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"Wenn man stehen bleibt, dann kommt man im Leben nicht weiter"

Der Film "360" erzählt von Liebesgeschichten, Konfliktsituationen und Lebenswegen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Alle Protagonisten in São Paulo, Wien, Paris oder Denver, sind getrieben von Wünschen und Sehnsüchten. Regie führt Fernando Meirelles, der sich durch den Film "City of God" weltweit einen Namen gemacht hat.

    Camilla Hildebrandt: Senhor Meirelles, was hat Sie an dem Drehbuch von Peter Morgan gereizt? Viele verschiedene Geschichten von Menschen, die immer unterwegs sind und deren Leben im Großen miteinander zusammenhängen?

    Fernando Meirelles: Es war vor allem die Struktur, die mich gereizt hat. Der Film erzählt neun verschiedene Geschichten, und das Besondere an ihnen ist: Alle diese Menschen versuchen, das Beste in ihrem Leben zu geben, das Beste aus ihrer Lebenssituation zu machen. Aber im Leben ist es nun mal so, dass das Eine oder Andere dem Lebensweg eine ganz andere Wendung gibt. Alle haben einen Konflikt auszutragen, eine gute Hausfrau, die aber der Versuchung mit dem Liebhaber nicht widerstehen kann. Ich habe das selbst erlebt, Situationen, die sich gar nicht so entwickelt haben, wie ich es wollte. Und ich fragte mich: Warum agiert man denn eigentlich so, wenn man es im Grunde doch gar nicht will? Was bringt uns dazu, falsche Entscheidungen zu treffen? Darum geht es in dem Film.

    Hildebrandt: Die Charaktere versuchen gute Menschen zu sein, sagen Sie - sind Sie selbst auch so?

    Meirelles: Ich versuche korrekt zu sein, ehrlich, ein guter Ehemann und Vater, ein guter Brasilianer und von wegen Nachhaltigkeit, ja, ein guter Erdenbürger, aber natürlich mache ich auch Fehler.

    Hildebrandt: Ich finde es wichtig diesen Aspekt in einem Film zu betrachten, denn als Zuschauer erwartet man doch meistens, dass die Situationen schlecht ausgehen. Zum Beispiel als der Ex-Sträfling mit dem Mädchen auf dem Hotelzimmer ist: Ich habe erwartet, dass er sie vergewaltigt.

    Meirelles: Ja, der Film zeigt uns Menschen, wie wir sind, aber im Film gibt es immer noch Hoffnung. Trotzdem ist er weder absichtlich positiv oder negativ. Er zeigt, wie alle Lebenswege irgendwie miteinander verbunden sind. Eine Entscheidung heute in Berlin kann ein Leben in drei Wochen in Schanghai beeinflussen.

    Hildebrandt: Sind Beziehungen heutzutage auch so problematisch, weil viele Menschen wegen ihrer Arbeit ständig auf Reisen sind?

    Meirelles: Also, auch wenn Sie mit ihrer Familie in derselben Stadt wohnen, dann können Sie trotzdem immer eine Ausrede finden, um nicht mit ihr zusammen zu sein. Das war schon immer so. Das Drehbuch hat Peter Morgan geschrieben, er war auch der Autor für die Filme "Die Queen" und "Frost/Nixon". Und die Geschichte ist diesmal sehr autobiografisch. Denn Peter lebt in Wien, arbeitet in London, New York und Los Angeles. Jede Woche ist er auf Reisen, jede Woche auf dem Flughafen. Und so kam ihm die Idee für den Film. Ich reise auch sehr viel, also ich kann mich gut damit identifizieren.

    Hildebrandt: Verschiedene Lebensentwürfe, Atmosphären, Länder, Kulturen, das zu verbinden, ist nicht einfach. Aber es wirkt keineswegs gewollt. Wie sind Sie dabei vorgegangen. Sie arbeiten viel mit Improvisation, oder?

    Meirelles: Diesmal gab es ehrlich gesagt nicht so viel Improvisation. Die Szenen wirken so authentisch, weil die Dialoge sehr gut geschrieben sind. Aber zum Thema Improvisation: Einige der Schauspieler lieben das. Anthony Hopkins, zum Beispiel: Da gibt es eine geniale Szene beim Treffen der Anonymen Alkoholiker. Hopkins ist selber seit Jahren trocken, aber ihm gefiel das Skript, weil es viel mit ihm zu tun hat.

    Also, in dieser Szene spielt er John beim Treffen der Anonymen Alkoholiker, er berichtet über Johns Leben, und plötzlich beginnt er, von einem Pater zu erzählen, der ihm einmal einen sehr guten Ratschlag gegeben hat und damit sein Leben verändert hat. Das stand nicht im Skript, das hat Hopkins selbst erlebt. Am Ende seiner Erzählung machte er einfach mit dem Drehbuchtext weiter. So etwas finde ich wunderbar! Das ist wie eine Improvisation beim Jazz!

    Andere wiederum mögen das überhaupt nicht, Moritz Bleibtreu zum Beispiel, der lebt sich ganz in die Person ein und hält sich strikt an das Drehbuch.

    Hildebrandt: Sind Sie zufrieden mit dem Resultat?

    Meirelles: Bin ich, ja. Ich wollte diesmal etwas Leichtes machen, wo die Zuschauer sich mit den Charakteren identifizieren können. Alle können sich in der einen oder anderen Geschichte oder in einem Konflikt wiederfinden. Es ist kein prätentiöser Film, das war meine Absicht. Und die Herausforderung war, dass nicht lauter kleine Kurzfilme am Ende entstehen, sondern ein Ganzes. Ich habe zuletzt viele "schwere" Filme gedreht, zum Beispiel "Cidade de Deus"- "City of God", über die Realität in den Armenvierteln Brasiliens, dann über die Pharmaindustrie, oder einen Film über das Blindwerden der Gesellschaft. Jetzt wollte ich etwas Leichteres machen, über die Beziehungen zwischen den Menschen.

    Hildebrandt: Der Sänger Seu Jorge hat über ihren Film "Cidade de Deus" - "City of God" gesagt: Das ist das Manifest eines Schwarzen. Denn zum ersten Mal wurde ohne intellektuell zu analysieren über das Leben der Armen in den Favelas berichtet. Was meinen Sie heute, war dieser Film der Beginn für einen Wandel in der Gesellschaft?

    Meirelles: Durch "Cidade de Deus" wurde in Brasilien eine Bevölkerungsschicht sichtbar, die vorher quasi nicht existierte. Wir kannten das Leben in den Favelas, die "andere Seite Brasiliens", gar nicht. In den letzten zehn Jahren wurden dann noch viele andere Filme über die Favelas gedreht, auch für´s Fernsehen. Und diese ehemals unsichtbare Bevölkerungsschicht ist heute Teil des Ganzen, alle wissen jetzt, wie es dort aussieht. Und das Beste ist, dass dadurch die Regierung begonnen hat die Probleme anzugehen. In vielen Favelas in Rio gibt es heute keinen Drogenhandel mehr! Sie wurden in die Stadt integriert. Diese Orte hatten vorher weder Elektrizität, noch sauberes Wasser, alles wurde zusammengeklaut. Die Gesellschaft hat es heute endlich geschafft, die Favelas in das Leben miteinzubeziehen.

    Hildebrandt: Aber ein Viertel der Bewohner Rios wohnt nach wie vor in Favelas.

    Meirelles: Und sie werden es weiterhin tun, das ist der Unterschied.
    Vorher schaute man zu den Favelas auf den Hügeln der Stadt hoch und sagte: Rio ist umgeben von Favelas. Heute sind sie Teil der Stadt. Die Favelas sind zum großen Teil funktionierende Stadtteile.

    Hildebrandt: Es gibt zum Beispiel eine Favela, die heißt "Canto gallo" - "Hahnenschrei", ein außergewöhnliches Projekt.

    Meirelles: Es gibt mehrere davon, "Canta gallo" wurde berühmt, weil diese Favela auf dem Hügel über Ipanema liegt. Das ist einer der elegantesten Stadtteile Rios. Dort wurden "Friedenspolizisten" angesiedelt. Vorher gingen die Polizisten bewaffnet in die Favelas und bekämpften die Drogenbosse. Die Resultate waren nicht besonders groß. Jetzt leben dort Polizeieinheiten. Sie helfen den Menschen und sind auch nicht mehr bewaffnet. Zusammen mit den Bewohnern versuchen sie die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das hat einen unglaublichen Effekt. Vorher waren die Leute immer gegen die Polizei, jetzt sind sie auf ihrer Seite.

    Hildebrandt: Senhor Meirelles, noch mal zurück zum aktuellen Film 360, gibt es so etwas wie eine Botschaft?

    Meirelles: Wenn ich eine Botschaft oder eine Nachricht hinterlassen will, schreibe ich eine Mail. Nein, am Ende gibt eine interessante Situation: Eine junge Frau weiß nicht genau, ob sie jene Entscheidung wirklich treffen soll. Schließlich entscheidet sie sich dafür, geht das Risiko ein. Das ist eine schöne Botschaft: Wenn man stehen bleibt, vor lauter Angst vor den Konsequenzen, dann kommt man im Leben nicht weiter.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.