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Wenn nicht nur die Note zählt

Statt schlichter Zahlen stehen auf vielen Grundschulzeugnissen mittlerweile umfangreiche Beurteilungen. Wortzeugnisse nennen sich diese Gutachten, die nicht nur die erbrachten Leistungen, sondern auch das Sozialverhalten der Kinder bewerten.

Von Heike Zafar |
    "Hier haben wir also das Zeugnis von Sarah, da steht dann: 'Liebe Sarah, du hast Spaß am Lesen und kannst das, was du liest, auch verstehen. In Druckschrift schreibst du im Tagebuch zu deinen vielfältigen Erlebnissen, dabei zeigst du, dass du alle Laute hören und die richtigen Buchstaben schreiben kannst. Du weißt, wo die Buchstaben in den Linien wohnen und kannst ordentlich in deinem Schönschreibschrift schreiben.' Das wäre zum Schrifterwerb."

    Noten wird Sarah erst ab dem vierten Schuljahr bekommen. Ihr Lehrer, Schulleiter Jörg Niehues, ist glühender Fan der sogenannten Wortzeugnisse. Die schreibt er immer auf seinem "alten Möhrchen", wie er seinen Computer nennt. Zu Sarahs Sozialverhalten hat er im Zeugnis dies geschrieben:
    "'Gut gelaunt kommst du jeden Morgen in die Schule. In die Klassengemeinschaft hast du dich gut eingelebt und spielst und arbeitest gerne mit deinen Freundinnen. Fast jeden Morgen musst du aber angehalten werden zunächst deine Schulsachen an Ort und Stelle zu bringen, die Jacke aufzuhängen und die Hausschule anzuziehen, das musst du im nächsten Schuljahr selbstständiger und vor allem zügiger erledigen.'"

    "Wahrscheinlich wollen Sie das gar nicht, aber wenn ich das übersetzen wollen würde, in eine Note, was wäre das dann?"

    "Das will ich nicht, das tue ich auch nicht, ich denke nicht darüber nach. Ich guck was kann das Kind, was müsste es eigentlich können, wo kann ich es bestärken, dass es da weiterarbeitet, und das schreibe ich auf. Ich denke in keinem Moment darüber nach, was das denn für eine Note wäre. Muss ich nicht, weil ich brauch sie ja auch nicht."

    Davon ist Jörg Niehues fest überzeugt, und er schreibt für jedes Kind ausführliche Wortzeugnisse, auch wenn das für ihn und seine Kollegen eine Menge Arbeit machen. Greift er da nicht auch mal auf Standardformulierungen zurück?

    "Nein, ich arbeite persönlich nicht mit Textbausteinen und stelle mir das Kind vor, und schreib dann runter, was mir auffällt, um dann später den Text zu überarbeiten. Es gibt natürlich auch die Möglichkeit mit Textbausteinen zu arbeiten, sich die zusammen zu kopieren, aber da hat jeder Lehrer seine eigenen Vorlieben und gestaltet das so, wie jeder das mag."

    Für die Eltern ist das nicht immer leicht: Im Internet gibt es längst Übersetzungshilfen für Grundschulzeugnisse: "Sarah hat ihre Arbeit zielstrebig erledigt", heißt übersetzt, Sarah hätte eine Eins, "sie hat ihre Aufgaben in der Regel erledigt", bedeutet: "befriedigend".

    Jörg Niehues hält nichts von solchen Allgemeinplätzen, an seiner Schule, sagt er, werden die Zeugnisse haarklein mit den Eltern besprochen. Hier soll niemand böse überrascht werden, wenn es in der vierten Klasse das erste Mal Noten gibt:

    "Das sollte natürlich im Zeugnis nicht passieren, dass die Eltern das zweideutig lesen können oder so oder so interpretieren können. Das kann mal in Kleinigkeiten passieren aber eigentlich sollte das so formuliert sein, dass die Eltern wissen, was heißt das und nicht 'ne Übersetzungshilfe brauchen, denn das würde die Sache komplizieren."

    Und die Kinder? Was würden sie lieber haben, Textzeugnisse oder Noten?

    "Also was ich gut finde, dass wir keine Noten haben, sonst vergleicht man und das finde ich doof." - "Noten finde ich irgendwie besser, wenn man sieht, was man gemacht hat. In Englisch eine Zwei oder so." - "Weil man dann weiß, wie man in dem Schuljahr war oder nicht."