Katherina Strohbach: " Das waren drei Damen aus Polen. die eine war als Kind nach Österreich gekommen, in eine österreichische Familie, dort aufgewachsen. Ist dann später durch die Amerikaner von ihren Eltern weggeholt worden zurück nach Polen. Aber sie sprach gar kein Polnisch, nur Deutsch; sie musste sich dort erst wieder zurechtfinden. ... Die Dame ist im Gespräch in Tränen ausgebrochen, weil es sie so bewegt hat. Sie hat versucht, ihre Familie wieder zu finden in Österreich. Aber da ihr die Behörden solche Steine in den Weg legen, ist das bis heute nicht gelungen. Das ist bewegend, weil das ihre Familie war, und sie kannte niemanden andern. "
Katharina Strohbach, Schülerin des Jahrgangs 13 am BMV-Gymnasium in Essen, schildert das bittere Schicksal eines polnischen Kriegskindes. Anna Zielinska war als Kleinkind 1944 in Warschau geraubt und zur Germanisierung in eine Familie nach Österreich deportiert worden. Nach dem Krieg erzwangen die polnischen Behörden ihre Rückkehr und steckten die vierjährige in wechselnde Kinderheime. So hat Anna die Mutter gleich zweimal verloren, die leibliche konnte sie nicht kennen lernen, die Adoptivmutter hat sie niemals wieder gesehen.
Die erwachsene Anna Zielinska war im vergangenen Jahr gemeinsam mit zwei anderen Polinnen als Zeitzeugin eingeladen. An einem Abend hat sie 25 Schülerinnen der BMV-Schule ihr Schicksal erzählt. Die Begegnung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen war eine außergewöhnliche Veranstaltung, ein Dialog zwischen verschiedenen Generationen und zugleich ein Verständigungsversuch über die politischen und sprachlichen Grenzen hinweg. Justine und zwei Mitschülerinnen, Töchter aus Spätausiedlerfamilien, halfen beim Dolmetschen. So erfuhren die anderen aus dem Mund einer Klassenkameradin, was die polnischen Kriegskinder durchgemacht hatten.
" Ja, das war schwierig, es gibt wie im Deutschen und im Englischen bestimmte Sprichwörter, die man sagt um bestimmte Erfahrungen und Situationen zu äußern, und das war bei der Dame genauso, sie hat viel erlebt, man musste überlegen, wie man das ihr gerecht übersetzen konnte, so dass die anderen es zumindest teilweise verstehen konnten, wir selber hatten keine Problem damit wir wussten was sie genau meinte. "
Die Schülerinnen hatten sich mit ihrem Geschichtslehrer Andreas Günther auf das Gespräch vorbereitet, hatten auch zu Hause die familiäre Vergangenheit recherchiert. Die drei Polinnen waren über die Neugier und die Anteilnahme der jungen Deutschen sehr erleichtert. Hatten sie doch im Vorfeld erhebliche Bedenken und auch Ängste, dass sie von den Jugendlichen nicht verstanden, wegen ‚der alten Geschichten' nicht ernst genommen, womöglich gar heimlich verlacht würden. Denn auch in ihrem polnischen Heimatland hatten viele über ihre Kriegskindheit nicht sprechen können, weil ihre Erfahrungen Jahrzehnte lang nicht in den ideologischen Rahmen der offiziellen Erinnerung passten, und auch weil die erlittene Gewalt die Opfer nicht selten stumm macht.
" Es ist schwer für die Betroffenen - was wir auch bei allen anderen Gewalterfahrungen in der Gegenwart erleben - dass es eben Erfahrungen gibt in einer solchen elementaren Tiefe und Schrecklichkeit, dass es für die Betroffenen sehr schwer ist, vor allem wenn sie sie als Kinder erlebt haben, dann darüber zu sprechen.
Wenn diese Gewalterfahrungen zum Beispiel bedeuten, dass ihre Eltern umgekommen, ermordet, erschlagen worden sind, die Kinder vielleicht die einzigen Überlebenden der Familie gewesen sind, dass die Geschwister nicht weiterleben, allein dass schon ist für jeden Menschen schwer, wenn er nicht lernt überhaupt darüber zu sprechen, überhaupt damit umzugehen. "
Michaela Hänke-Portscheller, Historikerin am der Universität Bielefeld, hatte die polnischen Zeitzeugen zu Gesprächen nach Deutschland einzuladen. Aber es handelte sich nicht allein um eine einmalige Geste. Michaela Hänke-Portscheller verband damit ein neues Konzept von Geschichtskultur. Sie nennt es Dialogische Erinnerungsarbeit am Beispiel des Zweiten Weltkrieges. Im Zentrum steht die Begegnung mit Zeitzeugen. Diese sollen aber nicht über ihre Erlebnisse monologisieren, sondern in ein wirkliches Gespräch eintreten - mit wechselnden Rollen, so wie die drei Polinnen im Gegenzug auch den Schülerinnen Fragen gestellt haben.
" Unsere Überlegung läuft darauf hinaus, dass auch in einer Bildungssituation, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, diese Bildung nicht auf einen Rutsch zu haben ist, dass nicht einmal gelernt werden kann, sondern dass solche Situationen die Türen öffnen sollen, zum Nachdenken, zum Fragen, zum Aushalten, d.h. dass es ein langfristiger Prozess ist, der angestoßen werden soll, und dass darin sämtliche Medien des historischen Wissens und der Auseinandersetzung ihren Ort bekommen. "
Bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte geht es nicht allein darum, dass die historische Wahrheit gefunden und dann ein für alle Mal festgeschrieben wird. Es gilt auch, Verständnis und Vertrauen zwischen den Menschen wiederherzustellen. Denn die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern, Mitläufern und Exilanten sind manchmal auf Generationen hin vergiftet. Das betrifft die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, aber ebenso Diktaturen in der ganzen Welt.
Die Wunden der Geschichte heilen nur allmählich und müssen immer wieder versorgt werden. Erinnern, wiederholen, durcharbeiten - so nannte Sigmund den langwierigen Prozess, in dem seelische Krankheiten überwunden werden können.
Wir haben es, betont Michaela Hänke-Portscheller, mit einer Zeitgeschichte zu tun, die noch qualmt. Der Generationsdialog ist kein Selbstläufer. Die Organisation solcher Gespräche, samt ihrer Vor- und Nachbereitung, erfordert theoretische, methodische und didaktische Überlegungen.
Deshalb haben Michaela Hänke-Portscheller und Prof. Jürgen Zinneker an diesem Wochenende zu einem Workshop ans Kulturwissenschaftliche Institut in Essen eingeladen.
Mit dabei ist Aleida Assmann, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin aus Konstanz, die die Diskussion um das kulturelle Gedächtnis in den 90er Jahren angestoßen hat. Das Thema ist auch politisch brisant in einer historischen Phase, wo die Generation derer, die Krieg und nationalsozialistische Barbarei erlebt haben, stirbt. Das wirft die Frage auf, wie sich persönliche Erinnerung in ein kollektives historisches Gedächtnis übertragen lässt.
Aleida Assmann:
" In Deutschland haben wir folgendes Problem. Das hat Harald Welzer in dem Buch "Opa war kein Nazi" sehr schön auf den Begriff gebracht: Es gibt zwei Zugänge zur Geschichte, das eine ist das Familienalbum, was die Familie erlebt hat an Geschichte, und auf der anderen Seite gibt es das Geschichtslexikon. Und im Geschichtslexikon lernen wir etwas über Auschwitz, aber das lernen wir überhaupt nicht im Familienalbum, so dass wir zwei Stränge haben, die gar nichts miteinander zu tun haben.
Und was in den nächsten beiden Generationen wichtig ist, ist, dass diese beiden Stränge aufeinander bezogen werden, ... Es geht darum zur deutschen Geschichte ein individuelleres Verhältnis zu haben, das nicht als einen abstrakten Klotz zu lernen, zu dem wir keine Beziehung haben, sondern das zu lokalisieren auf Geschichten vor Ort, auf Häuser, auf konkrete Gegenstände, die wir kennen, Personen. die wir anfassen können, auf konkrete Erfahrung, das wäre ein ganz wichtige Entwicklung. "
Im Dialog mit Zeitzeugen erhält die Geschichte ein konkretes Gesicht. Sie ist kein Abstraktum aus Daten und Zahlen, sondern ein lebendiger Zusammenhang, Persönliche Erinnerungen, zumal an dramatische Ereignisse, wenden sich nicht allein an den Kopf, sie setzen im Erzählen Gefühle frei, bei allen Beteiligten. Wie soll man mit diesen Emotionen umgehen, ohne sich ihnen einfach zu überlassen und aufs Denken zu verzichten?
Dieses Spannungsverhältnis will der Workshop nicht allein begrifflich, mit den Mitteln der Geschichts- und Kulturwissenschaften aufarbeiten. Michaela Hänke-Portscheller baut auch auf Unterstützung von Seiten der Kunst.
" Unsere Erfahrung ist, dass es Bereiche gibt, die in diesem Aufeinanderprallen von Denken und Fühlen schon sehr viel Erfahrungen gemacht haben, das ist im Bereich des Theaters, viele unterschiedliche Ansätze der theatralischen Inszenierung, die mit solchen Dingen arbeiten.
Und da bin ich ganz besonders glücklich, dass bei diesem Workshop nicht nur Aleida Assmann dabei ist, sondern auch die Regisseurin Mirjam Strunk, die hier am Grillo-Theater in Essen eine Inszenierung gemacht hat mit verschiedenen Personen der älteren Generation zu den Erfahrungen im Krieg, Und sie hat also mit dieser Gruppe von Leuten, die allein sind, über eine Inszenierung gearbeitet, bei der jede Vorstellung ausverkauft gewesen ist, und Miriam Strunk macht gerade wieder eine Inszenierung bei der ältere und jüngere Leute gemeinsam ein Theaterstück erarbeiten, bei diesem Theaterstück geht es dann um Liebe. "
Eine andere Arbeitsgruppe auf diesem Workshop widmet sich der Frage, wie persönliches Erleben von Geschichte schriftlich gestaltet wird, sich als Literatur an die Öffentlichkeit wendet. Diesen Aspekt hat Dieter Menne vorbereitet, pensionierter Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Gelsenkirchen.
" Ich bin in dem Zusammenhang auf die Idee gekommen, mal zu fragen, wie gehen prominente Vertreter, die ihrer autobiographischen Erinnerungen gerade veröffentlicht haben, mit ihrer Kriegserfahrung um. Ich werde also eine kleine Arbeitsgruppe zu inspirieren versuchen, die sich mit den Erinnerungen von Günter Grass, Joachim Fest und Rolf Schörken befasst, und ich habe in den entsprechenden Autobiographien Stellen herausgesucht, an denen man nun deutlich sehen kann, wie nach über 60 Jahren die Kriegserfahrung behandelt wird, und für mich ist das Interessante, dass innerhalb dieser Textgattung ‚autobiographische Erinnerung' drei verschiedene Sorten vorliegen, und ich werde versuchen in dem Workshop auf dem Hintergrund der Sozialisationsbedingungen des Dritten Reiches diese drei Sorten gründlich zu besprechen, um mit den Teilnehmern herauszufinden: womit muss man heute eigentlich rechnen, wenn man sich z. B. in der Schule mit Zeitzeugen in ein Gespräch begibt. "
Wie in der literarischen Form des Familienromans Zeitgeschichte behandelt wird, beschäftigte auch Aleida Assmann im zweiten Teil ihrer aktuellen Essener Vorlesungsreihe "Geschichte im Gedächtnis". Die öffentlichen Vorträge durchschreiten das thematische Feld und betrachten in welcher Weise Vergangenheit bewahrt oder auch ausgelöscht ist. Sukzessive weitet Aleida Assmann von Abend zu Abend die Perspektive: sie begann bei der Erfahrungsgeneration, schritt dann weiter zur Familiengeschichte. Heute Abend spricht sie über Historie im städtischen Raum, und beendet am 15. Februar ihr Panorama mit Überlegungen zu Medien und Museen als Geschichtsvermittler.
Ihre öffentliche Vorlesung flankiert inhaltlich den anstehenden Workshop, der zwar als Arbeitstreffen internen Charakter hat, aber nur um die nächsten Schritte nach draußen vorzubereiten. Michaela Hänke-Portscheller:
" Am zweiten Tag des Workshops sollen auf diesem Hintergrund der theoretischen Erfahrung die Konsequenzen gezogen werden. Dann soll tatsächlich geplant werden, wie wir ganz konkrete Projekte hier im Ruhrgebiet mit den Vertretern und Institutionen der Geschichtskultur in den nächsten Jahren aufbauen können - konkret mit Schulen, mit Einrichtungen der Lehrerbildung, mit Universitäten, ... wir haben auch Vertreter von Gedenkstätten und Museen hier im Ruhrgebiet dabei. ... Und das wollen wir dann möglichst genau und ideenreich planen, wie man auf dem Hintergrund eines solchen Ansatzes Projekte entwickeln, wie man sich vernetzen und untereinander kommunizieren kann - und das ist keine einfache Angelegenheit. "
Andreas Günther, ein andrer Teilnehmer des Workshops, repräsentiert selbst ein solches Feld der Anwendung. Er ist Geschichtslehrer an der BMV-Schule in Essen und hatte die Schülerinnen auf den Dialog mit den so genannten Kriegskindern vorbereitet. Andreas Günther sieht im Konzept des Generationendialogs eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Geschichtsunterricht.
" Es gibt dem Geschichtsunterricht das Element der Anschaulichkeit. Üblicherweise haben wir es mit abstrakten Vorgängen zu tun, wir haben selten konkrete Personen, die als Opfer sichtbar werden, wir haben häufig Statistiken, Zahlen, schriftliche Zeugnisse, aber keine leibhaftigen Menschen vor der Nase, die ihre Perspektive des Geschehens darlegen. Und das ist gerade der große Vorzug eines solchen Projektes, dass hier der Perspektive der Opfer verknüpft wird mit einem realen Antlitz, und für die Schülerinnen dadurch sehr viel deutlicher wird, welche Macht Geschichte, Vergangenheit in diesem Fall bis ins hohe Alter hat, dass ganze Lebenswege geprägt werden durch frühkindliche Erfahrungen, die wir glücklicherweise nicht gehabt haben, es ermöglicht den jungen Leuten solche Erfahrungen ein Stück weit nachzuvollziehen. Und damit den Sinn einer Auseinandersetzung mit Vergangenheit erfahren zu können. "
Und was denken die Schüler selbst?
Inzwischen wächst die dritte Generation heran. Die erste war noch geprägt von Krieg und Nationalsozialismus, den sie selber erfahren hat.
Die zweite Generation begehrte gegen das Schweigen der Eltern auf, klagte an und forderte Rechenschaft. Aber sie verhedderte und verhärtete sich in ihrem Protest.
Die neue, die dritte Generation scheint nicht mehr befangen, nicht mehr gefangen im düstersten Kapitel deutschen Geschichte. Aber mit wachsendem Zeitabstand läuft sie Gefahr, die Geschichte selbst zu vergessen. Dem könnten neue Konzepte wie der Generationendialog entgegenwirken, meint die Schülerin Ann-Christin Conzelmann .
" Ich finde es gut, wenn das in den Unterricht eingebaut wird, wenn dass viele Klassen machen würden, denn das ist eine gute Synthese gewesen zwischen Theorie, die man eher hier in der Schule lernt, und der Praxis, die da entstanden ist, und das ist eine neue Geschichtskultur, weil man sich mit den Zeitzeugen so unterhalten kann, und dann auch eine eigene Stellung zur Generation der Täter hat, und diese Ambivalenzen auch dann akzeptieren und verstehen kann und sich die Beziehungen verbessern und man besser damit umgehen kann. "
Katharina Strohbach, Schülerin des Jahrgangs 13 am BMV-Gymnasium in Essen, schildert das bittere Schicksal eines polnischen Kriegskindes. Anna Zielinska war als Kleinkind 1944 in Warschau geraubt und zur Germanisierung in eine Familie nach Österreich deportiert worden. Nach dem Krieg erzwangen die polnischen Behörden ihre Rückkehr und steckten die vierjährige in wechselnde Kinderheime. So hat Anna die Mutter gleich zweimal verloren, die leibliche konnte sie nicht kennen lernen, die Adoptivmutter hat sie niemals wieder gesehen.
Die erwachsene Anna Zielinska war im vergangenen Jahr gemeinsam mit zwei anderen Polinnen als Zeitzeugin eingeladen. An einem Abend hat sie 25 Schülerinnen der BMV-Schule ihr Schicksal erzählt. Die Begegnung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen war eine außergewöhnliche Veranstaltung, ein Dialog zwischen verschiedenen Generationen und zugleich ein Verständigungsversuch über die politischen und sprachlichen Grenzen hinweg. Justine und zwei Mitschülerinnen, Töchter aus Spätausiedlerfamilien, halfen beim Dolmetschen. So erfuhren die anderen aus dem Mund einer Klassenkameradin, was die polnischen Kriegskinder durchgemacht hatten.
" Ja, das war schwierig, es gibt wie im Deutschen und im Englischen bestimmte Sprichwörter, die man sagt um bestimmte Erfahrungen und Situationen zu äußern, und das war bei der Dame genauso, sie hat viel erlebt, man musste überlegen, wie man das ihr gerecht übersetzen konnte, so dass die anderen es zumindest teilweise verstehen konnten, wir selber hatten keine Problem damit wir wussten was sie genau meinte. "
Die Schülerinnen hatten sich mit ihrem Geschichtslehrer Andreas Günther auf das Gespräch vorbereitet, hatten auch zu Hause die familiäre Vergangenheit recherchiert. Die drei Polinnen waren über die Neugier und die Anteilnahme der jungen Deutschen sehr erleichtert. Hatten sie doch im Vorfeld erhebliche Bedenken und auch Ängste, dass sie von den Jugendlichen nicht verstanden, wegen ‚der alten Geschichten' nicht ernst genommen, womöglich gar heimlich verlacht würden. Denn auch in ihrem polnischen Heimatland hatten viele über ihre Kriegskindheit nicht sprechen können, weil ihre Erfahrungen Jahrzehnte lang nicht in den ideologischen Rahmen der offiziellen Erinnerung passten, und auch weil die erlittene Gewalt die Opfer nicht selten stumm macht.
" Es ist schwer für die Betroffenen - was wir auch bei allen anderen Gewalterfahrungen in der Gegenwart erleben - dass es eben Erfahrungen gibt in einer solchen elementaren Tiefe und Schrecklichkeit, dass es für die Betroffenen sehr schwer ist, vor allem wenn sie sie als Kinder erlebt haben, dann darüber zu sprechen.
Wenn diese Gewalterfahrungen zum Beispiel bedeuten, dass ihre Eltern umgekommen, ermordet, erschlagen worden sind, die Kinder vielleicht die einzigen Überlebenden der Familie gewesen sind, dass die Geschwister nicht weiterleben, allein dass schon ist für jeden Menschen schwer, wenn er nicht lernt überhaupt darüber zu sprechen, überhaupt damit umzugehen. "
Michaela Hänke-Portscheller, Historikerin am der Universität Bielefeld, hatte die polnischen Zeitzeugen zu Gesprächen nach Deutschland einzuladen. Aber es handelte sich nicht allein um eine einmalige Geste. Michaela Hänke-Portscheller verband damit ein neues Konzept von Geschichtskultur. Sie nennt es Dialogische Erinnerungsarbeit am Beispiel des Zweiten Weltkrieges. Im Zentrum steht die Begegnung mit Zeitzeugen. Diese sollen aber nicht über ihre Erlebnisse monologisieren, sondern in ein wirkliches Gespräch eintreten - mit wechselnden Rollen, so wie die drei Polinnen im Gegenzug auch den Schülerinnen Fragen gestellt haben.
" Unsere Überlegung läuft darauf hinaus, dass auch in einer Bildungssituation, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, diese Bildung nicht auf einen Rutsch zu haben ist, dass nicht einmal gelernt werden kann, sondern dass solche Situationen die Türen öffnen sollen, zum Nachdenken, zum Fragen, zum Aushalten, d.h. dass es ein langfristiger Prozess ist, der angestoßen werden soll, und dass darin sämtliche Medien des historischen Wissens und der Auseinandersetzung ihren Ort bekommen. "
Bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte geht es nicht allein darum, dass die historische Wahrheit gefunden und dann ein für alle Mal festgeschrieben wird. Es gilt auch, Verständnis und Vertrauen zwischen den Menschen wiederherzustellen. Denn die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern, Mitläufern und Exilanten sind manchmal auf Generationen hin vergiftet. Das betrifft die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, aber ebenso Diktaturen in der ganzen Welt.
Die Wunden der Geschichte heilen nur allmählich und müssen immer wieder versorgt werden. Erinnern, wiederholen, durcharbeiten - so nannte Sigmund den langwierigen Prozess, in dem seelische Krankheiten überwunden werden können.
Wir haben es, betont Michaela Hänke-Portscheller, mit einer Zeitgeschichte zu tun, die noch qualmt. Der Generationsdialog ist kein Selbstläufer. Die Organisation solcher Gespräche, samt ihrer Vor- und Nachbereitung, erfordert theoretische, methodische und didaktische Überlegungen.
Deshalb haben Michaela Hänke-Portscheller und Prof. Jürgen Zinneker an diesem Wochenende zu einem Workshop ans Kulturwissenschaftliche Institut in Essen eingeladen.
Mit dabei ist Aleida Assmann, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin aus Konstanz, die die Diskussion um das kulturelle Gedächtnis in den 90er Jahren angestoßen hat. Das Thema ist auch politisch brisant in einer historischen Phase, wo die Generation derer, die Krieg und nationalsozialistische Barbarei erlebt haben, stirbt. Das wirft die Frage auf, wie sich persönliche Erinnerung in ein kollektives historisches Gedächtnis übertragen lässt.
Aleida Assmann:
" In Deutschland haben wir folgendes Problem. Das hat Harald Welzer in dem Buch "Opa war kein Nazi" sehr schön auf den Begriff gebracht: Es gibt zwei Zugänge zur Geschichte, das eine ist das Familienalbum, was die Familie erlebt hat an Geschichte, und auf der anderen Seite gibt es das Geschichtslexikon. Und im Geschichtslexikon lernen wir etwas über Auschwitz, aber das lernen wir überhaupt nicht im Familienalbum, so dass wir zwei Stränge haben, die gar nichts miteinander zu tun haben.
Und was in den nächsten beiden Generationen wichtig ist, ist, dass diese beiden Stränge aufeinander bezogen werden, ... Es geht darum zur deutschen Geschichte ein individuelleres Verhältnis zu haben, das nicht als einen abstrakten Klotz zu lernen, zu dem wir keine Beziehung haben, sondern das zu lokalisieren auf Geschichten vor Ort, auf Häuser, auf konkrete Gegenstände, die wir kennen, Personen. die wir anfassen können, auf konkrete Erfahrung, das wäre ein ganz wichtige Entwicklung. "
Im Dialog mit Zeitzeugen erhält die Geschichte ein konkretes Gesicht. Sie ist kein Abstraktum aus Daten und Zahlen, sondern ein lebendiger Zusammenhang, Persönliche Erinnerungen, zumal an dramatische Ereignisse, wenden sich nicht allein an den Kopf, sie setzen im Erzählen Gefühle frei, bei allen Beteiligten. Wie soll man mit diesen Emotionen umgehen, ohne sich ihnen einfach zu überlassen und aufs Denken zu verzichten?
Dieses Spannungsverhältnis will der Workshop nicht allein begrifflich, mit den Mitteln der Geschichts- und Kulturwissenschaften aufarbeiten. Michaela Hänke-Portscheller baut auch auf Unterstützung von Seiten der Kunst.
" Unsere Erfahrung ist, dass es Bereiche gibt, die in diesem Aufeinanderprallen von Denken und Fühlen schon sehr viel Erfahrungen gemacht haben, das ist im Bereich des Theaters, viele unterschiedliche Ansätze der theatralischen Inszenierung, die mit solchen Dingen arbeiten.
Und da bin ich ganz besonders glücklich, dass bei diesem Workshop nicht nur Aleida Assmann dabei ist, sondern auch die Regisseurin Mirjam Strunk, die hier am Grillo-Theater in Essen eine Inszenierung gemacht hat mit verschiedenen Personen der älteren Generation zu den Erfahrungen im Krieg, Und sie hat also mit dieser Gruppe von Leuten, die allein sind, über eine Inszenierung gearbeitet, bei der jede Vorstellung ausverkauft gewesen ist, und Miriam Strunk macht gerade wieder eine Inszenierung bei der ältere und jüngere Leute gemeinsam ein Theaterstück erarbeiten, bei diesem Theaterstück geht es dann um Liebe. "
Eine andere Arbeitsgruppe auf diesem Workshop widmet sich der Frage, wie persönliches Erleben von Geschichte schriftlich gestaltet wird, sich als Literatur an die Öffentlichkeit wendet. Diesen Aspekt hat Dieter Menne vorbereitet, pensionierter Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Gelsenkirchen.
" Ich bin in dem Zusammenhang auf die Idee gekommen, mal zu fragen, wie gehen prominente Vertreter, die ihrer autobiographischen Erinnerungen gerade veröffentlicht haben, mit ihrer Kriegserfahrung um. Ich werde also eine kleine Arbeitsgruppe zu inspirieren versuchen, die sich mit den Erinnerungen von Günter Grass, Joachim Fest und Rolf Schörken befasst, und ich habe in den entsprechenden Autobiographien Stellen herausgesucht, an denen man nun deutlich sehen kann, wie nach über 60 Jahren die Kriegserfahrung behandelt wird, und für mich ist das Interessante, dass innerhalb dieser Textgattung ‚autobiographische Erinnerung' drei verschiedene Sorten vorliegen, und ich werde versuchen in dem Workshop auf dem Hintergrund der Sozialisationsbedingungen des Dritten Reiches diese drei Sorten gründlich zu besprechen, um mit den Teilnehmern herauszufinden: womit muss man heute eigentlich rechnen, wenn man sich z. B. in der Schule mit Zeitzeugen in ein Gespräch begibt. "
Wie in der literarischen Form des Familienromans Zeitgeschichte behandelt wird, beschäftigte auch Aleida Assmann im zweiten Teil ihrer aktuellen Essener Vorlesungsreihe "Geschichte im Gedächtnis". Die öffentlichen Vorträge durchschreiten das thematische Feld und betrachten in welcher Weise Vergangenheit bewahrt oder auch ausgelöscht ist. Sukzessive weitet Aleida Assmann von Abend zu Abend die Perspektive: sie begann bei der Erfahrungsgeneration, schritt dann weiter zur Familiengeschichte. Heute Abend spricht sie über Historie im städtischen Raum, und beendet am 15. Februar ihr Panorama mit Überlegungen zu Medien und Museen als Geschichtsvermittler.
Ihre öffentliche Vorlesung flankiert inhaltlich den anstehenden Workshop, der zwar als Arbeitstreffen internen Charakter hat, aber nur um die nächsten Schritte nach draußen vorzubereiten. Michaela Hänke-Portscheller:
" Am zweiten Tag des Workshops sollen auf diesem Hintergrund der theoretischen Erfahrung die Konsequenzen gezogen werden. Dann soll tatsächlich geplant werden, wie wir ganz konkrete Projekte hier im Ruhrgebiet mit den Vertretern und Institutionen der Geschichtskultur in den nächsten Jahren aufbauen können - konkret mit Schulen, mit Einrichtungen der Lehrerbildung, mit Universitäten, ... wir haben auch Vertreter von Gedenkstätten und Museen hier im Ruhrgebiet dabei. ... Und das wollen wir dann möglichst genau und ideenreich planen, wie man auf dem Hintergrund eines solchen Ansatzes Projekte entwickeln, wie man sich vernetzen und untereinander kommunizieren kann - und das ist keine einfache Angelegenheit. "
Andreas Günther, ein andrer Teilnehmer des Workshops, repräsentiert selbst ein solches Feld der Anwendung. Er ist Geschichtslehrer an der BMV-Schule in Essen und hatte die Schülerinnen auf den Dialog mit den so genannten Kriegskindern vorbereitet. Andreas Günther sieht im Konzept des Generationendialogs eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Geschichtsunterricht.
" Es gibt dem Geschichtsunterricht das Element der Anschaulichkeit. Üblicherweise haben wir es mit abstrakten Vorgängen zu tun, wir haben selten konkrete Personen, die als Opfer sichtbar werden, wir haben häufig Statistiken, Zahlen, schriftliche Zeugnisse, aber keine leibhaftigen Menschen vor der Nase, die ihre Perspektive des Geschehens darlegen. Und das ist gerade der große Vorzug eines solchen Projektes, dass hier der Perspektive der Opfer verknüpft wird mit einem realen Antlitz, und für die Schülerinnen dadurch sehr viel deutlicher wird, welche Macht Geschichte, Vergangenheit in diesem Fall bis ins hohe Alter hat, dass ganze Lebenswege geprägt werden durch frühkindliche Erfahrungen, die wir glücklicherweise nicht gehabt haben, es ermöglicht den jungen Leuten solche Erfahrungen ein Stück weit nachzuvollziehen. Und damit den Sinn einer Auseinandersetzung mit Vergangenheit erfahren zu können. "
Und was denken die Schüler selbst?
Inzwischen wächst die dritte Generation heran. Die erste war noch geprägt von Krieg und Nationalsozialismus, den sie selber erfahren hat.
Die zweite Generation begehrte gegen das Schweigen der Eltern auf, klagte an und forderte Rechenschaft. Aber sie verhedderte und verhärtete sich in ihrem Protest.
Die neue, die dritte Generation scheint nicht mehr befangen, nicht mehr gefangen im düstersten Kapitel deutschen Geschichte. Aber mit wachsendem Zeitabstand läuft sie Gefahr, die Geschichte selbst zu vergessen. Dem könnten neue Konzepte wie der Generationendialog entgegenwirken, meint die Schülerin Ann-Christin Conzelmann .
" Ich finde es gut, wenn das in den Unterricht eingebaut wird, wenn dass viele Klassen machen würden, denn das ist eine gute Synthese gewesen zwischen Theorie, die man eher hier in der Schule lernt, und der Praxis, die da entstanden ist, und das ist eine neue Geschichtskultur, weil man sich mit den Zeitzeugen so unterhalten kann, und dann auch eine eigene Stellung zur Generation der Täter hat, und diese Ambivalenzen auch dann akzeptieren und verstehen kann und sich die Beziehungen verbessern und man besser damit umgehen kann. "