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Wenn ein Menschenleben vom Klatsch der Nachbarn abhängt

In der Türkei wurden allein in den Jahren 2001 bis 2005 mehr als 1800 Frauen im Namen der Ehre ermordet. Die türkische Journalistin Ayse Önal hat mit denen gesprochen, die diese Frauen umgebracht haben und nun wegen Ehrenmordes in türkischen Gefängnissen einsitzen. Ihre Interviews wurden im türkischen Fernsehen ausgestrahlt. Nun hat sie ihre Berichte in einem Buch zusammengefasst. Gelesen hat es für uns Jeannette Cwienk.

    Ich war gerade nach Hause gekommen, als das Telefon klingelte. "Sie sind tot." Es war mein Kameramann. "Wer ist tot?" fragte ich. Ihre Schützlinge, sie starben bei einem Autounfall - in Österreich. Es schnürte mir die Kehle zusammen. "Sie meinen Remziye?" fragte ich. Stille. Dann: "Bis jetzt ist unklar, ob kriminelle Absichten dahinter stecken." Dann war die Leitung unterbrochen.
    Der Bericht von Ayse Önal beginnt wie ein Krimi. Die Mörder in ihrem Buch sind immer die gleichen. Es sind Brüder, Söhne, Väter. Ihre Opfer sind die eigenen Schwestern, Mütter oder Töchter. Das Mord-Motiv ist immer das Selbe: Es gilt, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Auch Remziye hat diese Ehre befleckt. Ihre Großfamilie ist vom Land nach Istanbul gezogen. Remziye wächst in einem streng religiösen Umfeld auf. Jedes kleine Vergehen wird mit Schlägen bestraft. Als man sie mit ihrem Cousin verheiraten will, läuft Remziye mit einem anderen Mann weg. Und damit ist die junge Frau dem Tod geweiht.

    "Töchter sind schwierig, Töchter sind eine Last auf den Schultern ihres Vaters" - sagt Nevzat. Er sitzt in Giresun, im Südosten der Türkei im Gefängnis, weil er seine Frau und seine Tochter erschossen hat. Das Mädchen war vom Sohn der Nachbarsfamilie geschwängert worden. Nevzat warf seiner Frau vor, von der Liebschaft gewusst und ihn damit zum Gespött der Nachbarschaft gemacht zu haben.

    "Ich habe einen Namen, ich kann nicht zulassen, dass die Menschen Gerüchte über mich verbreiten. Was, Frau, haben wir im Leben, außer unserer Ehre?"


    schreit Nevzat, als er von der Schwangerschaft erfährt. Dann betätigt er den Abzug. Die Täter, mit denen die Journalistin und studierte Psychologin Ayse Önal gesprochen hat, stammen aus einfachen Verhältnissen. Um zu überleben sind viele auf die Hilfe von Verwandten oder Nachbarn angewiesen. Der Druck, in der Gemeinschaft als achtbar zu gelten, ist enorm, erklärt die Autorin.

    "Die Täter sind in einem Dilemma: nur wenn sie die Frau töten, die "Schande" über die Familie gebracht hat, können sie wieder erhobenen Hauptes durch das Viertel gehen. Wenn sie es nicht tun, bekommen sie im Laden noch nicht einmal mehr Brot. Aber wenn sie es tun, ist zwar das Ansehen gerettet, doch ihr Leben zerstört."
    Die meisten Mörder, mit denen Önal gesprochen hat, bereuen ihre Tat. So wie Murat. Er war 18, als er seine Mutter mit drei Schüssen in den Bauch tötete. Sie hatte seinen Vater mit einem anderen Mann betrogen. Man stirbt mit dem Menschen, den man tötet, sagt Murat. Jeden Abend, wenn er zu Bett geht, erscheint seine Mutter vor seinem inneren Auge. Das, so sagt er, sei eine ewige Strafe. Doch es gibt auch die anderen. Diejenigen, die sich auch nach Jahren im Gefängnis als gerechte Hüter einer vermeintlichen Moral sehen. Mehmet Said etwa, der seine Schwester ermordete, weil sie ihren prügelnden Mann verließ und in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte.

    Energischen Schrittes ging Mehmet Said im Gefängnishof auf und ab. Dabei sagte er: Die Leute, die unsere Frauen anstiften, mit unseren Bräuchen zu brechen, die sind die wahren Mörder. Wir sind es, die den Abzug betätigen, doch der Auslöser seid ihr.

    "Bei der Polizei zollt man den Tätern Respekt. Denn auch der Polizist könnte einmal in dieselbe Situation geraten. In der Haft behandelt sie sogar die Gefängnismafia respektvoll und es gibt sogar eine besondere Bezeichnung für die Täter: Man nennt sie "Opfer des Schicksals"."

    Doch nicht nur Männer üben Gewalt aus. Es ist die eigene Mutter, die dem noch minderjährigen Bahri befiehlt, zuerst seinen Vater einzusperren und dann die Schwester auf offener Straße zu erschießen.

    "Wenn eine Mutter nicht deutlich zeigt, dass ihre Tochter eine Sünderin ist - egal, ob sie das wirklich denkt- bringt sie selber Schande über sich. Und es ist viel schlimmer, wenn eine Mutter Schande über sich bringt, als eine Tochter. Deswegen hetzen die Mütter oft am meisten gegen ihre Töchter."

    Über Ehrenmorde zu berichten, gilt in der Türkei immer noch als Tabu. Ein Jahr lang musste Ayse Önal auf die Genehmigung der Behörden warten, bevor sie mit den Tätern sprechen konnte. Die Journalistin reiste von Gefängnis zu Gefängnis, fuhr in die Heimatorte der Familien, sprach mit Verwandten, las Gerichtsakten und die Tagebücher der ermordeten Frauen.

    Herausgekommen ist ein Buch, das verstört. Önals Berichte nehmen den Leser mit, in eine völlig fremde Gesellschaft, in der ein Menschenleben vom Klatsch der Nachbarn abhängt. Die Autorin schreibt viel aus der Sicht der Frauen, die meist schon jahrelang vor dem Mord im Namen der so genannten Ehre misshandelt wurden. Trotzdem stellt sie die Täter, die sie interviewt, nie an den Pranger. Ihre eigenen Eindrücke finden Raum, doch im Vordergrund stehen die Berichte. Und die offenbaren immer wieder eine Doppelmoral. Denn oft verhalten sich die Täter nicht anders, als die Frauen, die sie hinrichten. Der junge Murat, der seine Mutter erschoss, weil sie Ehebruch beging, hatte selbst ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau. So genannte Ehrenmorde, so meint Ayse Önal, wird es so lange geben, wie sich Regierung und religiöse Führer nicht öffentlich dagegen stellen.

    "Wegen des Drucks seitens der EU hat die Regierung zwar die Gesetze verschärft - aber es hat sich nicht wirklich etwas geändert. Es muss sich etwas in den Köpfen ändern, nicht nur die Gesetze. Die Machthaber, die das religiöse Denken prägen, müssen die Morde an den Frauen ganz klar verurteilen."

    Jeanette Cwienk rezensierte Ayse Önal: "Warum tötet ihr? Wenn Männer für die Ehre morden". Das 330 Seiten starke Buch kommt aus dem Droemer Verlag und kostet 18 Euro und 95 Cent.