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Wenn der Staat zuviel schützt

Über 100 Einzelgesetze sind in der Bundesrepublik nach dem verheerenden Anschlag auf das World Trade Center in New York geändert worden. Ziel war und ist es laut den Herausgebern Stefan Huster und Karsten Rudolph, dem drohenden islamistischen Terror auch hier zu begegnen. Zitat von der Internetseite des Suhrkamp-Verlages: "Lebt Schäuble Orwellsche Überwachungsphantasien aus? Sind seine Gegner naiv? Wie weit darf der Staat gehen, um seine Bürger zu schützen?" Hubert Maessen mit den Antworten.

14.07.2008
    Es ist erstaunlich, wie leicht sich eine mutmaßliche Kampfschrift in ein lesenswertes Buch verwandeln kann. Bei dem in der "edition suhrkamp" violett erschienenen "Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat" geschieht das durch einfaches Aufschlagen, denn dann erscheint der Titel mit einem nützlichen Fragezeichen über der Einleitung der Herausgeber: Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat? Man ist beruhigt und gespannt. Noch ist es keine beängstigende Feststellung, noch ist es eine Frage, auf die geantwortet werden kann.
    Und muss, das versteht sich. Denn es ist, wie die Herausgeber bemerken, seit dem 11. September 2001 eine "Gesetzgebungslawine" in Gang gekommen, mit der vom Staat in einem "beispiellosen Kraftakt" auf die die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus reagiert wurde.

    "Die wissenschaftlichen Dienste des Parlaments haben bis zum Dezember 2007 ungefähr 20 neue gesetzliche Regelungen des Bundes ausgemacht, die nach den Anschlägen vom 11. September das Parlament passiert haben. Allein im Zuge der ersten zwei Artikelgesetze, die in Absprache mit den Ländern entworfen wurden, sind in einem ersten großen Schub über 100 Einzelgesetze in Deutschland geändert worden."

    Und viele andere mehr wurden beschlossen, außerdem Zustimmungsgesetze zu internationalen Abkommen. Weiteres steht an, beispielweise das vom Kabinett schon beschlossene BKA-Gesetz, welches im Herbst vom Parlament verabschiedet werden soll. Zur Abwehr internationalen Terrors soll das Bundeskriminalamt weitreichende Befugnisse erhalten, es soll auch vorbeugend ermitteln können, Stichwort: Gefahrenabwehr. Da ist sie handgreiflich, die titelgebende Melange aus Rechtsstaat und Präventionsstaat, die polemische Variante heißt "Überwachungsstaat" und befürchtet, dass die Demokratie" höchst gefährdet sei, durch ihn mehr als durch den rechtfertigenden Terrorismus.
    Der von den Bochumer Hochschullehrern Huster und Rudolph herausgegebene Sammelband vermeidet die Alarmstimmung zugunsten einer erhellenden Untersuchung der Sache; er verleugnet eine gewisse Besorgnis nicht, was auch wohltuend ist, aber lässt sich den Blick nicht durch feuchte Augen trüben. Es herrscht bei den Autoren eine Ausgewogenheit, wie man sie nur noch bei öffentlich-rechtlichen Anstalten vermuten würde: es äußern sich zu Theorie und Praxis 13 Autoren, von denen 6 Politiker sind oder waren, 7 Beiträger kommen aus der Wissenschaft. Untersucht werden vier Komplexe:

    "1.Sicherheit und Sicherheitsdenken im Zeitalter des neuen Terrorismus
    2.Die Aufgabe des Rechtsstaates im Kampf gegen den Terrorismus
    3.Freiheit, Sicherheit und Politik
    4.Wie viel Wissen braucht der Rechtsstaat?"

    Unter diesen vier Groß-Themen werden die wichtigsten Aspekte von Sicherheitsstreben des Staates und Freiheitsrechten der Bürger behandelt, und von den aus der Wissenschaft kommenden Autoren mit deutlicher Kompetenz und erfreulicher Präzision, durchaus auch mit Standpunkten, ohne aufdringlich zu sein. Es sind in der Mehrzahl Professoren des Öffentlichen Rechts, assistiert von Vertretern der Politologie und der Geschichtswissenschaft. Ergänzt wird diese Theorie-Fraktion von den sogenannten Praktikern, also Akteuren gegenwärtiger Politik, die nicht nur über die Sicherheitsgesetze schreiben, sondern diese auch selber formulieren und in die Gesetzbücher bringen. Und da ist man doch peinlich berührt, dass ihre Beiträge in dem Suhrkamp-Taschenbuch nicht über die in der politischen Auseinandersetzung geübte pamphletistische Primitivität oder sagen wir kulanter: über die schreckliche Einfachheit nicht hinauskommen, was nicht an Unvermögen liegen dürfte, sondern an der puren Absicht. So macht man eben Politik. Und das betrifft alle in diesem Band versammelten Vertreter der staatstragenden Parteien, also den wichtigen Wolfgang Bosbach von der CDU mit seinem großkoalitionären Genossen Stegner von der SPD und natürlich auch die beiden alten Jungtürken von der FDP, Hirsch und Baum. Die Beiträge dieser Politiker klären nichts auf, es sei denn über politische Reklame.
    Die Großkoalitionäre praktizieren frei nach Willy Brandt das entschiedene Sowohlalsauch, da geht es gemeinplatzend um die ewige Balance von Freiheit und Sicherheit. Wolfgang Bosbach, in der CDU/CSU-Fraktion wichtig und zuständig für Innen und Rechtspolitik:

    "Der freiheitliche Rechtsstaat muss ... auch Präventionsstaat sein."

    Und Ralf Stegner, der für die SPD Innenminister in Schleswig-Holstein war:

    "Wir müssen die Balance zwischen Sicherheit und Bürgerrechten stets neu suchen."

    Die Opposition, die in dem Suhrkamp-Band nur durch die Altliberalen Baum & Hirsch vertreten ist, will von Balance gar nichts wissen, sie lässt den Leviathan des Überwachungsstaates sich erheben, was einen, ehrlich gesagt, auch nicht weiter bringt, schon wegen Abstumpfung. Burkhard Hirsch:

    "Tatsächlich befinden wir uns seit Jahren in einer schleichenden Veränderung hin zum Überwachungsstaat"

    Und Gerhart Rudolf Baum:

    "Ein gefährlicher Schub auf dem Weg in den Überwachungsstaat kam mit der Reaktion auf den 11. September."

    Wie gesagt, die Beiträge der Politiker wären für Erkenntnis zum Thema irrelevant, ja, wenn sie nicht Politiker wären und damit die Sache selber schaffen können. Wie sie das machen, wie sie darüber denken, das hat allerdings auch seinen Erkenntniswert.
    Rundum gewinnbringend für Erkenntnis und folgendes politisches Engagement sind die Beiträge der wissenschaftlichen Autoren-Fraktion des vorliegenden Bandes, ausdrücklich eingeschlossen der Aufsatz des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Die sind abgefasst in äußerster Knappheit und Konzentration, ohne sachliche Verluste oder verkürzte Argumentation. Sie haben ein Reflexionsniveau, das sich nicht mit Polemik schminken muss, sondern aus den Grundlagen von Staat, von Bürger- und Menschenrechten selber aufsteigt und Licht bringt.
    Natürlich ist auch hier nicht zwischen Rechtsstaat oder Präventionsstaat eine klare Linie zu ziehen, da der Rechtsstaat auch für Prävention sorgen muss. Aber deutlich wird, wie gefährlich die durch den Terrorismus verminte Kampfzone ist, wie es geschehen könnte, dass man in diesem Kampf gegen sich selber siegt und auf der Strecke bleibt.
    Beklagt werden die unzureichende Fundierung staatlicher Sicherheitsgesetze, mangelnde Überprüfung der Effektivität, die Kurzsichtigkeit des Umbaus der Sicherheitsarchitektur mit Blick auf nur eine einzige Gefahrenentwicklung, aber auch der Zirkeldiskurs der Kritiker, die – wie die Grünen – tunlichst darauf achten, sich die Finger nicht schmutzig zu machen.
    Die Frage "Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat?" findet natürlich keine abschließende Antwort. Aber die Fragen hinter der Frage werden jedenfalls deutlich, und gegen schlichte Antworten wird immunisiert. Für den Staat gibt es absolute Grenzen, das Verfassungsgericht hat sie mithilfe des Grundgesetzes schon gezogen, aber wahr ist wohl auch, was Schäubles Gegner in diesem Buch finden und bedenken sollten: dass ein Minimum an Staat keinesfalls zu einem Maximum an Freiheit führt.