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Wenn die Welt verrutscht

Andreas Schendel wendet sich in seinem neuen Roman "Virág oder wenn die Welt verrutscht" einem sehr brisanten Thema zu: In Deutschland soll jedes zehnte Kind, manche Studien sagen sogar jedes fünfte, an psychosomatischen Störungen leiden. Auch Virág muss, wenigstens für kurze Zeit, in psychologische Behandlung.

Von Tanya Lieske | 15.05.2010
    Tanya Lieske: Herr Schendel, wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

    Andreas Schendel: Grundsätzlich glaube ich, dass die Themen eher zu einem selbst kommen. Das ist zwar ein Gemeinplatz, aber da ist schon was dran. Angefangen hatte es eigentlich als eine "Alice im Wunderland"-Geschichte, mit einem märchenhaften Anfang, und dann ist etwas anderes daraus geworden. Das Buch erzählt von sehr vielen verschiedenen Sachen: wie es ist, zweisprachig zu sein, wie es ist, elf Jahre alt zu sein, von Freundschaft und von diesem ganz starken Symbiosewunsch, den das Mädchen hat, also von dem Wunsch nach ganz starker Nähe. Dadurch wird dann auch von der Krankheit erzählt.

    Lieske: Virág wächst in Deutschland auf, ihre Mutter ist Ungarin, ihr Vater Deutscher. Sie wenden sich in Ihren Romanen sehr oft nach Ungarn, woher kommt das?

    Schendel: Angefangen hatte das mit mir und Ungarn mit einer Frau, in die ich mich verliebt hatte, und als die Frau dann weg war, musste ich irgendwohin mit meiner Liebe. Ich habe dann angefangen, die Sprache zu lernen, habe mich ins Land verliebt und habe eine Wohnung dort. Das hat aber nichts zu tun mit der Notwendigkeit in meiner Geschichte. Es hätte jedes andere Land auch sein können. Ungarn war eine Möglichkeit, so etwas wie eine Zweisprachigkeit zu thematisieren, also dass das Mädchen mit der Mutter eine eigene Sprache hat, die es mit dem Vater nicht teilt, die der Vater mit den anderen zwei Dritteln der Familie nicht teilt, auch die Angst des Mädchens vor Armut, dass die Familie durch die Arbeitslosigkeit des Vaters arm werden könnte, die konnte ich noch mal bildhaft machen an der ungarischen Großmutter. Aber ich konnte an der Großmutter auch ganz andere Sachen zeigen wie eine besondere Art von Herzlichkeit, die ich in Ungarn gefunden habe.

    Lieske: Wenn Virágs Welt verrutscht, dann heißt das, sie hat Sorge um die Ehe ihrer Eltern. Die streiten sich ja, Arbeitslosigkeit ist im Spiel, auch Alkohol, trotzdem ist es keine Extrembiografie. Virág lebt nicht in dem, was wir Prekariat nennen, sondern in einer mittelständischen, oberflächlich heilen Welt. Warum war Ihnen das wichtig, die Geschichte so exakt zu platzieren?

    Schendel: Ich glaube nicht, dass ich das bewusst platziert habe. Wie man so eine Geschichte erzählt, ist eher eine Frage von Stil und wie subtil man da vorgehen möchte. Mich interessiert dann eher das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen oder des Extremen im Gemäßigten. Wenn Sie einen Vater haben, der jede Woche einmal seine Frau durchprügelt und seine Kinder, dann ist da literarisch wenig offen, dann ist da viel geklärt. Wenn Sie aber jemanden haben, dem in zwanzig Jahren einmal die Hand ausrutscht, dann ist das literarisch gesehen viel interessanter, weil Sie dann die Frage haben, warum eigentlich? Und all die anderen kleinen Fragen, die sich daran anschließen.


    Lieske: Sie schreiben über ein sehr sensibles Thema, eine psychosomatische Störung. Virág kratzt sich, ihre Haut juckt, sie schreit, um auf ihre Not aufmerksam zu machen. Das ist schwierig, denn sie schreiben für die Zielgruppe zehn bis zwölf. Sie stellen auch sprachlich sowohl Nähe als auch Distanz her. Worauf haben Sie geachtet? War das ein sehr bewusster Prozess?

    Schendel: Die literarische Antwort wäre, dass ich auf rhythmisch gute und musikalische Sätze geachtet habe und darauf, dass Szenen nicht zu schnell oder zu langsam ablaufen, auf Figurenzeichnung. Was die Recherche angeht, habe ich darauf geachtet, das nicht zu romantisieren, also dass nicht der Verrückte der kranken Gesellschaft den Spiegel vorhält und der eigentlich Gesunde ist. Ich wollte die Krankheit, die dahinter steht, ernst nehmen und zeigen, dass Virág nicht die einzige Kranke ist, und dass die Umgebung mit krankt. Dass es innerhalb der Krankheit viel Gesundes gibt, und innerhalb des Gesunden viel Krankes.

    Lieske: Das Ende ist offen, haben Sie für sich in Gedanken Ihre Geschichte beendet?

    Schendel: Wenn ich Virág und die Krankheit und die Figur ernst nehme und alles, was ihr da auf den ersten 130 Seiten passiert ist, dann war das für mich das einzig mögliche Ende, ein relativ offenes Ende, und dass es einen Ausblick auf Heilung gibt und auf die Möglichkeit, ins Leben zurückzufinden. Dass es aber auch offen ist, weil Heilung nichts ist, was einmal Knall auf Fall passiert und danach ist man gesund, sondern dass Heilung eben ein andauernder Prozess ist. Also, das ist jetzt ein großer Satz, aber dass es darum geht, im Leben permanent weiter zu heilen. Dass das ein unabgeschlossener Prozess ist, in dem sich auch das Mädchen befindet.

    Lieske: Vielen Dank für das Gespräch.