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Wenn man nichts begreift

Daniel Pennac - in Frankreich ein Star, in Deutschland mit kleiner, verschworener Fan-Gemeinde - ist der Erfinder der Familie Malaussène, eines Haufens Geschwister, die immer wieder in abstruse Kriminalfälle verwickelt werden. Bevor er zu schreiben begann, arbeitete er mehr als zwei Jahrzehnte als Lehrer, eine Zeit, die er 2007 im Buch "Schulkummer" aufarbeitet.

Von Dina Netz | 08.07.2009
    "Schulkummer" ist kein Buch über die Schule, kein Unterrichtsleitfaden für Lehrer und kein Ratgeber für frustrierte Eltern, das ist Daniel Pennac wichtig.

    "Es ist ein Buch über den Schmerz darüber, dass man nichts begreift. Es gibt Kinder, und ich war eins davon, die einfach nichts kapieren. Das fängt schon damit an, dass sie die vom Lehrer gestellte Frage nicht verstehen. Deshalb antworten sie nicht ganz richtig oder falsch oder, was besonders häufig vorkommt, geben eine absurde Antwort. Darin sind schlechte Schüler sehr erfinderisch! Und dann werden sie ausgeschimpft, die Schule, die Eltern beklagen sich über sie, kritisieren ihre Faulheit, den mangelnden Willen usw. Und sehr schnell wissen die schlechten Schüler nicht mehr, was sie überhaupt in der Schule sollen. Was mache ich hier, wenn mich die Schule sowieso für unfähig hält?"

    In der deutschen Ausgabe des erzählten Essays "Schulkummer" heißt es übrigens nicht immer "schlechter Schüler", sondern die äußerst achtsame Übersetzerin Eveline Passet hat, in Absprache mit dem Autor, gelegentlich das französische Wort "cancre" beibehalten. Ein "cancre" ist nämlich nicht einfach nur ein schlechter Schüler, sondern das Wort bedeutet auch Krebs oder Krabbe und geht auf das lateinische Wort für "Geschwulst" zurück. In "cancre" stecken also sowohl der Befall mit einer Krankheit, als auch die langsame und seitliche Fortbewegung.

    Pennacs Buch beginnt mit einer Beschreibung seiner eigenen Cancrerie:

    "Ich war [...] ein schlechter Schüler. Die ganze Kindheit hindurch verfolgte mich die Schule noch bis in die Abende hinein. Meine Hefte waren voll vom Tadel meiner Lehrer. Wenn ich einmal nicht der Klassenletzte war, dann war ich der Vorletzte (Champagner!). [...] ,Begreifst du das? Begreifst du überhaupt, was ich dir erkläre?' Ich begriff es nicht. Diese mangelnde Auffassungsgabe reicht so weit ins Dunkel meiner Kindheit zurück, dass in meiner Familie eine Legende entstanden war, wann alles begonnen hatte: mit dem Alphabet. Immer wieder wurde erzählt, es habe ein volles Jahr gedauert, bis ich den Buchstaben A behalten hätte. Das A, die Sache eines Jahres. Die Wüste meines Nichtwissens begann auf der unüberschreitbaren Schwelle zum B." (S. 15)

    Dabei gab es eigentlich keine objektiven Gründe, warum ausgerechnet Daniel es nicht packen sollte: Die drei Brüder rutschten glatt durch die Schule, die Eltern waren liebevoll und verantwortungsbewusst.

    Pennac plädiert deshalb dafür, dass Eltern und Lehrer nicht nach den Gründen suchen sollten, warum einer zum cancre wird - mögliche Gründe gibt es unzählige, und wahrscheinlich liegt man ohnehin falsch. Pennac rät stattdessen den Lehrern, sich auf das Fach zu konzentrieren und die Schüler mit dem Stoff zu versöhnen. Er selbst unterrichtete Französisch, und seine Erfahrung lehrte ihn:

    "Angst vor Grammatik? Dann lasst uns Grammatik durchnehmen! Keine Lust auf Literatur? Dann wollen wir lesen! Denn, liebe Schüler, so seltsam es euch erscheinen mag, ihr seid von der Haar- bis zur Zehenspitze durchdrungen von dem Stoff, den wir euch beibringen sollen. Ihr seid Stoff von all dem, was euch an Stoffen geboten wird. Unglücklich wegen der Schule? Mag sein. Gebeutelt vom Leben? Einige von euch ja. Aber in meinen Augen alle, wie ihr da seid, aus Wörtern geschaffen, von Grammatik durchwirkt, mit sprachlichen Äußerungen angefüllt, selbst die Schweigsamsten von euch, auch jene, die arm sind an Wortschatz, alle durchspukt von den Bildern, die ihr euch von der Welt macht, anders gesagt, randvoll mit Literatur. Jeder, glaubt mir." (S. 113 f.)

    Die konkrete Methode des Literatur-Lehrers Pennac ging so:

    "Ich habe oft das Schuljahr begonnen, indem ich Texte lesen ließ, ohne darüber zu sprechen. Denn selbstverständlich antworten die schlechten Schüler auf die Frage, ob sie gern lesen: "Nein!" Man darf ihnen nicht glauben. Die Antwort lautet in Wahrheit: Ich lese lieber nicht, um mich nicht Ihren Fragen auszusetzen, auf die ich nicht antworten kann."

    Pennac beschreibt in "Schulkummer" geradezu zärtlich, wie es sich anfühlt, wenn man der Klassenletzte ist, wenn man vergeblich versucht zu begreifen, wenn Eltern und Lehrer hilflos vor einem stehen.

    "Es gibt zwei Faktoren, die eine unüberwindbare Wand zwischen dem Wissen und dem Kind errichten - egal wie gut der Lehrer seine Sache macht: Das sind Angst und Kummer. Fröhlichkeit, Radau - kein Problem. Da kann man sagen: Dina, hör auf zu kichern, der Unterricht hat angefangen. Und Dina hört auf zu kichern, und der Unterricht fängt an. Aber wenn Dina weint, kann ich nicht zu ihr sagen: Dina, hör auch zu weinen! Dann verdoppeln sich Dinas Tränen noch, und daraus werden unüberwindbare Mauern. Folglich muss man Dina trösten, bevor man mit dem Unterricht beginnt."

    Zumindest wenn der Lehrer will, dass Dina irgendwas versteht und sie nicht ignoriert, was kurzfristig einfacher und langfristig fatal ist. Daniel Pennac hatte zu seinem Glück solche Lehrer, die den cancre, den schlechten und flegelhaften Schüler, nicht übergingen:

    "Die Lehrer, die mich gerettet haben [...], waren dafür nicht ausgebildet. Diese Lehrer haben sich nicht darum gekümmert, wann und wie es zu meinem schulischen Handicap kam. Sie verschwendeten keine Zeit damit, mir Moralpredigten zu halten. Sie waren Erwachsene und standen vor Jugendlichen, die unterzugehen drohten. Sie sagten sich, dass Not am Mann war. Und sprangen. Und kriegten mich nicht zu fassen. Und tauchten wieder nach mir, Tag für Tag, wieder und wieder... Und zuletzt zogen sie mich heraus. Mich und noch viele andere. Sie haben uns buchstäblich vor dem Ertrinken gerettet." (S. 38)

    Daniel Pennac wurde unter anderem von einem Französisch-Lehrer gerettet, der den Geschichtenerzähler in ihm entdeckte. Ohne diese beherzten Pädagogen wäre möglicherweise aus Pennac kein Lehrer und später kein Schriftsteller, sondern ein Krimineller geworden, schreibt er. An manchen heutigen Lehrern stört ihn, dass sie immer eine Entschuldigung parat haben, warum sie nicht zuständig sind.

    "Einige Lehrer leben nach dem Substraktionsprinzip: Ich bin dafür nicht zuständig! Ich bin nicht für die Behinderten zuständig, nicht für die Kinder, die die Sprache nicht richtig können, nicht für die Kinder, die unter der Scheidung ihrer Eltern leiden, ich bin nicht zuständig, ich bin nicht zuständig. Wofür sind sie am Ende all dieser Substraktionen noch zuständig? Für die Schüler, die keinen Lehrer brauchen, die auch mit einem Kurs im Fernsehen lernen könnten. In Wahrheit sind wir für alle da."

    Daniel Pennac singt überraschenderweise das Loblied des Internats, weil es für einen cancre nämlich hilfreich sein könne, nicht dauernd zwischen " Schulwirklichkeit " und " Familienwirklichkeit " hin- und herzuwechseln. Und auch wenn er seit zwölf Jahren nicht mehr unterrichtet, sondern nur noch schreibt, hat Pennac ein genaues Bild von den heutigen Schülern, Schulen und ihren Problemen. Seiner Meinung nach hat sich vor allem eins verändert:

    "Heute sind die Kinder genauso vollständig Kunden wie ihre Eltern und in denselben Bereichen: Kleidung, Fortbewegung, Elektronik - einzige Ausnahme: Eigenheime. Und dieses Dasein als Kunde verleiht ihnen eine kommerzielle Reife, die die Erwachsenen für echte sittliche Reife halten oder halten wollen. Dabei hat das mit Reife überhaupt nichts zu tun."

    "Schulkummer" ist aber keine kulturpessimistische Warnung oder keine Abrechnung mit der Lehrerschaft, sondern ein poetischer und zutiefst von Herzen kommender Appell zur Errettung verlorener Seelen. Nichts weniger.


    Daniel Pennac
    Schulkummer
    Aus dem Französischen von Eveline Passet
    Verlag Kiepenheuer & Witsch
    288 Seiten
    18,95 Euro