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Wenn in der Antarktis die Rosen blühen

Klimaforschung. – Heard Island ist ein einsamer Felsbrocken an der Grenze zum antarktischen Raum. Außer regelmäßigen Forschungsexpeditionen des Australischen Antarktisdienstes verirrt sich keine Menschenseele auf die Vulkaninsel. Daher eignet sie sich gut, um den Einfluß der Klimaveränderung ungestört zu erforschen. Zusammen mit zwei anderen Inseln der Umgebung dient Heard Island als Versuchslabor.

Von Dagmar Röhrlich |
    Der Mond spiegelt sich im Wasser der Lagune. Der Stephenson-Gletscher mündet in das blaugrüne Wasser, Eisschollen treiben darauf zum offenen Meer. So urtümlich die Landschaft auch wirkt: Sie ist noch keine 50 Jahre alt.

    Der Gletscher hat sich dramatisch zurückgezogen. Wir haben Bilder aus dem Jahr 1949, wo der Stephenson-Gletscher – hoch wie ein dreistöckiges Haus – über dem Forscher-Camp hängt. Wir schlagen das Camp immer noch an dieser Stelle auf, aber den Gletscher sieht man nicht mehr, weil er sich um mehr als einen Kilometer zurückgezogen hat. Statt dessen ist hinter dem Moränenwall die Lagune. Als Jon Stephenson, der Namensgeber des Gletschers, die Insel wieder besuchte, erklärte er, daß es dem Gletscher wie ihm gehe: Sie seien beide nur noch ein Schatten ihrer selbst.

    Dana Bergstrom vom Australischen Antarktischen Dienst. Heard Island ist ein aktiver Vulkan, der sich mehr als 2700 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Das Forschercamp steht in einer wilden Landschaft, baum- und strauchlos, mit niedrigen Pflanzen, die sich unter dem Wind ducken. Hier ist der Klimawandel kein abstraktes Datenwerk aus Eisbohrkernen, hier wird er greifbar. Pflanzen besiedeln neues, von Gletschern freigegebenes Land, Tiere folgen. Heard Island verändert sich. Den Blick in die Zukunft erlauben die nördlichen Nachbarinseln, die Kerguelen und Marion Island, deren Lufttemperatur um anderthalb bis zwei Grad höher ist. Dana Bergstrom:

    Unsere vorläufigen Resultate bei den Blütenpflanzen zeigen, daß sich bei den vier Arten, die auf jeder Insel vorkommen, die Blühsaison verändert. Bei Acaena magellanica, dem Stachelnüßchen, lagen die Unterschiede zwischen den Inseln bei fünf Wochen, was viel ist für zwei Grad Temperaturdifferenz. Wir konnten berechnen, daß sich durch den Klimawandel der vergangenen 50 Jahre die Lufttemperatur auf den Kerguelen um anderthalb Grad gestiegen ist, was die Blühsaison um zwei Wochen verschoben hat.
    Das hatten die Forscher nicht erwartet. Auf den nördlicheren Inseln gibt es kaum mehr Eis, nur Heard Island wird noch von Gletschern beherrscht, mit eisfreien Küsten – und der Grünstreifen wächst. Bergstrom:

    Das Stachelnüßchen gehört zu den Rosengewächsen und ist sehr durchsetzungsfähig. Es breitet sich seit 15 Jahren auf Heard Island aus. Auf den wärmeren Vergleichsinseln sehen wir, daß der Klimawandel das Stachelnüßchen begünstigt. Das sind schlechte Neuigkeiten für die anderen Pflanzen. Noch finden wir auf Heard Azorella selago, eine Kissenpflanze, die riesige Polster bildet. Auf den Kerguelen oder Marion hat das Stachelnüßchen diese grünen Teppiche überwuchert. Wie sich das auf das Ökosystem auswirkt, wissen wir nicht.

    Sicher ist, daß die Tiere reagieren. Eric Woehler vom Australischen Antarktischen Dienst ist entsetzt über das Tempo. Denn seit er vor 20 Jahren das erste Mal Heard Island besuchte, sieht er "dramatische" Veränderungen:

    Bei einigen Vogelarten haben wir Datenreihen, die mehr als 50 Jahre zurückreichen. 1947 brüteten auf Heard drei Königspinguinpaare. Im Sommer 2003/2004 gab es 65.000. Die Population hat sich alle fünf Jahre verdoppelt, und der Trend hält an. Die Entwicklung läßt sich teilweise damit erklären, daß sich die Gletscher zurückziehen und den Vögeln mehr Raum lassen.

    Für die Königspinguine, die sich zwischen flachen Moränenhügel wohlfühlen, sind die Zeiten gut, auch für den Schwarzbrauen-Albatross. Aber die Biologen erschraken, als sie an den Felsenküsten von Heard Island die Felsenpinguine zählten: Die nehmen ab. Der Schlüssel dazu liegt im Meer. Andrew McMinn von der Universität von Tasmanien in Hobart:

    Das Ökosystem der antarktischen Ozeane wird zum großen Teil durch das Meereis kontrolliert. Wo kein Eis entsteht, haben wir marine Wüsten. Ändert sich die Verteilung und Häufigkeit des Meereis, sinkt die Plankton-Produktion, von dem der Rest des Ökosystems abhängt.

    Das Meer-Eis beruhigt die sonst stark durch Winterstürme aufgewühlte See und verhindert, daß das Plankton in tiefe Wasserschichten gedrückt wird und abstirbt. Das Plankton sammelt sich unter der Eisdecke, betreibt Photosynthese, wächst, gedeiht, wird vom Krill gefressen, und der landet im Magen der Felsenpinguine. McMinn:

    In Gebieten, wo wir heute schon wenig Meereis haben, wird die Rolle des Krills von den Salpen übernommen. Das sind gelatinöse Tiere aus dem Zooplankton, die das Meer leer fressen – aber anscheinend werden sie von niemandem gefressen. Sie sind das Ende der Nahrungskette.

    Heute schon ist die Tierwelt stark verarmt, wo Salpen dominieren. Der Klimawandel zerschneidet also die Nahrungsnetze an der Basis – und das überstehen letztendlich auch nicht die Königspinguine. Vielleicht haben Biologen in 100 Jahren nicht mehr viel zu zählen, wenn sie ihr Camp da aufschlagen, wo heute noch der Stephenson-Gletscher in seine Lagune fließt. Woehler:

    Jeder, der den Klimawandel verneint, verneint die Wirklichkeit.