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Wenn ein Wirtschaftsboom wehtut

Die Probleme von EU-Staaten wie Portugal müssen den Einwohnern von Genf wie aus einer anderen Welt vorkommen. Die Region um den Genfer See boomt wie keine zweite in der ohnehin wohlhabenden Schweiz. Mehr als 250 internationale Konzerne haben ihre Europazentralen dorthin verlagert. Das schafft Arbeitsplätze - aber auch neue Probleme.

Von Pascal Lechler |
    Die Deutschschweizer Tagesschau berichtet in letzter Zeit häufig über die boomende Wirtschaft der Genfer See Region. Lange Zeit hinkte Genf in Sachen wirtschaftlicher Entwicklung Zürich hinterher. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Neben vielen Banken kommen die Firmenzentralen von Konsumgüterherstellern, IT und Rohstoffhändler nach Genf. Die zweitgrößte Stadt der Schweiz schickt sich beispielsweise an, London als das führende Erdölhandelszentrum abzulösen. Auch Londoner Hedgefonds wissen inzwischen die Diskretion der Genfer zu schätzen und verlegen ihre Büros an den Lac Leman. Einen Teil dieses Booms verdanken die Westschweizer einem Mann und das Philippe Monnier. Er ist Generaldirektor der Standortförderung Greater Geneva Berne Area. Im vergangenen Jahr gelang es Monnier und seinem Team, 60 neue Firmen und Konzerne insbesondere an die Ufer des Genfer Sees zu locken.

    Nicht zu vergessen die Lebensqualität im Genfer Seegebiet. Problematisch ist dagegen in zwischen die Entwicklung auf Immobilienmarkt: Büros werden knapp, und bezahlbare Wohnungen sind so gut wie nicht zu haben. Viele Firmen weichen deshalb aufs Land aus. Die Kleinstadt Nyon rund 25 Kilometer nordöstlich von Genf ist inzwischen nicht nur Sitz des europäischen Fußballverbands, sondern auch vieler internationaler Konzerne. Der von den Grünen aufgestellte Bürgermeister Daniel Rossellat begrüßt zwar die positive wirtschaftliche Entwicklung. Er gibt aber zu bedenken, dass viele der internationalen Konzerne ihre eigenen Mitarbeiter mitbrächten. Neue Arbeitsstellen für Schweizer Fehlanzeige. Rossellat ärgert außerdem, dass seine kleine Stadt für die Neubürger Millionen in die Infrastruktur investieren müsste, der Kanton aber den Löwenanteil der Unternehmenssteuereinnahmen kassiere.

    "Daher müsste man meiner Meinung nach etwas die Geschwindigkeit der Entwicklung drosseln. Wir müssen die Rückstände bei der Infrastruktur erst einmal aufholen. Denn die Neuankömmlinge brauchen ja nicht nur neue Wohnungen, sondern Parkplätze, Schulen außerdem Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Also wir müssen viel investieren, um all diese neuen Leute hier aufnehmen zu können."

    Zurück in Genf. Die Stadt erstickt mittlerweile im Autoverkehr. Mit den vielen neuen Firmen entstehen im westlichsten Kanton der Schweiz jährlich 10.000 neue Arbeitsplätze. Grundlage für den Boom ist nicht zuletzt auch die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarkts für EU-Bürger gewesen. Seit der Verabschiedung der sogenannten Bilateralen Verträge mit der EU hat sich die Zahl der Pendler aus dem umliegenden Frankreich, die jeden Tag nach Genf zum Arbeiten fahren auf 80.000 vervierfacht. Die Infrastruktur hat aber mit dieser rasanten Entwicklung nicht schrittgehalten. Viele Genfer haben mittlerweile das Gefühl, jeden Morgen von Grenzgängern aus dem nahen Frankreich regelrecht überrollt zu werden. Die Protestbewegung Mouvement Citoyen Genevois, kurz MCG, sieht in den Grenzgängern, die Ursache für den Verkehrskollaps. Bei den letzten Kommunalwahlen bekam die Protestpartei auf Anhieb 11 Sitze im 80 Abgeordnete umfassenden Stadtparlament. Am kommenden Sonntag könnte MCG Vizepräsident Carlos Medeiros sogar in die Genfer Stadtregierung gewählt werden. Medeiros selbst portugiesischer Einwanderer und mit einer Polin verheiratet, meint, dass die französischen Grenzgänger, den Genfern die Jobs wegnähmen. Deshalb müsse die Schweiz die Grenzen wieder dichtmachen.

    "Ich denke, die Genfer haben die Nase voll von einer Entwicklung, die zwar jedes Jahr zur Schaffung von 10.000 Arbeitsplätzen führt, von der am Ende aber nur die Grenzgänger aus Frankreich profitieren. Frankreich hat 2,6 Millionen Arbeitslose. Die Genfer fragen sich, ob sie die bald alle hier aufnehmen müssen."

    Mit populistischen Parolen wird Medeiros vielleicht am Sonntag ins Genfer Rathaus einziehen. Insgeheim ist dem gebürtigen Portugiesen aber auch klar, dass man die Uhren nicht mehr zurückdrehen und einfach wieder die Grenzen der Schweiz dichtmachen kann.