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Wenn Nationalismus zur wissenschaftlichen Norm wird

Deutsche Wissenschaftler haben sich meist aus freien Stücken in der Forschung des NS-Staats engagiert. Historiker sind mittlerweile darüber einig: Nach 1933 wurden die Forscher keinesfalls von nationalsozialistischen Funktionären und Politikern für ihre Ziele missbraucht. Sie bombardierten die Behörden geradezu mit ihren eigenen, neuen Projektvorschlägen. Wie es zu dieser bereitwilligen "Selbstmobilisierung" für den faschistischen Staat kam, lässt sich jetzt in detaillierten historische Studien nachlesen.

Von Matthias Hennies | 03.05.2012
    Vieles, das in der Zeit des Nationalsozialismus zu schlimmsten verbrecherischen Konsequenzen führte, hatte seine Wurzeln in nationalistischem und elitärem Gedankengut, das mindestens schon seit Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet war - nicht allein in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Die Bereitwilligkeit, mit der sich fast alle deutschen Wissenschaftler nach 1933 in die Arbeit für die faschistische Diktatur stürzten, geht allerdings auf eine spezifisch deutsche historische Erfahrung zurück. Patrick Wagner:

    "Deutsche Wissenschaftler haben vor 1914 fast alle größeren wissenschaftlichen Disziplinen dominiert, wenn Sie schauen, wie viele Nobelpreise in dieser Zeit an Deutsche gehen, und jetzt kommt der Erste Weltkrieg, kommt die Niederlage im Ersten Weltkrieg."

    Damit endete die deutsche Dominanz in den Wissenschaften, die internationale Gemeinschaft der Forscher zerbrach und die Deutschen wurden bis weit in die zwanziger Jahre boykottiert, erklärt Patrick Wagner, Historiker an der Universität Halle. Wissenschaftlicher Niedergang und militärische Niederlage hingen für viele Forscher eng zusammen:

    "Und in dieser Situation wird es dann zunehmend plausibel zu sagen, die Interessen meiner Wissenschaft und die Interessen meiner Nation sind nicht voneinander zu trennen, sie sind eins."

    Ein radikaler Nationalismus war seit den zwanziger Jahren grundlegender Konsens in der deutschen Wissenschaft, sagt Professor Wagner.

    Er fasst die Geschichte der "Deutschen Forschungsgemeinschaft" im Nationalsozialismus, die verschiedene Historiker in den letzten Jahren intensiv untersucht haben, gerade in einer großen Studie zusammen. Die "DFG", 1920 unter dem bezeichnenden Namen "Notgemeinschaft für die deutsche Wissenschaft" gegründet, vergab staatliche Fördermittel für Forschungsprojekte. Ihre Entwicklung spiegelt die Rolle der Wissenschaft im NS-Staat sehr genau wieder - auch den Eifer, mit dem viele Forscher nach 1933 Projekte entwarfen, die bestens zu den neuen politischen und ideologischen Bedingungen passten. Die Initiativen etwa, dem eklatanten Rohstoffmangel Deutschlands abzuhelfen, um die Nation autark zu machen, kamen aus der Wissenschaft.

    "Nach Wegen zu suchen, wie man aus diesen wenigen Rohstoffen synthetisch andere Stoffe, die in anderen Ländern natürlich vorkommen wie Erdöl, wie Kautschuk, wie man das herstellen könnte, dass das eine reizvolle wissenschaftliche Aufgabe ist und dass die auch eine nationale Bedeutung hat, das kommt von den Wissenschaftlern selbst."

    Wie maßgeschneidert für die NS-Ideologie war die Idee für ein neues geisteswissenschaftliches Fach: Die "Volkskunde" sollte sich mit einem neuartigen Atlas etablieren, in dem die geografische Verbreitung vermeintlich genuin deutscher Sitten und Bräuche festgehalten wurde, bis über die Grenzen des Reiches hinaus.

    Politisch und ethischer noch viel bedenklicher war der "Generalplan Ost". Heinrich Himmler, Chef der SS und zugleich "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums", wollte wissenschaftlich klären lassen, wie man weite Teile Polens und der Sowjetunion nach einem gewonnenen Krieg "germanisieren" könnte und lancierte ein interdisziplinäres geisteswissenschaftliches Großprojekt. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert:

    "Das sind Raumplaner, Soziologen, Landwirtschaftswissenschaftler, Infrastrukturplaner etc. Diese Modernisierung Ostmitteleuropas, da ging es vor allem um die Frage, wie man die Landwirtschaft effektiviert, wie man zentrale Orte schafft, größere Dörfer oder Städte, und es sollte überlegt werden, was man mit der dort ansässigen Bevölkerung tue."

    Dass große Gebiete im verarmten Osteuropa am besten eine Art Kolonie für das Deutsche Reich werden sollten, dachten nationalistische Deutsche seit Langem. Aus den Eroberungszügen der Ordensritter im Mittelalter meinten sie, deutsche Ansprüche ableiten zu können. Und an das Klischee, dass die Nationen im Osten ein Hort von Streit und Chaos seien, glaubte man auch in anderen westlichen Ländern.

    Die radikalen ethnischen Säuberungen, die Hitler und seine Mitarbeiter für Osteuropa planten, gingen ebenfalls auf weitverbreitete Ansichten zurück - sie waren nur skrupelloser. Ulrich Herbert:

    "Das Projekt der ethnischen Neuordnung Ostmitteleuropas, schon seit der Jahrhundertwende spielte das eine große Rolle. Die Vorstellung, dass man für die verschiedenen Nationen und Rassen und Ethnien und Völker spezifische Lebens- und Arbeitsräume schaffen wollte und die Vertreibung der als nicht-europäisch angesehenen Ethnien nach Osten als notwendig für eine Beendigung der Streitigkeiten angesehen hat."

    So haben es wohl auch die Wissenschaftler gesehen, die den "Generalplan Ost" erarbeiteten. Sie taten, als ob sie Dörfer und Städte, Kanäle und Straßen im leeren Raum anzulegen hätten. Dass Millionen Einwohner in Gebiete umgesiedelt werden würden, in denen sei sich nicht ernähren konnten und verhungern mussten, planten sie ein. Von der jüdischen Bevölkerung war überhaupt nicht die Rede. Ihr Ermordung wurde stillschweigend vorausgesetzt.

    Der Plan war 1942 fertig - in dem Moment, als er nicht mehr verwirklicht werden konnte, weil die deutschen Truppen begannen, sich aus Osteuropa zurückzuziehen. Professor Herbert:

    "Es gibt aber bestimmte Elemente dieses Plans, die in die Wirklichkeit umgesetzt worden sind. Das betrifft den Umgang mit sowjetischen Zivilisten, das Prinzip des Aushungerns, der Vertreibung und Umsiedlung nach Norden, in Gebiete, die nicht ausreichend waren, diese Bevölkerung zu ernähren. Das war konkrete Zielsetzung der deutschen Militärpolitik in der Sowjetunion und wurde ja auch umgesetzt, zum Beispiel bei der Belagerung Leningrads. Die Folge waren mehr als 800.000 Tote."

    Warum engagierten sich Wissenschaftler so bereitwillig in einem Projekt mit unverkennbar verbrecherischen Zielen? Ulrich Herbert meint, dass sich viele der Faszination des gigantischen Plans nicht entziehen konnten. Ähnlich wie in den Architekturentwürfen Albert Speers schienen auf einmal völlig neue, nie für realistisch gehaltene Dimensionen möglich zu werden.

    Vor allem aber beriefen sich die Forscher auf vermeintlich "bittere Notwendigkeiten", die man in Kauf nehmen müsse, um Deutschlands Zukunft in Europa zu sichern. Dieser Rechtfertigungsstrategie ist auch Patrick Wagner immer wieder begegnet. Bei der Analyse alter Akten der DFG hat er zwei Muster beobachtet, wie Wissenschaftler mit verbrecherischen Seiten ihrer Projekte umgingen. Patrick Wagner:

    "Erstens sind es häufig Projekte, in deren Beschreibung das Verbrecherische nicht selbst drin steht. Man will Malariaexperimente machen, dass man die Probanden sich vom Reichsführer SS aus einem Konzentrationslager schicken lässt, das schreibt man nicht unbedingt hinein. Auf der anderen Seite ist es eben aus damaliger Sicht eine Güterabwägung: Man verletzt die Freiheit und die Lebensrechte von Menschen, aber das dient ja einem vermeintlich hehren Ziel."

    Die Forscher waren sich sehr wohl bewusst, dass sie Unrecht begingen, erklärt Wagner. Doch ihrer Grundüberzeugung, dem radikalen Nationalismus, ordneten sie alles unter.