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Wenn die Ruhe zurückkehrt

Nur knapp eine Stunde dauert die Bootsfahrt von der Ostküste Bornholms. Und doch kommt in eine andere Welt, wer den Hafen von Christiansö erreicht. Ehemals ein strategischer Vorposten Dänemarks inmitten der Ostsee, sind die Festungsanlagen heute brüchig, steht die gesamte Inselgruppe unter Naturschutz. Hier leben knapp 100 Menschen.

Mit Reportagen von Marc-Christoph Wagner, Redakteur am Mikrofon: Henning von Löwis |
    "Das Inselleben ist hart, weil man isoliert ist. Der Mensch von heute möchte Unterhaltung. Hier hingegen muss man die Einsamkeit mögen, die karge Natur, das Fischen, ein gutes Buch, was anderes kann man im Winterhalbjahr nicht machen. Man sollte die Stille mögen, die Stille und die Einsamkeit."

    Und eine Lehrerin über die Bedeutung ihrer Schule:

    "Alle wissen, wenn die Schule nicht überlebt, dann stirbt das Leben auf der Insel. Wenn es keine Schule gibt, dann kommt keine junge Familie mit Kindern auf die Inseln. Dann werden wir ein Altenheim oder eine Art Freilichtmuseum."

    Gesichter Europas - Heute: Wenn die Ruhe zurückkehrt - Alltagsbilder von Dänemarks östlichstem Punkt, den Erbseninseln. Eine Sendung mit Reportagen von Marc-Christoph Wagner. Am Mikrofon: Henning von Löwis.

    Ein Schiff als Lebensnerv
    Um kurz nach acht bekommen die Seemöwen auf den Klippen und die vier Schwäne im Hafenbecken Gesellschaft. Eine Frau in Jogginghosen geht mit ihrem Hund am Kai spazieren. Ein erster Kutter läuft aus. Und auch für die Besatzung der M/S Ertholm beginnt die Schicht. Gudhjem an der Ostküste Bornholms wacht langsam auf.

    Hans Rathmann öffnet die Tür des kleinen Schuppens am Kai. Ein Wäschestativ liegt dort auf einer Palette mit Dachziegeln. Bierkästen stehen neben Eisenstangen, eine Waschmaschine neben einem Sack Kartoffeln und der Post von gestern.

    "Wenn wir nicht auslaufen, kommt nichts und niemand nach Christiansø. Wir sind der Lebensnerv der Erbseninseln, bringen die Post, alles, was die Bewohner brauchen. Gestern aber war Sturm, die Wellen zwischen drei und fünf Meter hoch. Da kommen wir in den kleinen Hafen da drüben nicht rein."

    Die Ertholm schwappt ruhig vor sich hin. Am Kai trägt die Mannschaft alles zusammen, was heute mit soll auf die Inseln. Ein Schiffskran hievt ein halbes Dutzend leere Müllcontainer an Deck. Am Horizont sind die Konturen der Erbseninseln mit bloßem Auge zu erkennen.

    "Für den Kaufmannsladen da drüben haben wir täglich etwas dabei. Bier und Wasser bekommen sie einmal wöchentlich. Gas und Abfall müssen ebenfalls transportiert werden. Es gibt immer etwas, was wir dabei haben."

    Noch eine gute Stunde bis zur Abfahrt, um 10 Uhr soll die Ertholm auslaufen, 50 Minuten später erreicht sie Christiansø. Am Kai geht es gemütlich zu - eine Zigarette, eine Tasse Kaffee, ein kurzer Schnack mit Passanten. In einem kleinen schwarzen Buch notiert Hans Rathmann alle Waren, die auf das Schiff kommen:
    "Natürlich könnte ich auch mit einem Laptop rumlaufen. Aber warum? Hier in diesem Buch kann ich genau sehen, was wir im Januar transportiert haben. Schau hier, am 2. Januar - da hatten wir einen Elektriker mit an Bord, Dachziegel, zwei Container. Ich muss nur in mein Buch schauen. Ab und an kommen die Inselbewohner mit der Rechnung und sagen, hier, dieses Paket haben wir nicht bekommen. Dann gucke ich in mein Buch und sage ihnen genau, wann wir es dabei hatten. Ach ja, sagen sie dann, das hatten wir vergessen."



    Sie tragen königliche Namen: Christiansö und Frederiksö. Sie markieren den östlichsten Punkt des Königreiches Dänemark, zehn Seemeilen, 18 Kilometer von Bornholm entfernt, sind so winzig, dass sie auf keiner Europakarte zu finden sind:

    22 Hektar, beziehungsweise neun Hektar.

    Christansö ist 710 Meter lang und 430 Meter breit, die kleine Schwester Frederiksö 440 Meter lang und 160 Meter breit. Dritte Insel im Bunde: das Eiland Graesholmen, seit 1926 ein Vogelreservat - Betreten verboten.

    Stecknadelköpfe inmitten der Ostsee - südlichster Teil des baltischen Schärengartens. Eigentlich nicht der Rede wert. Und doch Touristenmagnet. Etwa 70.000 Urlauber, zumeist Tagestouristen, zieht es jeden Sommer auf die Erbseninseln.

    Jetzt im Herbst sind vorwiegend Einheimische unterwegs zwischen Bornholm
    und Ertholmene, wie die Erbseninseln auf Dänisch heißen.


    Aufbruch in eine eigene Welt
    Inzwischen ist es kurz nach zehn. Die Dieselmotoren der Ertholm laufen ruhig vor sich hin. Die wenigen Tagesausflügler haben sich auf dem Deck verteilt. Nur Ib Stange Jensen, der Kapitän, ist noch nicht an seinem Platz. Gelassen lehnt er an der Reling, ab und an blickt der Mittvierziger auf die Uhr:

    "Wir warten auf zwei Passagiere - einer landete mit der Frühmaschine aus Kopenhagen, der andere kam mit der Fähre aus Ystad. Wenn wir jetzt auslaufen, dann müssen sie einen ganzen Tag hier in Gudhjem warten, und uns kommt es zu dieser Jahreszeit auf eine Viertelstunde nicht drauf an. Man muss doch nett sein zueinander."

    Wenige Minuten später sind die Leinen los. Vorsichtig manövriert Ib Stange Jensen die Ertholm aus dem kleinen Hafen. Jensen weiß, was er tut. 1959 etablierte sein Vater die Schiffsroute zwischen Bornholm und den Erbseninseln. Schon als kleiner Junge fuhr er nach der Schule und in den Freien regelmäßig mit. Seit 1985 ist er selbst Kapitän.

    Gleichmäßig schaukelt die Ertholm hin und her, ihr Kapitän schaut aus dem Fenster - blondes Haar, ein jugendliches Gesicht, stets ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen. Entlang der Ostküste Bornholms liegen zahlreiche Frachter vor Anker, sie haben Schutz gesucht vor dem gestrigen Sturm. Das Fahrwasser hier, erklärt Jensen, liegt im Windschatten Bornholms.

    "In den achtziger Jahren war hier alles vereist, man kam nicht raus aus den Häfen Bornholms, teilweise 14 Tage lang. Damals wurden die Erbseninseln mit einem Militärhubschrauber versorgt."

    Ib Jensen schaltet um auf den Autopiloten, nimmt sich eine Tasse Kaffee, macht das Radio an. Der 45-jährige wirkt zufrieden mit sich und der Welt, obwohl er nun seit mehr als zwanzig Jahren den gleichen Job macht - tagein, tagaus. Längst hat er aufgehört zu zählen, wie oft er zwischen Bornholm und den Erbseninseln hin und her gefahren ist:

    "Für die Christiansøer ist es in gewisser Weise noch immer etwas Besonderes, wenn wir anlegen, aber nicht mehr so wie früher. Damals kamen alle runter zum Hafen, um zu schauen, was wir dabei hatten, alle halfen mit, das Schiff zu entladen. Als ich jung war, lebten 140 Menschen auf den Inseln, 40 mehr als heute. Viele von ihnen waren Fischer, da plauschten wir oft am Kai. Heute hingegen wird jemand für das Entladen des Schiffes bezahlt. Aber natürlich ist unser Eintreffen stets ein Ereignis, gerade wenn wir wie gestern nicht gekommen sind."

    Immer deutlicher ragen die Erbseninseln aus dem Meer heraus - links die Vogelinsel Græsholmen, der Museumsturm und das alte Gefängnis auf Frederiksø, dahinter Christiansø mit den langen gelben Kasernengebäuden mit roten Dächern und dem alles überragenden Leuchtturm. Eine Szenerie aus einer anderen Zeit. Doch auch wenn äußerlich noch immer alles aussehen würde wie anno dazumal, erzählt Ib Jensen, in den vergangenen Jahrzehnten habe sich auf den Inseln viel verändert. Vor allem die Struktur der Einwohner:

    "Früher wurden alle wichtigen Funktionen von den Inselbewohnern selbst wahrgenommen. Heute hingegen bleiben die wenigsten, die hier geboren werden, ein leblang auf den Inseln, irgendwann ziehen sie weg - nach Bornholm oder sonst wo hin in Dänemark. Gegenwärtig sind etwa die Hälfte der Menschen auf den Erbseninseln Zugezogene - Menschen, die es nicht gewohnt sind, auf einer Insel zu leben. Sie kommen hierher, um zu arbeiten, die meisten haben einen vierjährigen Vertrag. Nicht alle aber halten es solange aus, geschweige denn, bleiben länger als vier Jahre. Das Inselleben ist hart, weil man isoliert ist. Im Sommer, da sind jede Menge Menschen dort und es passiert viel. Jetzt aber ist das anders - du wirst sehen, wie einsam es ist. Der Mensch von heute möchte Unterhaltung. Hier hingegen muss man die Einsamkeit mögen, die karge Natur, das Fischen, ein gutes Buch, was anderes kann man im Winterhalbjahr nicht machen. Man sollte die Stille mögen, die Stille und die Einsamkeit."



    Was kann man mit einer entlegenen Ostseeinsel anfangen?
    Zwei Dinge bieten sich an: Festung und Gefängnis - und die Erbseninseln waren beides.

    Anno 1684 - 26 Jahre nachdem Dänemark seine südschwedischen Besitzungen verloren hatte - verfügte König Christian V. den Bau der Festung Christiansö
    mit einem befestigten Hafen. Die Erbseninseln wurden zur Flottenbasis, erlangten strategische Bedeutung vor allem im Großen Nordischen Krieg von 1709 bis 1720, bei dem es um die Vorherrschaft im Ostseeraum ging. Prominentester Inselbesucher damals: Zar Peter der Große, der im August 1716 auf Christiansö weilte. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Festung, an der über 100 Jahre lang gebaut worden war, ausgedient - und wurde aufgegeben.

    Bereits 1826 hatte das Staatsgefängnis auf Frederiksö seine Tore geöffnet.
    Der bekannteste Gefangene der Erbseninseln hieß Jacob Jacobsen Dampe - entschiedener Gegner des Absolutismus, früher Anwalt der Demokratie. 1821 wurde der Dissident zum Tode verurteilt. Doch der dänische Staat war so gnädig, das Urteil in lebenslange Haft umzuwandeln. So durfte Dampe -
    15 Jahre lang eingesperrt hinter dänischen Gardinen - die gute Ostseeluft auf Frederiksö genießen, bis er 1841 begnadigt wurde und nach Bornholm übersiedeln konnte.

    "Dampe" - das ist der Stoff, aus dem die dänische Schriftstellerin Iselin Hermann einen Roman gemacht hat. Wenn der Lehrer, den es auf die Inseln verschlagen hat, nachts nicht schlafen kann, dann erscheint ihm im Traum Dampe und erzählt Geschichten: von Einsamkeit, Eingesperrtsein und dem vergeblichen Versuch, vor sich selbst zu flüchten.

    Geschichten, in denen der Lehrer seine eigene Lebenssituation gespiegelt sieht.


    "Man weiß nicht, was Wind ist, bevor man einen Wintersturm auf Christinasö erlebt hat. 32 Meter die Sekunde sind abstrakt, bis einem das Fenster bei dem Versuch, es zu schließen, aus der Hand bläst und das Ganze - Glas und Rahmen - in tausend Teile auf dem Felsgrund zersplittert. Der Schreiner hat versprochen, morgen zu kommen, und ein neues einzusetzen.

    Ich kann nicht schlafen. Liege und lausche dem Sturm und kann gut verstehen, dass es Brandsturm heißt. Es klingt, als ob das Meer Feuer gefangen hätte, und wenn der Brandsturm rast, raucht es aus den Wellen. Das Haus windet sich und die Fensterhaken klappern. Tatsächlich habe ich keine ganze Nacht durchgeschlafen, seit ich hier hergekommen bin.

    Sieben Monate sind lang, wenn die Nächte seicht sind. Kurt lacht über mich und sagt, es sei wohl, weil ich mir zu viele Gedanken machte. Nett gemeint, aber auf Dauer äußerst unbehaglich. Man wird dünnhäutig davon, auch unter den Augen. Und so ist es, alles in allem, vielleicht besser, aufzustehen und sich an den Schreibtisch zu setzen, anstatt liegen zu bleiben und zu viel nachzudenken. Derart können die Kinder ihre Aufsätze schon morgen zurückbekommen, korrigiert und mit roten Strichen."

    Dr. Dampe hat angeblich immer wieder an den König appelliert, das Todesurteil zu vollstrecken. Der Tod könne nicht schrecklicher sein als Isolationshaft auf Frederiksö.

    Tatsächlich muss man aus besonderem Holz geschnitzt sein, um auf den Erbseninseln, fernab von allem und inmitten der Ostsee, zu leben. Dennoch haben Menschen genau dies immer wieder getan. Auf Græsholmen, der Vogelinsel, finden sich Gräber aus der Eisenzeit, etwa 200 v. Chr. In der Hansezeit haben Heringsfischer die Erbseninseln als Anlaufstelle benutzt. Und auch als diese ihre strategische Bedeutung Mitte des 19. Jahrhunderts verloren und das Militär die Festung aufgab, kehrten ehemalige Soldaten schon wenige Jahre später zurück und ließen sich als Fischer nieder - mit besonderer Erlaubnis des Königs. Die zivile Ära des Archipels begann.

    1926 beschloss die Regierung in Kopenhagen, die Erbseninseln als einen lebenden, kulturhistorischen Ort zu bewahren. Bis heute sind Christiansö, Frederiksö, Græsholmen nicht Teil der dänischen Kommunen, sondern unterstehen direkt dem Staat und werden vom Verteidigungsministerium verwaltet. Und das wiederum hat einen Mann erkoren, der nach dem Rechten schauen soll - was früher der Militärkommandant war, das ist heute der Administrator.

    Inselchef zu sein, das heißt Chef von allen, Chef für alles zu sein: Bürgermeister, Hafenmeister, Polizeimeister, Standesbeamter, Umweltbeauftragter, Denkmalsschützer und so weiter. Und noch immer Geheimnisträger, für den - zugegeben unwahrscheinlichen - Fall der Fälle, sollte die Ostsee doch noch einmal kriegerischer Schauplatz werden.

    Peter Riis hat zwar nie Feierabend, aber dafür ist er ein kleiner König - Herrscher über 99 Untertanen. Er residiert direkt am Hafen in einem Haus, das die Insulaner aufgrund seines Anstriches nur das "Weiße Haus" nennen.


    Der Verwalter
    Peter Riis sitzt an seinem Schreibtisch, der Herbstwind drückt gegen die Fenster, weiße Schaumkronen schmücken die grau-blaue Ostsee. Neben dem Taschenrechner eine dampfende Tasse Kaffee. Peter Riis kontrolliert eingegangene Rechnungen.

    "Es ist sehr spannend, der beste Job, den ich je hatte. Kein Job von 8 bis 16 Uhr, man ist rund um die Uhr im Einsatz, kein Tag gleicht dem anderen. Aber ich liebe es."

    Vom Schreibtisch aus hat Peter Riis einen unverstellten Blick auf die kleine Brücke zwischen Christians- und Frederiksö. Ab und an hastet eine Gestalt hinüber, die Jacke bis oben geschlossen, Hut oder Mütze tief im Gesicht, der ein oder andere mit einer Einkaufstasche in der Hand. Im Hafenbecken schwanken die Boote hin und her. Die dänische Flagge am Elefanten, dem Dienstkutter des Verwalters, ist ausgefranst vom Wind.

    Peter Riis hatte seine Karriere eigentlich längst beendet. Der ehemalige Leiter einer Steuerbehörde war ausgebrannt, auf Seeland in der Nähe Kopenhagens hatte er zusammen mit seiner Frau eine Galerie eröffnet. Eines Tages sah er einen Dokumentarfilm über die Erbseninseln. Von dem Tag an wusste er, hier wolle er einmal hin. Kurze Zeit später wurde die Stelle des Verwalters ausgeschrieben.

    "Hier auf den Inseln gibt es eine Ruhe, gerade jetzt, außerhalb der Saison. Und wenn man im Fernsehen sieht, wie auf Bornholm, in Kopenhagen oder sonst wo im Lande gestohlen wird, wie die Leute sich umbringen, man sich fast nirgendwo mehr sicher fühlen kann - meine Güte, so etwas kennen wir ja gar nicht. Hier schließt niemand seine Haustür ab, jeder kennt jeden, wir passen aufeinander auf. Hier würde kein Mensch sterben und tagelang tot in seinen eigenen vier Wänden liegen, ohne dass wir es entdeckten. Denn wenn wir Mary, Grethe oder Margrethe einen Tag lang nicht gesehen haben, dann gehen wir hin und schauen nach dem Rechten. Dieses Für- und Miteinander findet man nirgendwo sonst."

    Peter Riis ist ein Romantiker - das behauptet er nicht nur selbst, auch die Psychologen des Verteidigungsministeriums haben ihm diese Charaktereigenschaft attestiert. Ob sie sich dennoch oder gerade deswegen für ihn entschieden, der 62-Jährige zuckt mit den Schultern. Der Job des Verwalters jedenfalls verlange eine vielseitige Persönlichkeit. Er, Riis, sei Mädchen für alles. Nicht nur müsse er nahezu alles entscheiden und verantworten, auch kämen die Insulaner mit ihren persönlichen Problemen oft zu ihm. Wenn Licht brennt in seinem Büro, so heißt es auf der Insel, ist Papa zu Hause.

    "Es gibt fast nichts, mit dem die Leute nicht zu mir kommen. Ich bin eine Art Seelsorger, wenn sie eine unabhängige Meinung haben oder einfach nur mit jemandem reden wollen, ja dann kommen sie hierher ins Büro und sitzen auf dem Stuhl, auf dem Du jetzt sitzt. Gerda, die im Sommer ihren 90. Geburtstag feierte, ist gestern gestorben. Drei Minuten, nachdem ihre Familie es erfahren hatte, kam ihr Sohn zu mir und erzählte mir von ihrem Tod. Und natürlich obliegen mir dann auch alle die praktischen Fragen in Verbindung mit der Beerdigung."

    In dem kleinen Haus auf Frederiksö duftet es nach frischer Farbe. Peter Riis will nach dem Rechten schauen, die Handwerker, die es restaurieren, aber machen Mittagspause. Peter Riis deutet auf eine alte Türklinke aus Holz:

    "Hier gibt es nichts, was nicht unter Denkmalschutz steht. Wenn nur ein Stück Holz aus einem Panel gefallen ist, dann richten wir es wieder her. Wenn ein Haus nur noch zu 30 Prozent steht, dann restaurieren wir es - und wenn es fertig ist, kannst Du nicht erkennen, dass mit neuen Materialien gearbeitet wurde. Für die Handwerker hier ist das ein großes Privileg. Niemand sagt ihnen, du musst morgen fertig sein. Nein, du bist fertig, wenn du fertig bist. Ob ein Tag vergeht oder zwei, acht oder zehn, das ist völlig egal. Was zählt, ist das Ergebnis. Das muss nicht nur gut, es muss perfekt sein."

    Eben darin liegt die Herausforderung, sagt Riis. Die Erbseninseln einerseits zu bewahren, wie sie sind - schließlich sei die alte Festungsanlage ein kulturhistorischer Ort; andererseits eine lebendige Gesellschaft, eine Inselgemeinschaft mit eigenem Leben, Alltag und Einkommen zu erhalten. Keine leichte Aufgabe, denn der Rahmen lässt sich nicht verändern. Knapp 50 Wohnungen und Häuser gibt es auf den Erbseninseln, neue dürfen nicht gebaut werden. Und auch die geografische Lage der Inseln fernab und inmitten der Ostsee ist, wie sie ist. Umso mehr freut es Peter Riis, dass es ihm gerade gelungen ist, zwei Stellungen mit jungen Männern zu besetzen - beide mit Frau und je vier Kindern. Hier auf den Inseln, sagt er, kann man aufgrund der niedrigen Steuer von einem Gehalt leben. Die jungen Familien hätten sich bewusst für das etwas andere Leben abseits entschieden:

    "Irgendwo ist das Leben hier altmodisch, aber auf eine gute Art und Weise, um die uns viele beneiden. Stell Dir vor, dass Mama daheimbleiben kann, die Kinder gehen sicher in die Schule - es gibt keine Autos, keine Gefahren. Sie kommen nach Hause, Papa kommt zum Mittagessen, er ist früh daheim und nicht gestresst, weil er auf keiner Autobahn im Stau gestanden hat. Man hat Nachbarn, die einem helfen, und gleichzeitig Ruhe und Frieden."

    Es hat angefangen, zu regnen. Peter Riis zieht sich seine schwarze Mütze tief ins Gesicht, den Kragen seiner Jacke hoch. Bis zu seinem 70. Geburtstag darf er den Job des Verwalters machen, nicht einen Tag vorher will er aufhören. Er blickt optimistisch in die Zukunft, sagt er. Das Internet und die moderne Kommunikationstechnologie eröffneten neue Perspektiven. Man könne auf den Erbseninseln sitzen und in der ganzen Welt sein Geld verdienen. Peter Riis ist und bleibt ein unverbesserlicher Romantiker.



    "Ich wache stets gegen drei Uhr auf. Mit einem Mal und ohne mildernden Übergang, als ob hier jemand wäre. Es ist, als ob man in der Dunkelheit eine Treppe hinuntergeht, und es eine Stufe mehr gibt, als man gedacht hätte. In der Tat sehr unangenehm. Und ich bin in Schweiß gebadet. Es gibt Tage, an denen ich die Stimme nur von acht Uhr, wenn der Unterricht beginnt, bis zwei Uhr, wenn er zu Ende ist, benutze. Der Rest des Tages ist Schweigen. Viele der Inselbewohner sagten am Anfang, dass ich in die Gastwirtschaft kommen sollte. Aber als ich es nicht tat, hörten sie auf damit. Das mag ich an dem Ort hier. Man wird in Frieden gelassen, wenn es das ist, was man möchte. Jetzt aber nimmt es vielleicht überhand mit diesem Frieden. Ab und an, wenn man am Schreibtisch sitzt, kommt es einem plötzlich vor, als ob da jemand wäre, der einen von hinten beobachtet. In der Stille. Wahrscheinlich ist es an der Zeit, dass ich mich in der Gastwirtschaft einmal blicken lasse."

    Ein Gasthof mit sechs Zimmern, 46 Wohnungen, 44 Sommerhütten und ein Campingplatz - das ist die kleine, überschaubare Welt der Erbseninseln. Der Archipel gehört dem dänischen Staat. Größter Arbeitgeber ist Vater Staat. Fast jeder Dritte steht in Diensten der Verwaltung. Nur etwa 50 Prozent der Bevölkerung sind echte Erbsen-Insulaner - hier geboren und aufgewachsen. Wie Thora Kjoller. Doch Thora verschlug das Schicksal in die Fremde - nach Bornholm. Und darüber ist sie alles andere als glücklich.

    Eine Festungsinsel als Heimat
    Thora Kjøller blickt hinaus auf das Meer, ihr helles, halblanges Haar flattert im Wind. Das Wasser schlägt auf die Felsen, nur um sich im nächsten Moment erneut zurückzuziehen. Am Horizont zieht ein Frachtschiff vorbei - in östlicher Richtung, mit unbekanntem Ziel. Für Thora ein vertrautes Bild. Die 30-Jährige ist auf den Erbseninseln aufgewachsen, ihre Familie eine der ältesten des Eilands. Schon während der Napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts siedelten sich ihre Vorfahren hier an.

    "Alltag ist Alltag. So ist es doch überall, egal, wo auf der Welt man sich befindet. Für uns war es ganz natürlich, dass es hier auf den Inseln nicht mehr Leute gab, sie dann aber in den Ferien überlaufen wurden. Zumal: Wir alle haben Familie, Freunde, Bekannte, die wir besucht haben - in Kopenhagen und anderswo. Ich kriege ja keinen Schock, wenn ich heute dort hinfahre."

    Thora spaziert langsam vor sich hin, ohne eine Menschenseele zu treffen. Vorbei an Østerskær, der östlichsten Schäre, vorbei an den südlichen Bastionen der alten Festung und den drei Kanonen oben auf dem Hügel. Von hier aus hat man einen unverstellten Blick auf den schmalen Hafen, die schwarzen Holzschuppen und die alte Räucherei auf Frederiksö, die Kasernengebäude und die sich den Hang entlang ziehenden Gärten auf hiesiger Seite. Eine kleine, überschaubare Welt. Nach 1200 Metern hat man Christiansö umrundet:

    "Hier ist es so: Ich mag zwar böse mit dir sein, aber es nutzt ja nichts zu sagen, ich will dich nie mehr sehen. Man läuft sich ständig über den Weg, mehrmals am Tag. Gut, man kann einen Tag oder zwei aufhören zu grüßen, am Ende aber muss man miteinander auskommen."

    In der Ferne ist die Silhouette Bornholms zu erkennen, wo auch Thora inzwischen lebt - unfreiwillig, wie sie sagt, aufgrund ihres Mannes.

    "Hier auf den Erbseninseln sind wir eigentlich ganz offen, möchten andere Leute kennenlernen. Auf Bornholm sind die Menschen sehr verschlossen. Man genügt sich selbst. Gewiss, durch die Kinder ist es leichter geworden, da trifft man viele Leute, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Doch ich lebte schon einmal auf Bornholm, ging dort auf das Gymnasium. Damals fand ich die Insel enorm verschlossen."

    Wann immer sie kann, kehrt Thora an den Ort ihrer Kindheit zurück. Während der Sommermonate ist sie von montags bis freitags auf den Inseln, führt Tagestouristen - bis zu drei Gruppen am Tag. Jetzt im Herbst besucht sie ihre pensionierten Eltern so oft sie nur kann. Ein magischer Ort, sagt Thora. Auch ihr Mann wisse, eines Tages möchte sie zurück. Das Leben an Land, wie es hier über den Bornholmer Inselnachbarn heißt, ist ihre Sache nicht.



    "31. Januar
    Gott sei Dank. Heute ist der letzte Tag des längsten Monats im Jahr. Im Januar gibt es einfach mehr dunkle Morgen, nasskalte Vormittage, neblige Nachmittage und fahle Abende als in jedem anderen Monat. Wenn ich eines Tages sterbe, dann etwa in der dritten Kalenderwoche des Jahres, denn dann hält man es schlichtweg nicht mehr aus. Wenn man schon im Vorhinein geschwächt ist, dann ist da, an diesem Tiefpunkt, Schluss. Aber jetzt heitert es auf, es geht in die richtige Richtung, und der Wind tut das Seine: Denn Nebel und Windstärke 24 sind zwei unvereinbare Größen.

    In diesen Tagen ist es unvermeidlich: Der eine Inselbewohner fragt den anderen, ob er nun auch daran gedacht hätte, die Insel gut anzubinden. Ich finde es jedes Mal lustig, denn so fühlt es sich an, als ob die Insel aufs Meer hinaus treibt. Selbst hören sie es nicht mehr. Es ist kein Witz, sondern einfach Gewohnheit, ebenso wie zu sagen "Wie geht es", welches in seiner Grundform eine Frage ist, inzwischen aber abgedroschen ist zu einer Höflichkeitsphrase, die keiner Antwort bedarf. Heute Morgen ist es Jan Hut, der mit einem Pfeifen im Mund zu Balle unten im Hafen ruft, ob er daran gedacht hätte, die Insel anzubinden. In diesen Tagen laufen sie nicht aus. Die Boote würden wie Korken auf den Wellen tanzen. Es weht aus Nordost, sodass er langen Anlauf hat, der Wind, von der Barentssee hoch oben. Heute ist der vierte Tag, an dem das Postschiff nicht gekommen ist. Im Kaufmannsladen stellt Lisbeth die Dosen mit Tomatenpüree und Minestrone bis an die Kante der Regale, sodass man nicht sehen kann, dass da nur die eine Reihe ist, und wir anderen rücken enger zusammen. Jetzt fängt man doch an zu fühlen, dass man weit entfernt ist."

    Ganz am Ende der dänischen Welt zu leben, weit draußen in der Ostsee, dass heißt auf vieles zu verzichten, aber keinesfalls zu darben. Denn das Schiff bringt - auf Bestellung - das Gewünschte. Allerdings: Der Transport über See hat seinen Preis. Und so sind denn Lebensmittel teurer als anderswo im Reich.

    Da die Erbseninseln dem Verteidigungsministerium unterstehen, zahlen die
    Insulaner jedoch nur ganze sechs Prozent Staatssteuer - im Rest des Landes liegt der Einstiegssteuersatz bei immerhin 40 Prozent. Auf ein Auto können sie getrost verzichten. Und Bildung gibt es selbstverständlich gratis - in der Zwergschule der Erbseninseln.


    Schule wie anno dazumal
    Der Weg zum Ende der Welt ist steinig. Vom Hafen und den gelben Kasernengebäuden, in denen viele Familien leben, geht es hinauf zum Leuchtturm. Wer die 101 Stufen erklommen hat, passiert auf ausgetreten Pfaden eine kleine Lichtung - den Königlichen Garten, von einer alten Steinmauer umrahmt. Der Herbst hat erste Spuren hinterlassen. Überall liegen nasse, gelb-braune Blätter. Böen lassen die Zweige der alten Bäume hin und her tanzen.

    Verdens ende, das Ende der Welt, dieser Aussichtspunkt liegt auf der Rück-, der nordöstlichen Seite von Christinansö, zusammen mit dem Zelt- und Fußballplatz der Insel - sowie der Schule. Äußerlich unterscheidet sich das Gebäude kaum von anderen des Eilands: Gelbe Mauern, rote Dachziegel, grüne Fenster auf Holz. Über der Tür eine gusseiserne Lampe, wie aus einem Roman Fontanes.

    Auch den kleinen Flur assoziiert man zunächst nicht mit einer Schule. An der Wand hängen Jacken übereinander, in einem Schrank links neben der Tür stehen Schuhe in unterschiedlicher Größe - bei einer Familie mit drei Kindern sähe es kaum anders aus. Durch eine kleine Küche, in der auch eine Kopierer sowie Unterrichtsmaterialien liegen, geht es hinein ins Klassenzimmer.

    Es ist der letzte Schultag vor den Herbstferien, der letzte Schultag auch für einen Jungen, dessen Familie die Erbseninseln in den kommenden Tagen verlassen wird. Alle Schüler der Schule sind versammelt, setzen sich in einen Kreis auf den Boden, es gibt Saft und Schokoladenkuchen. 13 sind es an der Zahl, 13 von der ersten bis zur siebenten Klasse.

    "Ja, so gesehen ist das eine altmodische Schule, ganz so wie anno dazumal. Wir unterrichten die erste, zweite und dritte Klasse zusammen, die vierte und fünfte, die wir manchmal mit den Kleinen, manchmal mit den Grossen zusammentun, sowie die sechste und siebente Klasse, das sind die Grossen."

    Ingrid Darre ist eine von zwei Lehrerinnen, drei zusammen mit dem Rektor - Mitte fünfzig, türkiser Schal passend zur türkisen Brille, ein strahlendes Lächeln. Schüler unterschiedlichen Alters gemeinsam zu unterrichten ist eine Herausforderung, sagt sie. Andererseits sei es einfacher, den Einzelnen zu fördern. Die Kinder seien toleranter als anderswo, würden Verantwortung füreinander übernehmen. Die Großen würden den Kleinen stets helfen, jeder würde mit jedem spielen. Unter den Kindern der Insel gibt es eine besondere Gemeinschaft, erzählt Ingrid. Und auch sie als Lehrerin fühle sich von den anderen Inselbewohnern respektiert:

    "Die Kinder haben einen hohen Status - das ist einfach so. Alle wissen, wenn die Schule nicht überlebt, dann stirbt das Leben auf der Insel. Wenn es keine Schule gibt, dann kommt keine junge Familie mit Kindern auf die Inseln. Dann werden wir ein Altenheim oder eine Art Freilichtmuseum. Sollen die Inseln als Gesellschaft überleben, dann braucht es eine Schule."

    Ingrid erzählt den Schülern, was nach den Herbstferien auf sie zukommt - wie eine Mutter, die ihren Sprösslingen erklärt, wie man einen Kuchen zubereitet. Trotz altmodischer Kulisse - die Schule ist modern eingerichtet. Laptops für alle Schüler, eine interaktive Tafel, Stühle und Tische, die sich der Größe der Kinder individuell anpassen. Nur eine Sporthalle gibt es nicht:

    "Ab und an höre ich Touristen, die vorbeigehen, sagen, meine Güte, ist das euer Schulhof? Diese vier bis sechs Quadratmeter? Aber wir haben doch die ganze Insel, wir brauchen keinen Spielplatz. Und wenn die Kinder frei haben, dann bewegen sie sich frei auf der ganzen Insel. Dreijährige kommen nachmittags alleine in die Bibliothek, weil sie mich besuchen wollen. Das ist doch ein besserer Start ins Leben als anderswo."

    Noch ein abschließendes Spiel, dann werden die Kinder in die Herbstferien entlassen. Sie sind hippelig, die meisten von ihnen nehmen in zwei Stunden das Boot, um in den Urlaub zu fahren. In den kommenden zwei Wochen, sagt Ingrid, werden die Erbseninseln nahezu verwaisen.

    "Im Laufe des Sommers kommen 60.000 Touristen zu uns auf die Inseln - und jeder hier arbeitet von morgens bis abends. Allein in der Gastwirtschaft brauchen sie 30 Leute, dann der Kiosk, der Zeltplatz, man braucht alle Hände. Und hinzu kommt: Im Sommer kommen alle Kinder der Inselbewohner nach Hause. Das ist eine ganz besondere Stimmung, gerade unter den Jugendlichen. Alle sind hier, tagsüber arbeiten sie, abends feiern sie bis spät in die Nacht. Kurzum: Urlaub macht man nicht während des Sommers. Deswegen haben wir hier auf den Erbseninseln - im Gegensatz zum Rest des Landes - zwei Wochen Herbstferien, anstatt nur eine und eine Woche im Winter. Für viele sind die Herbst- die eigentlichen Sommerferien, in denen man verreist. Und deswegen freuen sie sich so darauf."

    Die Kinder ziehen ihres Weges, Ingrid räumt noch einige Sachen zusammen, dann will sie auch nach Hause, um eine Kleinigkeit zu essen. Für Ingrid, die Lehrerin, ist der Tag vorbei, nicht aber für Ingrid, die Inselbewohnerin. Nachmittags trägt sie die Post aus, die das Boot gebracht hat. Zweimal die Woche betreut sie zudem die Bibliothek. Das Inselleben kennt viele familiäre Pflichten.



    "Als ob er wusste, dass März der erste Frühlingsmonat ist, stieg der Tag aus dem Meer herauf wie Frühling. Früher Frühling, gewiss, aber mit hohem, hohem Himmel und einer Sonne, die bis zur Haut durchdringt. Das Meer ist ganz einfarbig. Die Horizontlinie präzise aufgezogen wie eine blaue Kulisse, die die ganze Insel umgibt, festgehalten mit Tesafilm. Ein Tankschiff wippt ruhig auf der Kante wie eine Requisite in einem Puppentheater, geführt an einem Stöckchen hinter der Pappe. In all der Zeit, die ich hier bin, habe ich die Insel noch nie so still erlebt wie heute. Jørgensen wurde um ein Uhr bestattet, die Kirche war voll, und die Insel verharrte in nachdenklicher Totenstille. Ich war nicht mit in der Kirche. Wollte mich nicht aufdrängen.

    Jørgensen war einer der alten Fischer, einer von denen, die den Erbseninseln einen Sinn verliehen. Es werden weniger und weniger, die den Mut haben, sich mit EU-Restriktionen und Fangquoten auseinanderzusetzen. Einst verdienten sie Geld, viel Geld, mit der Fischerei. Aber jetzt sind es neue Zeiten, voll von Verordnungen und Fischereikontrollen.

    Jørgensen wurde 83. Nun segelt er das letzte Mal an Land, um in einer Woche in einer Urne mit dem Postschiff zurückzukehren."

    Bleibt die Frage, warum die Erbseninseln eigentlich Erbseninseln heißen.
    Und das weiß niemand ganz genau zu sagen. Vermutlich, weil sie aufgrund ihrer Größe auf einer Seekarte wie Erbsen aussehen.

    Fest steht, dass die Insulaner beruflich nichts, aber auch gar nichts mit Erbsen zu tun hatten und haben. Lange Zeit drehte sich naturgemäß alles um den Fisch.
    Die Inseln verfügten sogar über eine eigene kleine Flotte. Und sie waren zugleich Anlaufpunkt für Fischer aus Bornholm und Südschweden, die hier ihren Fang anlandeten, ihn säubern und sortieren ließen, um dann gleich wieder in See zu stechen. In den goldenen Herings-Zeiten der sechziger Jahre, da lebten noch 140 Menschen auf den Inseln - Anfang des 19. Jahrhunderts sogar mehr als 800. Die Fischer verdienten nicht schlecht.

    Doch das ist Ostsee-Schnee von gestern - Insel-Historie.


    Der Fischverkäufer
    Kurz vor 13 Uhr. Olav Ibsen Bang öffnet die Holztür seines Ladens im Hafen, klappt einen kleinen Tisch herunter, der als Schranke und Tresen dient, wendet ein Schild, auf dem nun "Geöffnet" steht. Jetzt außerhalb der Saison hat das Geschäft mit den eingelegten Heringsspezialitäten nur eine Stunde täglich auf, um eventuelle Tagesausflügler zu bedienen. Oft aber, sagt Olav, wartet er zu dieser Jahreszeit vergebens:
    "Noch vor 20 Jahren, da war es egal, ob man um 6 Uhr morgens oder um 6 Uhr, ja um 10 Uhr abends in den Hafen kam, hier war immer etwas los. Die Fischer hatten immer zu tun: säuberten und sortierten ihren Fang oder bereiteten die Netze und Schiffe für den nächsten Tag vor. Hier war immer Betrieb, im Unterschied zu heute."

    Olav Ibsen Bang hat das Leben am Meer geprägt. Mittelblauer Overall mit farblich passender Mütze, gegerbtes Gesicht, ein langer, grauer Bart, über der Oberlippe kurz gestutzt. Vor 30 Jahren kam der gebürtige Bornholmer auf die Erbseninseln. Damals hätte es hier noch 20 Fischerboote gegeben, berichtet der bald 70-Jährige. Zwischen einem Drittel bis zur Hälfte der Insulaner hätten von der Fischerei gelebt. Heute sei ein einziger Fischer übrig, was auch, aber gewiss nicht nur den vielen EU-Verordnungen geschuldet sei:

    "Früher fischte man in der Ostsee stets mit verhältnismäßig kleinen Schiffen - Einmannbooten, Zweimannbooten. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gab es dann diesen enormen Dorsch-Boom, man musste nur kurz auslaufen und hatte die Netze voll. Damals gaben einem die Banken jeden Kredit, aber die Raten mussten zurückbezahlt werden und so wurden aus den 20 Tonnen-Kuttern 220 Tonnen-Kutter. Die Fischer haben es damals schlichtweg übertrieben, sie haben das Meer leer gefischt."

    Olav bedient zwei Frauen, die am Morgen mit dem Schiff gekommen sind und in einer halben Stunde wieder abfahren. Seine Sätze klingen automatisiert - der Hering halte sich ein Jahr, auch im geöffneten Zustand. Zu Rührei und einem Stück Schwarzbrot schmecke er besonders gut.

    Heute, sagt Olav, ist der Dorsch in die Ostsee zurückgekehrt, die Gewässer vor den Inseln seien voll davon. Bereits sein Vater habe stets gesagt, auf sieben schlechte folgten sieben gute Jahre, die Natur reguliere sich selbst. Die Zeiten aber haben sich geändert. Selbst wenn die Voraussetzungen für ein neues Fischfang-Kapitel auf den Erbseninseln heute gegeben seien, so Olav, das gesellschaftliche Umfeld habe sich verändert:

    "Wie soll man die Leute anlocken? Früher folgte die Frau ihrem Mann, egal, wohin er ging. Heute haben die Frauen eine Ausbildung, einen eigenen Job. Selbst wenn ein Fischer überlegen sollte, sich hier auf Christiansö niederzulassen, ist nicht gesagt, dass seine Frau ihn begleitet. Denn bitte, was soll eine Frau mit Ausbildung und Karriere auf Christiansö?"

    Das Schiff ist abgefahren, Olav hat den Laden geschlossen, mit einem Bier in der Hand steht er im Innenhof des Kaufmannsladens, zusammen mit etwa einem Dutzend Insulanern. Fünf-Uhr-Treffen nennen sie das, obwohl es noch lange nicht fünf Uhr ist. Ein gemütliches Stelldichein, bei dem jeder willkommen ist und über die Dinge des Tages geplaudert wird; auch im Sommer ein touristenfreier Raum, in dem die Inselbewohner unter sich sind. Denn auch wenn die Fischerei passé und man nunmehr auf den Tourismus angewiesen sei, so Olav, sei es mit den Besuchern so eine Sache:

    "Ich sage stets, wenn man den Winter hier verbracht und tagtäglich die gleichen 100 dummen Gesichter gesehen hat, dann freut man sich im Frühjahr über die ersten Gäste. Von April bis zum 1. Oktober aber kommen dann - abhängig von Wind und Wetter – 60.000, 70.000, ja bis zu 80.000 Touristen, die überall rumtrampeln und die gleichen dummen Fragen stellen. Da hat man am Ende der Saison die Nase voll und freut sich, wenn der letzte Tourist abgefahren ist. Dann ist es wieder schön, unter uns zu sein."



    Das waren Gesichter Europas im Deutschlandfunk:

    Wenn die Ruhe zurückkehrt - Alltagsbilder von Dänemarks östlichstem Punkt,
    den Erbseninseln. Mit Reportagen von Marc-Christoph Wagner. Musikredaktion: Babette Michel. Die Auszüge aus dem Roman "Dampe" von Iselin Hermann wurden gelesen von Bert Cöll. Am Mikrofon war Henning von Löwis.