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Wenn sich die Angst zum Grusel steigert

John Sinclair ist Oberinspektor bei Scotland Yard. Er kämpft gegen Geister und Dämonen, es gibt ihn nur im Heftroman und er ist nebenbei der dienstälteste aller Grusel-Serienhelden. In diesem Jahr erscheint Folge 1400.

Von Hartmut Kasper | 17.05.2005
    "Weinen Sie nur, weinen Sie!" Denn es ist nicht ganz geheuer auf der Welt. Vampire gehen um, lebende Leichen, Zombies und andere Untote, Hexen und Zauberer, einige davon zugewandert aus untergegangenen Kontinenten wie Atlantis und Lemuria, andere aus Bayern; Dämonen, Geister, Teufelssöhne, hin und wieder der Teufel selbst oder der Tod, der in Deutschlands größter Gruselserie "Geisterjäger John Sinclair" übrigens Dr. Tod heißt, also promoviert ist und der - Zitat aus dem John Sinclair Lexikon - "plant, die Menschheit auszurotten."

    Gegen solche Vorhaben treten seit Beginn der 1970er Jahre die Helden gleich in Serie an – in Heftroman-Serie. Sie heißen "Macabros", "Mark Hellmann" und "Der Lord", "Larry Brent", "Tony Ballard", "Jessica Bannister", "Damona King", "Dr. Morton" oder "Professor Zamorra"; sie arbeiten – wie die Untertitel ihrer Serien verraten – als "Meister des Übersinnlichen", "Bezwinger der Finsternis", als "Dämonen"- oder "Geisterjäger", und sie erleben "unheimliche Abenteuer", den Horror, den Schrecken, den ganz großen Grusel.

    Sie alle umgibt ein leicht britisches Aroma – der Spuk ist halt auf der Insel zu Hause. Der langlebigste und dienstälteste unter all diesen Grusel-Serienhelden aber ist John Sinclair, von dessen Abenteuern in diesem Jahr der Heftroman Nummer 1400 erscheint. Wer ist dieser John Sinclair?

    "John Sinclair ist Oberinspektor bei Scotland Yard, der hat einen Titel, den es dort gar nicht gibt. Er ist ein Typ wie du und ich. Ich habe mal gesagt, er ist praktisch der europäische Jerry Cotton, nur kämpft John Sinclair gegen Geister und Dämonen, gegen all das, was aus der Schattenwelt kommt."

    "John Sinclair gibt es seit 1973, und zwar als Gespensterkrimi Nummer 1 "Die Nacht des Hexers." Ich bin der Erfinder. "

    Und Mr. Jason Dark, der das sagt, kennt sich in der Schattenwelt aus. Schließlich ist er der geistige Vater des Geisterjägers, und seit der Nummer 149 auch Alleinautor der Heftromanserie. Freilich ist Jason Dark nur ein Deckname, denn man tut gut daran, gegen die Mächte der Finsternis nicht immer mit offenem Visier zu kämpfen. Aber da Dämonen kein Radio hören, können wir den bürgerlichen Namen hier verraten:

    "Mein Name ist Helmut Rellergerd und ich schreibe seit über dreißig Jahren Gruselromane."

    Man darf behaupten, dass der Name Helmut Rellergerd außerhalb der Heftroman-Szene nicht vielen Menschen bekannt ist. Er teilt dieses Schicksal mit anderen Autoren, die hinter ihren Figuren zurückstehen. Dennoch: Rellergerd ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Über 260 Millionen seiner Romane wurden verkauft, und jede Woche kommen 60.000 und mehr seiner Hefte in den Buch- und Zeitschriftenhandel.

    John Sinclair erscheint nicht nur im Heft, sondern auch als Taschenbuch, im Comic und Computerspiel, neuerdings wieder in einer Hörspielreihe. Auch einen Ausflug ins Fernsehen hat es gegeben, aber da musste sich Sinclair dem Bösen, nämlich der bösen Quote, einmal geschlagen geben. Rellergerd hat das verwunden – überhaupt hatte er zum Fernsehen lange Zeit ein eher zwiespältiges Verhältnis:

    "Ich bin 1945 geboren, und ohne Fernsehen aufgewachsen, aber mit vielen, vielen Büchern. Die ich nicht selbst kaufen konnte, denn dazu war das Geld nicht da. Es gab zwei Büchereien in Dortmund, und als Kind musste man dort nicht bezahlen. Mein Vater war bei Hoesch, ich war auch bei Hoesch, und ich hab in den Ferien nur gelesen. Ich kenne Walter von der Vogelweide, Wernher der Gärtner, ich habe die Klassiker gelesen und Jerry Cotton, Kommissar X, Sigurd, Tarzan, und so weiter."

    Rellergerd hatte zunächst Krimis geschrieben, anschließend Western. Dann bekam er es mit der Angst zu tun. Angst ist ein sehr intimes und literarisch ergiebiges Gefühl. Das hatte bekanntlich schon Friedrich Schiller erfahren, als im Jahr 1786 sein Fortsetzungs-Roman "Der Geisterseher" mehr Furore machte, als ihm lieb war, so dass er in einem Brief an Körner über seinen Geisterseher klagte: "Welcher Dämon hat ihn mir eingegeben?"

    Und wenn sich die Angst zum Grusel steigert, zum Grausen mit Gänsehaut, kann das ganz besonders prickeln. Denn:

    "Ein Gruselroman ist, wie unser Verleger gesagt hat, zur Spannung noch die Gänsehaut. Also, wie ich immer sage, man geht in den Keller und bekommt Angst, und wenn die Angst ganz schlimm wird, mache ich das Licht an. "

    Machen Sie rasch Licht an - oder lieben Sie es lieber dunkel?

    "Ja, ich mache ab und zu das Licht an, aber ich lasse viel im Dunkeln. Nur wird das Dunkel nicht so schlimm wie bei den so genannten Splatter-Romanen. Deshalb betone ich Grusel, und kein Horror."

    Und so steht das grusel-literarische Phänomen John Sinclair auch weniger in einer Ahnenreihe mit Walter von der Vogelweide oder Wernher dem Gärtner als vielmehr mit den "gotischen" Romanen der Dunklen, der Schwarzen Romantik:

    Der "gotische" Roman hat etliche Quellen, ihre folgenreichste dürfte Horace Walpoles Roman "Das Schloss von Otranto" aus dem Jahr 1764 sein. Walpole begeisterte sich weniger für die griechisch-römische Antike mit ihren auf den ersten Blick so lichten Ordnungsmustern. Er wollte statt dessen das als finster verrufene Mittelalter wieder beleben, die Gotik, und ließ sein Haus in Strawberry Hill in Twickenham zu einem kleinen, gotischen Schloss umbauen, komplett mit Türmen und Zinnen, und mit Bruchstücken von Rüstungen, farbigen Fensterscheiben und anderem mittelalterlich-ruinös anmutendem Gerät, das er sich von seinen Freunden erbeten hatte.

    Im "Schloss von Otranto" entwirft Walpole bereits die ganze Architektur der Schauerromane: Türen knarren, Bilder seufzen, Standbilder werden lebendig und bekommen Nasenbluten, und im fahlen Mondlicht geistern Geister durch Gewölbe und labyrinthische Gänge.

    Viel hat sich seitdem nicht getan in Grusel-Land, dem zeitlosen Kellergewölbe unter der Wirklichkeit, in dem nun als später Nachfahr John Sinclair nach dem rechten sieht: Wie kam es zu der Erfindung von diesem John Sinclair?

    "Es gab eine Fernsehserie, die hieß "Die 2", gespielt von Tony Curtis und Roger Moore in den Hauptrollen. Und dieser Roger Moore hieß in der Serie Brat Sinclair, und dieser Name gefiel mir so gut (...), da habe ich den Vornamen weg gelassen und einfach John genommen."

    Sehen wir uns diesen John einmal näher an – und zwar mit den Augen einer Frau, denn:

    "rund fünfzig bis sechzig Prozent Leserinnen, also viele Frauen oder Mädchen greifen zu John Sinclair, weil der nicht so brutal ist, und der Held kommt bei den Frauen gut an."

    Nun hat sich der parapsychologische Polizist Sinclair längst auf die unheimlichsten Fälle spezialisiert und liegt in einer nicht enden wollenden Privat-Fehde mit über- und unterirdischen Mächten, die auf seinen Auftritt nur gewartet haben.

    John Sinclair ist nicht nur da und recherchiert, er ist auch bestens gerüstet: Seine Beretta verschießt geweihte Silberkugeln, man schwingt die Dämonenpeitsche oder wirft den silbernen Bumerang, und außerdem trägt Sinclair ein frommes Etwas um den Hals, das ihm immer wieder wunderbare Dienste leistet:

    Dieses wundertätige, Dämonen schreckende Kreuz wurde seinerzeit von Hesekiel selbst in der babylonischen Gefangenschaft hergestellt.
    Sinclair wird also nicht nur vom Staat alimentiert. Es scheint, als liege Gottes Hand selbst schützend über seinen Heil bringenden Taten.

    Überhaupt tritt, wenn man sich die Lebensgeschichte des Oberinspektors etwas genauer ansieht, einiges zu Tage, was nicht unbedingt beamtentypisch ist: John Sinclair hat sich vermittels Wiedergeburt schon einige Male auf diesem Planeten aufgehalten, unter anderem als König Salomon oder als König Löwenherz. Einmal mutierte er sogar zu einem Werwolf, konnte aber durch eine Bluttransfusion gerettet werden.

    Ihm zur Seite steht ein Team, das auch nicht ganz von dieser Welt ist: Da wäre der Reporter Bill Conolly, der ein Zimmer im Haus eines untoten Vermieters bewohnt. Die Privatdetektivin Jane Collins war zeitweilig vom Geist Jack the Rippers besessen war. Da wäre der chinesische Chauffeur und Drachenkiller Suko. Zeitweilig arbeitete Sinclair mit dem BKA-Beamten Will Mallmann zusammen, der sich später in Würzburg allerdings in den "Supervampir" Dracula II verwandelt – auch dies eine merkwürdige Karriere für einen Staatsbediensteten.

    Schließlich ist da noch der alte, treue Rumäne Frantisek Marek, der sich mit dem Handwerk des Pfählens auskennt.
    Das ist gut, denn die Welt ist, wie gesagt, voller Schrecken.

    Miriam von Chamier ist die Pressereferentin das Bastei Verlags – des Verlags mit der Zinne, hinter der die meisten deutschen Gespenster und Gespensterkammerjäger hausen:
    Ich fragte sie:

    "Ist es moralisch mit dem Schrecken anderer Menschen Geld zu verdienen?"

    "(Lacht) Es ist Romanheftstoff, es ist ja nicht die Realität. Was heißt "Mit dem Schrecken der Menschen"? Man möchte sich auch mal gruseln. Wir haben auf der anderen Seite auch die romantischen Serien, wo man sich in die romantische Welten träumen kann. Und genau so spannend ist es eben, etwas Gänsehaut zu bekommen. Das ist doch legitim. "

    Gruseln wäre demnach eine Form von Romantik. Ist vielleicht die Grusel-Literatur ein Überbleibsel dieser Epoche? Ein literarischer Wiedergänger? Helmut Rellergerd ist im Januar 2005 sechzig Jahre alt geworden. Ist auch seine literarische Welt, ist das Jason-Dark-Universum älter geworden, reifer, hat es sich verändert, vielleicht modernisiert, um auf den neuesten Stand der Technik zu kommen?

    "Technische Geräte – natürlich, das Handy ist heute dabei, der Computer, den Sinclair allerdings nicht benutzt, dafür hat er seine Leute. Man wird selbst älter, und man verändert seine Schreibe. Es ist nicht mehr so wie damals vor 20 Jahren, als es oft Ballerei gab, viel Action. Jetzt ist die Action dosierter.

    Im Moment schreibe ich mehr über die Templer, über den Psycho-Horror, ich schreibe auch mehr über Vampire, ich lass diese alten Dinger aus den 70er Jahren weg wie Zombies , man kann sich da vielleicht noch an die "Nacht der reitenden Leichen" erinnern oder "Ein Zombie hängt am Glockenseil" – das ist heute nicht mehr drin. Es wird mehr historisch, es wird auch mehr reflektiert, und die Romane sind heute ganz anders als damals."

    Jason Dark alias Helmut Rellergerd hat wahrscheinlich mehr Schreckgespenster ins Leben gerufen als jeder seiner schriftstellernden Zeitgenossen, und mit Hilfe seines literarischen Alter Egos Sinclair hat er diese Höllenbrut bislang auch stets wieder entsorgt.
    Woher aber nimmt er den Stoff für seine übellaunigen Ungetüme? Entstehen sie an einem literarischen Reißbrett, in einer Monster-AG? Gibt es ein geheimes Rellergerd'sches Rezept?

    "Ach, ich lass mich meist überraschen, ich liege auf der Couch und – ja, ich bin ein großer Fernseher, bevorzuge allerdings Infotainment, nicht Entertainment: 3Sat, die dritten Programme, hin und wieder ARTE, die geben mir doch immer viele Ideen für Romane. Zum Beispiel ist (...) vor kurzem mein Taschenbuch "Schlachtfeld der Verfluchten" erschienen, da ging es um die Amazonen, und sich sah in TERRA-X einen Bericht, dass man im tiefsten Sibirien eine Nachfolgerin der ehemaligen Amazonen gefunden hat, und das war für mich ein Aufhänger für einen John Sinclair-Roman."

    Auch wenn Jason Darks dunkle Fauna mittlerweile sehr vielgestaltig ist, voller Götzen, Teufel, Todesengel, Doppelgänger und Dämonen, Druiden und Magier und anderer Quälgeister, stellen die Vampire doch so etwas wie die Ur-Eingeborenen dieser Welt dar – und das nicht erst, seit man die ausgedienten Zombies vom Glockenseil abgehängt hat.

    "Vampir" ist ein serbokroatisches, vielleicht bulgarisches Wort, das bösartige Tote bezeichnet, die nachts den Lebenden das Blut aussaugen. Das Wort gelangte in einem Bericht über Vorfälle in Belgrad 1725 nach Leipzig und von dort aus in den deutschen Sprachraum.
    Zwar ist Sinclair als Kind unserer Zeit mit Handy und Beretta bewaffnet, am besten hilft gegen Vampire aber immer noch ein altes Hausmittel: das Pfählen!

    "In diesem Moment traf Marek seine Entscheidung. Es ist die Nacht des Pfählers, schoss es ihm durch den Kopf. Dann sprang er. Den Pfahl umklammerte er mit der rechten Hand. `Die Nacht des Pfählers!´, brüllte der alte Vampirjäger, bevor er den Pfahl in den Rücken des mächtigen Blutsaugers stieß."

    Vielleicht drückt sich in diesen Texten eine gewisse Sehnsucht nach Handgreiflichkeit aus, der Wunsch, mit dem Bösen auf Augenhöhe zu kämpfen, es im Griff, und den Sieg des Guten in der Hand zu haben. Statt wehr- und tatenlos in der Tagesschau vom Unheil zu hören, das Menschen zu Hunderttausenden zu Opfern von Naturkatastrophen, Kriegen und Bürgerkriegen macht.

    Wie es um seine Leser steht, was sie verlangen und was sie ablehnen, weiß vermutlich niemand annähernd so gut wie Helmut Rellergerd selbst: 160.000 Leserbriefe hat er im Lauf der Jahrzehnte erhalten und archiviert; einige davon wurden auf der Leserseite der Heftromane veröffentlicht:

    Da schreibt Gerhilde Stampfl aus Burglengenfeld:
    "Ich muss dir einfach mal wieder schreiben. Dass der Schwarze Tod wieder mit von der Partie ist, finde ich gut, doch es war schlimm, dass die Horror-Oma sterben musste."
    Baron Kerstian von Kerckerinck aus Hinterzarten hat einige Fragen zu der schönen Vampirin Justine Cavallo:
    "Was hat sie eigentlich für eine Vergangenheit? Weiterhin ist für mich die Frage wichtig, was Sie mit diesem Gothic Girl vorhaben. Es wäre doch schade, wenn die blonde Bestie sterben würde."
    Andrea Gembler aus Riegelsberg teilt dieses Interesse:
    "Seit fast 17 Jahren lese ich Ihre Romane. Mittlerweile ist auch mein Freund zu einem eifrigen Leser geworden. Ich bin ein großer Fan von Justine Cavallo. Wie ist sie eigentlich zu einer Vampirin geworden?"
    Wollen wir hoffen, dass auch diese Geheimnis demnächst gelüftet wird.

    Immer wieder trifft der Autor seine Leser oder vielmehr Leserinnen persönlich, zum Beispiel:
    "(Das sehe ich ja) – bei den Autogrammstunden. Es gibt Junge, junge Erwachsene, so von sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahren. Aber es gibt auch die Frauen von 30 bis 45 Jahren, die früher gelesen haben, heirateten, Kinder bekamen, nicht mehr berufstätig sind und sich erinnert haben: Ach Mensch, da war doch noch was, was ich früher so gern gelesen habe, und wieder zu John Sinclair zurück kamen."

    Und so werden noch viele, getrieben vom Gefühl, dass es da doch noch etwas gab, zu John Sinclair zurück kehren, werden sich von ihm zu einem Ausflug ins Kellergewölbe überreden lassen, weil sie wissen: Im geeigneten Moment wird er Licht machen in einer finsteren Welt.

    Der blanke Schrecken, Geisterjäger John Sinclair (Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach).