empfinden, dass ich eigentlich im Unterricht noch ganz gut tauglich war, sobald es aber in die große Pause ging ich irgendwie das Gefühl hatte zusammenzuklappen. Das wirkliche anfängliche Zusammenbrechen passierte in dem Moment, wo Unterrichtsschluss war, die Schüler verließen den Klassenraum und ich selber blieb dann noch lange, lange am Schreibtisch sitzen und merkte gar nicht wie viel Zeit vergingt bis dann der Schulhausmeister irgendwann so gegen 15.30, 16 Uhr fragte, was denn los sei."

    Irgendwann ließ sie sich krankschreiben, viel später dann verrenten. Eine typische Geschichte, meint Peter Sinram von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft:

    "Sehr oft fallen die raus, die einen unheimlich hohen Anspruch an sich selbst haben, die alles genau richtig machen wollen, die den Schülerinnen und Schülern gerecht werden wollen, die einen guten Unterricht machen wollen und die es einfach nicht hinkriegen."

    Wie vielen Lehrern es in Berlin genauso geht, ist unbekannt. 1450 Lehrer sind zurzeit dauerkrank gemeldet fast doppelt soviel wie noch vor vier Jahren. In der Berliner Schulverwaltung wird allerdings bezweifelt, dass der Anteil an psychischen Erkrankungen darunter besonders hoch ist, sagt die Sprecherin Beate Stoffers.

    "Wir denken, dass ein Grundmissverständnis hier in Berlin besteht, dass man Krankheiten bei Lehrern immer berufsbedingt auslegt. Wir gehen natürlich davon aus, dass ein Großteil der Lehrer wirklich dauerkrank ist und gar nicht wieder eingesetzt werden kann."

    Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht das anders. Die Anforderungen sind gestiegen, die Stundenzahl der Lehrer ist mehrmals erhöht worden, die Kinder sind schwieriger geworden und das Durchschnittsalter der Berliner Lehrer beträgt gut 50 Jahre. Mit einer Reduzierung der Arbeitszeit für ältere Lehrer ließe sich das Problem in den Griff bekommen, meint Peter Sinram von der GEW:

    "Wenn die Kolleginnen und Kollegen länger arbeiten könnten, wäre das langfristig billiger, als sie alles in die Pension zu schicken und es geht ja unheimlich Menge an Fachwissen, an Kompetenz und Erfahrung von heute auf morgen weg. Und die älteren könnten den jüngeren sehr viel weitergeben. Aber wenn die krank zuhause sind, ist das abgeschnitten."

    Zurzeit geht der Berliner Senat davon aus, dass der Ersatz langzeitkranker Lehrer jährlich 50 Millionen Euro kostet. Und: erst nach drei Monaten gilt ein Lehrer als dauerkrank - bis dahin fällt der Unterricht für die Schüler häufig erstmal aus.