"Dieses Buch vereint Ideen aus Literatur, Recht, Ethik, Philosophie und Geschichte, um Bürgern und politischen Führern gleichermaßen zu helfen, die gefahrvollen Entscheidungen zu treffen, die ein erfolgreicher Kampf gegen den Terrorismus erfordert. "
Linken Kritikern US-amerikanischer Militärgewalt wirft Ignatieff vor, aus Angst, sich die Hände schmutzig zu machen, legten sie angesichts von Terror und Tyrannei in bürgerlicher Bequemlichkeit die Hände in den Schoß. Er dagegen – so sieht er es - setzt sich der "gefährlichen Welt" aus und nutzt Menschenrechte zur Unterscheidung zwischen kleineren und größeren Übeln. Die "gefährliche Welt" – das ist die Welt "moralisch riskanter", Entscheidungen und Maßnahmen, die Welt moralischer "Rutschpartien". Für den bekennenden "hundertprozentigen Liberalen" und "ethischen Realisten" gibt es einerseits Vertreter einer Moral der Konsequenzen, die für gerechtfertigt halten, was funktioniert. Es gibt andererseits Vertreter einer Moral der Menschenwürde, die auf dem moralisch Richtigen bestehen, auch wenn es nicht funktioniert. Ignatieff selbst verficht eine dazwischen liegende dritte Position:
"Ihre Vertreter behaupten, dass Konsequenzen sehr wichtig sein können, etwa wenn man Tausende von Menschen vor Terroranschlägen rettet, und sehr wohl rechtfertigen können, dass man ein Individuum einem unerbittlichen Verhör unterwirft – wenn auch nicht der Folter -, um ihm entscheidende Informationen abzuringen. Doch dieser Vernehmungsstil, der Verdächtige an die Grenzen ihrer psychischen Ausdauer bringen würde, würde eine Verletzung ihrer Menschenwürde bleiben. Das wäre zwar ein kleineres Übel, als den Tod von Tausenden von Menschen zuzulassen, doch die Notwendigkeit einer harten Vernehmung würde sie nicht davor bewahren, falsch zu sein. "
Das englische "evil" in "the lesser evil" bedeutet außer "Übel" auch "das Böse". In der harmlos klingenden Formel vom kleineren Übel ist deshalb auch immer ein Sich-Einlassen auf das Böse mitgemeint. Daher das Pathos in Ignatieffs Handhabung dieser Wendung. Wer bösen Menschen mit bösem Handeln Einhalt gebietet und wer trotz der Notwendigkeit seines Tuns von Schuldgefühlen wegen seiner Verletzung der Menschenwürde geplagt wird, der bleibt trotz einer moralisch falschen Tat dennoch auf der moralischen Seite. Er hat nur "moralisch riskant" gehandelt, und seine Gewissensbisse werden ihn davor bewahren, das größere Übel zu praktizieren. Der "ethische Realist" Ignatieff versucht nicht, wie sonst Menschenrechtsaktivisten, die Schwelle des moralisch Vertretbaren zu erhöhen, sondern hofft, durch deren Senkung mit seinen Vorschlägen bei politischen Entscheidungsträgern eher Gehör und Berücksichtigung zu finden. Das Konzept einer Moral des kleineren Übels erlaubt dem Autor ein Durchspielen und Analysieren extremer Situationen, das teils erhellend und lehrreich, teils ärgerlich und fatal ist. Erhellend und lehrreich ist beispielsweise die Untersuchung der Gründe, weshalb Demokratien auf terroristische Bedrohungen mit Überreaktionen antworten und weshalb dabei meist mit beträchtlicher Unterstützung der Öffentlichkeit gerechnet werden kann.
"Eine Schmälerung der bürgerlichen Freiheitsrechte der unschuldigen Mehrheit der Ausländer schlägt Kapital aus dem Zorn über die Perfidie der winzigen Minderheit, die für die Anschläge verantwortlich ist. Das zu tun, ist überdies relativ einfach, weil eine Mehrheit der Bürger wahrscheinlich nichts von den direkten Kosten dieser Schmälerung tragen wird und weil auch nur wenige Bürger der Verpflichtung gegenüber der Menschenwürde, die in diesen Rechten zum Ausdruck kommt, einen unabhängigen ethischen Wert beimessen. Der Terrorismus schadet der Demokratie hauptsächlich dadurch – so das berechtigte Argument der Bürgerrechtsanhänger -, dass er eine Mehrheit von Bürgern glauben lässt, ihre Freiheiten seien eher eine Quelle der Schwäche als der Stärke. "
Wo Ignatieff die Perspektive von Bürgerrechtlern, Richtern und freier Presse statt von Mehrheiten und politischen Führern übernimmt, wird er zum überzeugenden emphatischen Demokraten, der auf die Institutionen setzt, die Schmälerungen von Freiheitsrechten der Probe kritischer Rechtfertigung unterwerfen, weil sie demokratische Stärken als Stärken betrachten. Erhellend ist auch vieles, was Ignatieff zum Thema Terrorismus sagt, wobei er zwischen verschiedenen Varianten vom Einzelgänger-Terrorismus über den Befreiungsterrorismus bis hin zum Globalen Terrorismus unterscheidet. Wo gewaltfreier Protest wie bewaffneter Widerstand angesichts einer überwältigenden militärischen Macht der Gegenseite ohne Aussicht auf Erfolg sind, könnte gemäß der Logik des kleineren Übels argumentiert werden: Um das größere Übel von Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu überwinden, müssen die Schwachen das Recht haben, zu dem kleineren Übel terroristischer Gewalt als letztem Ausweg zu greifen. Doch in diesem Fall fehlt das, worin Ignatieff eine wesentliche Stärke der Demokratie sieht: Kontroll- und Korrekturinstanzen. Sind erst einmal die Zivilisten der Gegenseite legitime Ziele, habe eine moralische "Rutschpartie" begonnen, auf der es in der Regel kein Halten mehr gebe.
"Terroristen mögen zwar vorgeben, für die Schwachen und Wehrlosen zu sprechen, doch sobald terroristische Akte im Namen der Befreiung beginnen, werden sie schnell nicht nur gegen den Unterdrücker gerichtet, sondern gegen alle in der unterdrückten Gruppe, die sich terroristischen Mitteln widersetzen oder mit Streitkräften auf der Gegenseite kollaboriert haben. In der antipolitischen Welt des Terrors ist die vorhandene Vertretung eine Fassade, die durch Einschüchterung und Gewalt aufrechterhalten wird. "
Je mehr konkrete politische Ziele fehlen, desto apokalyptischer werde der Terror. Doch das, so betont der Autor, unterstreiche erst recht die Notwendigkeit, militärische Reaktionen auf ihn mit politischen Strategien zur Beseitigung der von Terroristen ausgenutzten Ungerechtigkeiten zu kombinieren. Fatal wird Ignatieffs Bereitschaft zum "moralischen Risiko", wo er sich mit kasuistischem Eifer dem Thema Folter widmet, dem, wie es bei ihm heißt, "vermutlich härtesten Fall in der Moral des kleineren Übels". Schon dass er Folter bzw. eine von ihr mühsam unterschiedene Fast-Folter für ein unverzichtbares Instrument im "Zeitalter des Terrorismus" hält, ohne das zu belegen, macht stutzig. Man hat den Eindruck, seine detaillierte Diskussion der Grenze zwischen unerbittlichem Verhör und Folter, zwischen dem, was für einen Menschen noch erträglich, und dem, was nicht mehr erträglich ist, diene dazu, den USA im vorhinein mildernde Umstände einzuräumen für den Fall, dass sich herausstellen sollte: Alle Definitionskünste helfen in den Augen der Welt nicht mehr, um dies Muster liberaler Demokratie vom Vorwurf des Begehens "größerer Übel" freizusprechen. Auch im Jahr 2005, so zeigen seine Auftritte, ist Ignatieff überzeugt: An den guten Absichten der USA sei nicht zu zweifeln, die demokratischen Kontroll- und Korrekturinstanzen würden funktionieren und die Welt werde bald wieder einsehen, dass sie des Exports US-amerikanischer Demokratie bedürfe.
Rolf Wiggershaus war das über "Das kleinere Übel" von Michael Ignatieff, das im Philo Verlag erschienen ist. Es hat 277 Seiten für 24 Euro.