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Wenn sich der Blickwinkel verändert

Die Moderne der Fotografie beginnt, als die Fotografen aufhören, sich an der Ästhetik der Malerei zu orientieren. Erst als die optische und chemische Eigengesetzlichkeit des Mediums von seinen Nutzern als gestalterische Möglichkeit wahrgenommen wird, entwickelt sich eine Sprache der Fotografie, deren Alphabet, auch durch Nachfolgemedien wie Film und Fernsehen, bis heute nachwirkt.

Von Joachim Büthe | 14.07.2008
    Für Herbert Molderings beginnt diese Geschichte mit einem Buch. Es erscheint 1925, verfasst von László Moholy-Nagy: "Malerei Fotografie Film".

    "Das Buch von Moholy-Nagy "Malerei Fotografie Film" von 1925 hat das Besondere, dass es zum ersten Mal die Ästhetik der neuen Fotografie ausformuliert, das heißt in allen Aspekten reflektiert und auf den Begriff bringt. Und das sowohl visuell als auch sprachlich. Das Buch ist ja doppelt aufgebaut. Es hat eine bildhafte Argumentation und eine sprachliche Argumentation. Und diese Vollständigkeit, dieses Umfassende der neuen Aspekte, der neuen fotografischen Ansätze, hat ihm diese große Bedeutung gegeben."

    Und, wie so häufig, wenn sich der Blickwinkel verändert, wenn der Blick frei wird für eine neue Epoche, stellt man im Nachhinein fest, was man schon vorher hätte wissen können. Die Experimente, die eine neue Fotosprache möglich gemacht haben, waren schon vorhanden. Sie galten jedoch als unseriös, nicht ernst zu nehmen. Es musste erst jemand kommen, der ihr Potential gesehen hat.

    "Sein Verdienst besteht darin, dass er in diesen spielerischen Verfahren die künstlerischen und gestalterischen Möglichkeiten vollständig erkannt hat. In der Tat war es so, dass im Grunde sämtliche Tricks, sämtliche Techniken, die in der neuen Fotografie zur Anwendung kamen, wie die extremen Perspektiven, von unten gesehen, von oben gesehen, wie der Negativabzug, die Fotografie ohne Kamera, wie die Fotomontage und viele andere Verfahren als rein spielerische Übungen zwischen 1890 und 1920 praktiziert worden sind. Außerhalb der offiziellen Fotografie und vor allem außerhalb dessen, was man in der Fotografie als Kunst akzeptierte. In der Fotografie als Kunst hat man um 1900 bis 1920-25 nur die weichzeichnende , impressionistische Fotografie, die die Malerei nachahmte, akzeptiert, aber nicht solche amateurhaften Spielereien. Moholy-Nagy hat in diesen optischen Spielereien das gestalterische Potential erkannt und hat sie dann, gemeinsam mit den naturwissenschaftlichen Verfahren, zum Ausgangspunkt einer neuen Ästhetik gemacht."

    Die Befreiung der Fotografie von der Malerei hätte zudem ohne die sich gleichzeitig entwickelnden neuen Ansätze innerhalb der Bildenden Kunst nicht stattfinden können. Die meisten Fotopioniere waren ausgebildete Künstler, die mit den neuen Bildbegriffen des Konstruktivismus, der Neuen Sachlichkeit und des Surrealismus vertraut waren. Der Historiker Herbert Molderings weiß das sehr genau und der präzise Kenner des jeweiligen fotografischen Werks weiß auch, dass die konkreten Künstler nicht immer mit dem analytischen Begriffsbesteck vollständig zu erfassen sind.

    "Es gibt bei Renger-Patzsch, dem Wortführer der Neuen Sachlichkeit in der Fotografie, ganz eindeutig auch Einfluss von Seiten einer gemäßigten impressionistischen Strömung. Also seine lebenslange Vorliebe für die Flächenorganisation der Fotografie, für die Betonung eines flächigen Ornaments und eines auf der Fläche hergestellten Gleichgewichts kommt eindeutig aus der Richtung der Hannoveraner Abstrakten, mit denen er sich sehr verbunden fühlte. Während bei einem Mann wie Man Ray, der über den Dadaismus zum Surrealismus gekommen ist, sich eindeutig surrealistische und dadaistische Einflüsse vermischen. Er war überhaupt der große Eklektizist. Er war erklärtermaßen antipuristisch in der Fotografie ausgerichtet. Das heißt er nahm sich in der Tat alles, was er brauchen konnte, wenn die Ausdrucksmittel für das zu erreichende Ziel nützlich waren. Und er war es auch, der, vor allem in den zwanziger Jahren, bedenkenlos, besser gesagt bewusst, zurückgegriffen hat auf pictorialistische Tendenzen. Also den Krieg, den es in den zwanziger Jahren gegeben hat, zwischen den fotografischen Puristen, die sagten, die Fotografie darf nur die technischen Mittel zum Einsatz bringen, die ihr als Medium zukommen, und darf auf keinen Fall malerische Effekte zu imitieren versuchen, gegen die Pictorialisten, die Kunstfotografen um die Jahrhundertwende, die eben versuchten, das Technische an der Fotografie zu mildern oder gar verschwinden zu lassen, um Fotos zu machen, die aussahen wie Pastelle oder wie Aquatintablätter, diesen Krieg hat er überhaupt nicht mitgemacht."

    Die theoretischen Kriege um eine Philosophie der Fotografie hat wiederum Herbert Molderings nicht mitgemacht. Wenn man sich mit seinem Gegenstand zu gut auskennt, dann schwindet die Neigung zur Abstraktion. Man mag nicht mehr sagen, was eine Fotografie eigentlich ist. Zumal die Fotografie immer eingebunden war in die Reportage oder die Dokumentation. Ihre Geschichte lässt sich nicht als Geschichte einer freien Kunst erzählen.

    Nicht zuletzt deshalb steht er den poetischen Visionen eines Roland Barthes, die eher ihm als der Fotografie an sich zuzuschreiben sind, skeptisch gegenüber.

    "Diese Skepsis kommt zum Ersten daher, dass ich Historiker bin. Das heißt meines Erachtens ist es unmöglich, einen fotografischen Bildbegriff, wie Roland Barthes das tut, ontologisch zu definieren. Das heißt das Wesen der Fotografie ist. Meines Erachtens ist das ein vollkommen unhistorisches Vorgehen. Das Studium der Geschichte der Fotografie zeigt, dass sich das so genannte Wesen der Fotografie im Lauf der Zeit ständig ändert. Das Wesen der Fotografie ist ja immer die Art und Weise der Betrachtung, wie die Betrachter und die Nutzer der Fotografie das Bild wahrnehmen. Und das ändert sich über Perioden, bisweilen über Jahrzehnte. Und deshalb finde ich es viel sinnvoller und sehr viel weiterführender, wenn man versucht, die jeweiligen Werke aus ihren jeweiligen historischen Zusammenhängen zu erklären und zu studieren."

    Das Buch ist eine Aufsatzsammlung, die im Verlauf von 30 Jahren entstanden ist. Ob es nun ein Standardwerk ist, wie der Verlag behauptet, wird sich erweisen. In jedem Fall ist es die Quersumme einer langen und intensiven Auseinandersetzung mit der modernen Fotografie. Wer sich intensiver mit ihr beschäftigen möchte als es in den gängigen Fotografiegeschichten der Fall ist, wird an diesem Buch nicht vorübergehen können. Da sein Verfasser den akademischen Jargon meidet, ist die Lektüre ebenso aufschlussreich wie angenehm.


    Herbert Molderings: Die Moderne der Fotografie
    Philo Fine Arts, geb., 444 S. m. zahlr. Abb., Euro 48,-