Archiv


Wenn Erwachsene wieder laufen lernen

Jährlich erleiden über 200.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Jeder dritte Betroffene ist danach zunächst auf einen Rollstuhl angewiesen. Schlaganfall-Patienten müssen oft ganz neu lernen, zu gehen oder Treppen zu steigen. Eine schwierige Aufgabe für Patienten und Therapeuten. Forscher haben gestern in Berlin eine neuartige technische Lern-Hilfe, einen so genannten "Haptic Walker", vorgestellt.

Von William Vorsatz |
    Von einem drei Meter hohen Gerüst hängt ein Gurt herab. In Kniehöhe darunter befinden sich große bewegliche Fußplatten. Der Ingenieur Henning Schmidt vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstuktionstechnik:

    " Der Patient kommt im Rollstuhl zur Maschine hin, der Patientenlifter wird hier nach vorne gefahren, und dieser Gurt, mit dem er dann gesichert wird am Oberkörper, wird abgesenkt, und kann ihm auch im Bedarfsfall im Rollstuhl angelegt werden. So, das machen wir jetzt. "
    Dann wird der Patient aus dem Rollstuhl hinausgezogen und über die beweglichen Fußplatten geschwenkt. Wie in einem Fallschirm hängt er jetzt in den Gurten. Seine Füße setzten sanft auf den Platten auf. Nun schnallen die Helfer die Schuhe an den Platten fest. Allerdings mit Sicherheitsbindungen, denn die Maschine kann Kräfte entwickeln, die ein Bein abreißen. Anschließend wählt der Bediener am Computer ein Trainingsprogramm.

    Langsam setzten sich die Fußplatten in Bewegung. Nach vorn, nach hinten. Auf und ab. Zunächst wird das normale Gehen auf ebenem Boden simuliert. Erst langsam, dann schneller. Sensoren unter den Schuhen messen genau, wie stark die Füße belastet werden. Je nach dem bewegen sich die Platten stärker oder schwächer. Deshalb heißt der Roboter auch Haptic Walker, frei übersetzt ein tastender Fußgänger. Aber so sanft und intelligent diese Bewegungen auch sein mögen: sie wirken nur von außen auf den passiven Patienten. Nutzen sie ihm überhaupt? Professor Stefan Hesse von der Berliner Charité:

    " Das Gehen ist bei uns so in uns angelegt, wenn wir entsprechend bewegt werden, machen die Muskeln automatisch mit. Man kennt das auch von der Beatmungssituation von der Intensivstation. Wenn Sie, einen Patienten beatmen, so könnte ja die Atemmuskulatur sich ruhig verhalten. Aber die macht sofort mit. Zyklusphasengerecht, also zeitgerecht. Und das selbe Phänomen sehen wir auch bei unseren Patienten, die werden zwar bewegt, aber die Muskulatur springt sofort entsprechend der natürlichen Bewegung ein."

    Nicht nur das. Wenn die Muskulatur wieder arbeitet wie früher, wird dadurch auch das Nervensystem beeinflusst. Im motorischen Zentrum des Gehirns entstehen erneut Nervenverbindungen wie früher vor der Schädigung. Das ursprüngliche Bewegungsgedächtnis wird reaktiviert.

    " Jetzt steigt der Patient Treppe, und das ist die Weltleistung, dass dieses Gerät erstmalig mit einem Rollstuhlpatienten das voll geführte Treppensteigen üben kann. "

    Treppe auf, Treppe ab, vorwärts gehen, dann rückwärts: Was immer der Patient wieder erlernen möchte: der Haptic Walker ist frei programmierbar und ermöglicht Übungen genau nach Bedarf. Der Patient sollte damit drei bis vier Wochen lang täglich 20 Minuten üben. Das entspricht achthundert bis tausend Schritten. Bei herkömmlichen Therapien mit Physiotherapeuten werden pro Einheit lediglich 80 Schritte geübt werden. Bisher hat die gemeinsame Arbeitsgruppe von Charité, Fraunhofer-Institut und Technischer Universität Berlin den neuen Roboter mit hundert Probanden getestet und deren Muskelaktivität gemessen, erläutert Projektleiter Henning Schmidt:

    " Das heißt, Elektroden werden auf die Muskeln, auf das Bein direkt aufgeklebt, und auf diese Weise dann die Aktivität der Muskeln erfasst. Während des Gehens. Und es hat sich gezeigt, das bei dem Gehen auf dem Haptic Walker sich die gleichen Muskelaktivierungsmuster ergeben wie beim freien Gehen, das freie Gehen auf der Ebene oder Treppe auf Treppe abwärts, da wir genau nach Möglichkeit dieser Aktivierungsmuster, die da auftreten, auch auf der Maschine erreichen. "

    Schon mit einem einfacheren Vorgängermodell haben die Techniker und Ärzte geschafft , dass kurz nach einem Schlaganfall doppelt so viele Patienten den Rollstuhl verlassen konnten und erste Schritte wagten, wenn sie zuvor mit der Maschine trainiert hatten. Professor Hesse:

    " Die ganzen Geräte zielen nicht darauf, Therapeuten zu ersetzten, sondern sind Komplementärgeräte, die dazu dienen, schwer betroffenen Patienten eine höhere Übungsintensität zu ermöglichen. Wenn sie schwer betroffen sind, so brauchen sie Ansprache, und brauchen eine Patienten-Therapeuten-Interaktion. Die tröstende Worte spenden kann, die Perspektive und Hoffnungen aufzeichnen kann. "

    Therapeuten haben Erfahrung und spüren mit den Händen. Das können auch die ausgefeilteste Software und die empfindlichsten Sensoren nicht leisten.