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Wenn die Chläuse kommen

Nach einem über 500 Jahre alten Brauch gehen in Urnäsch am 13. Januar die Silvesterchläuse um. Mit kunstvollen Schnitzereien und in hangemachten Kostümen besuchen sie die Bauern der Region, um für sie zu singen und von ihnen bewirtet zu werden.

Von Sabine Wuttke |
    Es ist früh gegen sechs Uhr, ein winterkalter Morgen. Die schneeweißen Wiesen reflektieren in der Dunkelheit das wenige Licht, das vom Mond ab und an durch die Wolken dringt. Einzeln verstreut in den Senken und über die Berge verteilt heben sich hier oben massig-dunkel die Bauerngehöfte ab. In den Ställen rumort es jetzt früh, ab und zu ist eine Kuh zu hören, es riecht es nach Stall, nach frischem Mist. Ein Gefühl der Einsamkeit macht sich breit, aber dann sind sie zu sehen und zu hören.

    Noch ist es ein fernes Klingen. Mit je zwei Schellen oder mindestens elf kugelrunden, geschlitzten Rollen am Oberkörper, vorn und hinten, kommen sie auf mich zu, eine Gruppe von acht Männern, ein sogenannter Schuppel, mit beleuchteten Hüten und Hauben. Die scheinen in der Finsternis zu schweben, schwanken im Rhythmus ihrer Schritte. Jetzt biegen sie zum Bauernhof Frick ein, stellen sich vor dem Eingang im Kreis auf, schwingen ihre Körper rhythmisch hin und her, springen vor und zurück.

    Der Bauer ist heraus gekommen, geht von einem zum anderen betrachtet sich interessiert und mit Kennerblick: die Miniaturen auf den Hüten und Hauben. Er ist sichtlich bewegt.

    Inzwischen werden die Schellen und Rollen vom Gesang der Männer abgelöst, einem Zäuerli.

    Es folgen wieder die Schellen und Rollen, danach wieder ein Zäuerli und so wechseln Schellen und Gesang mehrmals ab. Dazwischen bewirtet der Bauer die Chläuse mit Glühwein. Den trinken sie mit Hilfe von abgeknickten Trinkhalmen, denn ihre Gesichter sind von Larven verdeckt. Irgendwann brechen sie auf.

    "Habt dank!"

    "Gutes Neues, Andreas!"

    Der Schuppel zieht zum nächsten Bauern. Dort wiederholt sich die Zeremonie. Auch noch hinter der nächsten Biegung der Bergstraße sind die Schellen, ist der Gesang zu hören - oder ist es schon wieder ein anderer Schuppel, der in der Frühe unterwegs ist? Beides ist möglich. Die Berge, die Täler, der Wald - überall scheint es zu klingen. Über 300 solcher Gruppen soll es in Urnäsch geben, die wenigstens zu viert, aber manchmal eben auch zu acht am diesem 12. Januar von Hof zu Hof gehen. Heute ist ihr Tag, auf den sie lange hingearbeitet haben. Gestern habe ich einige von ihnen besucht, ihnen zugeschaut, wie sie ihre Kostüme, die Kunstwerke sind, fertig stellen.

    In einer ungeheizten Werkstatt, treffe ich zunächst Walter, Heiri und Hampi. Auf einem Tisch steht eine Thermoskanne mit Glühwein, daneben ein Kuchen, unter und auf den langen ehemaligen Werkbänken Berge von Tannenzweigen. Auf meinen fragenden Blick hin erklärt mir Walter, dass es unterschiedliche Chläuse gibt:

    "Schöne Chläuse, schön-wüste und die Wüste. Und mir gehen da schön-wüste."

    Walter und seine Freunde haben sich für die Kategorie schön-wüste entschieden. Die schön-wüsten verwenden Naturmaterial, das sie - im Gegensatz zu den wüsten - sehr sorgfältig verarbeiten. Meistens sind es Zweige von Weiß- und Rottannen.

    Die kleinen Zweige werden in die Schlaufen von Schnür-Gummi gesteckt, der vorher in mehreren Reihen durch Hosenbeine und den Mantel, eine Art Cape, gezogen wurde. Auf dem Rücken des Mantels tragen Walter und seine Freunde zusätzlich Einbaukästen mit Szenen aus dem Ort. Zwei der Mäntel hängen bereits fertig über einem Bügel, und Heiri erklärt mir das Motiv des einen Einbaukastens auf dem Rücken:

    "Das ist von Holz ein Männchen geschnitzt, der jetzt hier am Fischen ist, weil: Wir haben das Motto ’Die Urnäsch’, der Bach, der durch Urnäsch läuft. Das sieht man auch am Hut dann."

    Die Hüte liegen auf einem niedrigen Tisch in einer Ecke der Werkstatt. Sie sind circa 30 mal 30 Zentimeter groß, mindestens 15 Zentimeter hoch und ringsum mit verschiedenen Arten von Tannenzapfen beklebt und oben gekrönt von einer geschnitzten, heimischen Miniaturwelt, dem Verlauf des Baches Urnäsch.

    "Der fängt in der Schwägalp an, dort, wo der Bach entsteht mit diesen Gämsen drauf, das ist der Bach Richtung Urnäsch. Dann kommt dieser Hut. Das ist beim Rosswall eine Ziegenherde mit einem Hirten eigentlich. Dann fließt der Bach hier weiter, dann kommt dieser Hut. Dieser Hut ist das hohe Gras schneiden, der nächste Hut ist noch nicht hier, und dann der letzte Hut, der den Rehen, Gämsen und Hirschen das Futter bringt."

    Meine Frage nach dem zeitlichen Aufwand kann von Hampi, der ebenfalls zu dieser Gruppe gehört, nur vage beantwortet werden.

    "Also, ich bin eigentlich seit Mitte Oktober fast täglich dran. Früh um fünf Uhr aufstehen, dran arbeiten bis ich so halb sieben, sieben zur Arbeit gehe, komme nach Hause, etwas essen und dann bin ich so bis halb elf, elf nochmals dran und habe mehr oder weniger die Einbaukästen gemacht und die Hüte."

    Circa eine Woche hat er für das Herstellen eines capeartigen Mantels benötigt. Und für einen Hut.

    "Ja, ein Hut hat länger. Ein Hut hat viel länger. Also, ein Hut würde ich sagen zwei Wochen."

    Für einen Hut wohlgemerkt. Da drängt sich die Frage nach dem Grund auf für so viel Engagement, Kreativität.

    "Ja, aus Überzeugung am Brauch und aus der Freude am Brauch und eigentlich vor allem für sich selber."

    "Das Schönste für mich am Chlausen ist, wenn ich in einem Bauernhof bin, und der Bauer schaut zu, und man merkt, dass er bewegt ist und rundum hat es Schnee und es ist eigentlich fernab und es ist eine Welt für sich, und wenn der Bauer das Nastuch nimmt und verstohlen eine Träne abwischt, das ist eigentlich immer das schönste Gefühl. Also weitab vom Touristenrummel."

    Es ist ein Brauch, der von Generation zu Generation weiter gegeben wird.

    "Ja, es ist so, dass auch mein Vater zum Chlausen gegangen ist und jetzt ich oder wir und meine Jungen machen das bereits schon, ja von dem Kleinsten bis zum Größten. Der Kleinste ist zweieinhalb Jahre alt, der geht auch schon mit, also, nicht so weit, aber so um das Haus und bei den Nachbarn. Der hat auch ein Mäntelchen, hat eine Schelle und hat auch einen Hut."

    Der 13. Januar ist der wichtigste Festtag im Leben der Urnäscher. Das Datum geht auf einen Kalenderstreit zurück. Der reformierte Teil des Appenzeller Landes widersetzte sich der Einführung der Kalenderreform von1584 durch Papst Gregor XIII. Sie blieben dem Julianischen Kalender treu. Inzwischen gilt auch in Urnäsch der neue Kalender, aber am 13. Januar feiern sie nach wie vor das Alte Silvester ohne Böller und Raketen, dafür mit dem Chlausen.

    Damit ist auch bewiesen, dass der Brauch des Chlausens mindestens 500 Jahre alt ist, wie auch der Gesang, der Naturjodel der nirgends aufgeschrieben, sondern von den Vätern an die Söhne weiter gegeben wird.

    Walter Frick, dessen Schuppel - es sind seine sieben Brüder - ich im Morgengrauen in den Bergen getroffen hatte, gehen als schöne Chläuse. Sie tragen Samtkniehosen, weiße Strümpfe, eine Samtjacke und Hüte, so groß wie Wagenräder - zwei, drei Etagen übereinander, die einzelnen Podeste mit verschiedenfarbigem Samt verbrämt, mit abertausenden Perlen bestickt, mit kleinen Spiegeln verziert. Als Krönung darauf kleine handgeschnitzte Puppenstuben. Es war eine Ausnahme und Auszeichnung, dass Walter mir am Abend zuvor gestattet hat, mir ihre neuen Hüte anzuschauen. Sie gestalten darauf ihre eigene Kindheit - als geschnitzte Miniaturausgabe unter dem Motto "Silvesterchlausen".

    "Direkt auf uns bezogen: als Kinder, die Mutter hilft, Chlausenchrusch machen, und nachher als kleine Kinder, wie wir chlausen gegangen sind, und hier Chlausenversammlung, wenn wir uns treffen und abmachen, wo durch wir gehen und was wir machen. Das ist die Küche, und das ist die Stube. Hier kämpfen zwei Kinder miteinander, und der Vater gibt einem den Tritt in den Hintern."

    Auf jedem der acht Hüte ist ein Abschnitt des Chlausens in der Kindheit dargestellt, detailgetreu bis hin zu den millimeterkleinen Lärchenschindeln.

    "Morgen früh machen wir das Licht an, wenn wir weg gehen, und marschieren los und dann ist es auch so beleuchtet."