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Wenn sich Leistung nicht mehr lohnt

Am Ende des Monats landet immer weniger Geld in der Lohntüte. Betroffen sind vor allem Facharbeiter, Handwerker, Angestellte im mittleren Dienst sowie Kleinunternehmer. Der Grund sind hohe Steuern und steigende Sozialversicherungsbeiträge.

Von Ronny Arnold | 18.09.2010
    Jens Mattei räumt seinen Lieferwagen aus, verstaut Werkzeug und Material im kleinen Anbau hinter seinem Einfamilienhaus. Es ist Montagabend, kurz nach 18 Uhr. Seit ein paar Minuten hat der 44-jährige Fliesenleger Feierabend. Zehn Stunden war er heute unterwegs, zurzeit ist er auf drei Baustellen gleichzeitig tätig. Einer der Aufträge war seit Langem geplant, zwei kamen kurzfristig.

    "Aufwand eine gute Woche, gute Woche Arbeit. So sieht das im Moment aus. Planen kann man schlecht. Von Januar bis August läuft es eigentlich ganz gut bei mir. Ich hab das Glück, durch viel Mundpropaganda, und meistens klappt es dann, dass ich den Auftrag bekomme."

    Jens Mattei arbeitet seit 13 Jahren als selbstständiger Fliesenleger. Sein Unternehmen ist ein Einmannbetrieb. Der jährliche Umsatz liegt bei etwa 35.000 Euro. Doch Umsatz ist nicht gleich Gewinn: Was im ersten Moment gar nicht so schlecht klingt, sieht nach Abzug aller Kosten schon weniger rosig aus: Knapp 1.000 Euro bleiben dem Handwerker im Monat. Seine Ehefrau erhält Hartz IV-Leistungen: circa 600 Euro pro Monat, da sie fast 30 Jahre lang gearbeitet hat. Die Familie muss das Einfamilienhaus und den Lieferwagen abbezahlen, der Kühlschrank will gefüllt sein – und ab und an braucht die 14-jährige Tochter eine neue Schultasche oder möchte etwas Geld fürs Kino. Übrig bleibt da am Monatsende nichts.

    "Ich will nicht sagen, dass man für umsonst arbeitet. Aber es ist nicht mehr wie vor zehn Jahren, wo der Fliesenleger vielleicht einen Quadratmeterpreis von 100 D-Mark gelegt hat. Jetzt liegen sie bei 20 bis 25 Euro im Schnitt – höchstens, wenn man Glück hat. Ich will nicht klagen, aber es ist nicht einfach. Ist schon jeden Monat ein Kampf. Und das ist jetzt nicht nur bei mir, bei den Fliesenlegern, es ist mit allen so, die da zu kämpfen haben."

    Alle haben zu kämpfen - Jens Mattei glaubt für viele Handwerker in Deutschland sprechen zu können, denen es ähnlich geht wie ihm. Nimmt man sein Einkommen zur Grundlage, gehört der Fliesenleger aus einem kleinen Dorf in Westsachsen der deutschen Mittelschicht an.

    Die deutsche Mittelschicht schrumpft, stellte kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, kurz DIW, in Berlin fest. In den vergangenen zehn Jahren um etwa sechs Prozent. Jan Goebel, Experte für Einkommensverteilung am DIW, hat in einer Studie nachgewiesen, dass die niedrigen und die hohen Einkommen in Deutschland im letzten Jahrzehnt noch weiter auseinanderklaffen. Verlierer dieser Entwicklung ist laut Goebel die Mittelschicht, der noch ungefähr 60 Prozent aller deutschen Haushalte angehören.

    "Die Ärmeren wurden ärmer, und die Reicheren wurden reicher. In der Konsequenz sehen wir ein Schrumpfen der Mittelklasse. Dieses Schrumpfen ist zwar nicht exorbitant, was aber besorgniserregend ist, ist dieser lang anhaltende, gleichbleibende Trend."

    Zur Mittelschicht zählt, wer als Single über ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 860 und 1.844 Euro verfügt. Eine Familie mit zwei Kindern gehört laut DIW zu den mittleren Einkommensbeziehern, wenn ihr zwischen 1.979 und 4.242 Euro im Monat zur Verfügung stehen. Auch das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle an der Saale, kurz IWH, arbeitet mit diesen Zahlen. Trotzdem sieht IWH-Mitarbeiter Herbert Buscher diese Definition der Mittelschicht skeptisch.

    "Man gilt schon als Teil der Mittelschicht, wenn ich mehr als 860 Euro netto verdiene im Monat, und das ist ausgesprochen wenig. Wenn man sich überlegt, eine alleinstehende Person im Hartz IV-Bezug mit Warmmiete etc. liegt so etwa bei 650 bis 700. Und dann würde man bei 860 eigentlich nicht den Beginn der Mittelschicht ansetzen."

    Nun also schrumpft die Mittelschicht, und bewegt sich dabei in zwei Richtungen: Ein kleiner Teil wandert in die Oberschicht, der wesentlich größere Teil aber rutscht nach unten ab. Etwa zwei Drittel der Personen, die in den letzten Jahren aus dem mittleren Einkommensbereich gerutscht sind, verdienen heute weniger als 860 Euro netto. Und das sei ein Problem, meint Herbert Buscher: Es würden diejenigen verschwinden, die auch den überwiegenden Teil des Konsums tätigen.

    Einen maßgeblichen Anteil daran trägt die Steuerpolitik, die die Mitte der Gesellschaft immer stärker belaste. In dieser Analyse sind sich die Wirtschaftswissenschaftler von DIW und IWH, aber auch Experten vom Bund der Steuerzahler einig. Hohe steuerliche Belastungen und steigende Sozialversicherungsbeiträge mindern die Finanzen der mittleren Einkommensgruppen. Vom Bruttoverdienst landet netto immer weniger in der Lohntüte. Betroffen sind vor allem Facharbeiter, Handwerker, Angestellte im mittleren Dienst sowie Kleinunternehmer.

    "Die Mittelschicht, das ist der Teil der Bevölkerung, der mehr oder weniger Steuern zahlt. Und der Steuertarif ist progressiv gestaltet, sodass also überproportional viel an Abgaben geleistet werden muss. Und wenn dann noch die Sozialversicherungsbeiträge variiert steigen, dann bleibt selbstverständlich weniger vom Brutto über. Und dementsprechend ist die Gefahr, dass ich in die untere Einkommensgruppe abrutsche, größer."

    Der Staat schröpfe seine Leistungsträger. Beispiel: die progressive Besteuerung der Löhne: Auf die ersten knapp 8.000 Euro Jahreseinkommen entfallen überhaupt keine Steuern, danach steigen die Sätze stufenweise von 14 auf 42 Prozent. Maximal 5,5 Prozent Solidaritätszuschlag kommen hinzu. Die Leidtragenden seien die Angehörigen der Mittelschicht, die - trotz einiger Freibeträge - für einen Teil ihres Einkommens immer häufiger den Spitzensteuersatz von 42 Prozent zahlen müssten. Laut einer Studie, die das Karl-Bräuer-Institut im Jahr 2009 im Auftrag des Bundes der Steuerzahler erstellte, hat sich die steuerliche Belastung der mittleren Einkommen in den vergangenen knapp 20 Jahren deutlich erhöht: Wer etwa 65.000 Euro brutto im Jahr verdient, zahlt heute 13 Prozent mehr Steuern als im Jahr 1990.

    Fliesenleger Jens Mattei kann diese Zahlen nur bestätigen. Auch er habe das Gefühl, zwar nicht umsonst, aber doch für zu wenig Lohn zu arbeiten.

    "Die sollten in Deutschland eine Steuer machen und gut ist es, vielleicht ein, zwei Krankenkassen. Ist zu viel Bürokratie, bin ich nicht einverstanden! Die Politik bekommt schon ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil in der Mittelschicht steckt auch der grundlegende Gedanke: Leistung muss sich lohnen. Und wenn ich merke, dass Leistung sich nicht lohnt, wenn ich trotz regelmäßiger Arbeit, mehr als 40-Stunden-Woche oder dergleichen, nicht klarkomme mit meinem Einkommen, dann stimmt etwas nicht. Dann ist man demotiviert, man wendet sich vom Staat ab, man traut ihm nichts mehr zu. Und das ist so die gefährliche Komponente."

    Denn: Wo Glaubwürdigkeit verloren geht, sei Resignation nicht weit. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung warnt in seiner Studie explizit vor Abstiegsängsten, die in der Mittelschicht um sich greifen würden, spricht gar von Statuspanik, wenn immer mehr Bürger ihren Abstieg in die Armut vor Augen hätten. Auf Dauer könnte das zu einem Problem für die gesamte Gesellschaft werden, meint dazu der Leipziger Soziologe Georg Vobruba, der sich seit über 30 Jahren mit deutscher und internationaler Sozialpolitik beschäftigt.

    "Ein wesentliches Merkmal des Selbstverständnisses der Mittelschicht ist, Leistungsträger der Gesellschaft zu sein, auf die es ankommt. Und die Unruhe könnte sich so auswirken, dass genau jenen Leuten immer und immer wieder vor Augen geführt wird: So sehr kommt es auf dich nicht an. Und das geht natürlich auf die Substanz des Selbstverständnisses, und es geht auf die Leistungsfähigkeit. Übrigens auch diverse internationale Daten zeigen, dass eine Gesellschaft, in der sich Abstiegsängste ausbreiten, keine sehr innovative Gesellschaft ist."

    Die Folgen: Die Risikobereitschaft der Menschen sinkt, Investitionen bleiben aus und es werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Er sorgt sich ferner um das Selbstbild einer Bevölkerungsgruppe, das sich über viele Jahrzehnte hinweg entwickelt hat.

    "Ich würde wichtig für die Mittelschicht weniger irgendwelche materiellen Indikatoren halten, sondern einerseits ein gewisses Maß an Bildung und Ausbildung und ganz zuvorderst das Selbstverständnis Mittelschicht zu sein. Also zu wissen, dass man zwar auf der einen Seite nach oben Entfaltungsspielraum hat oder hätte, andererseits aber auch, dass unter einem, wenn man das so hierarchisch sehen will, auch noch viel ist. Also, dass man gepolstert in dieser Gesellschaft lebt. Dieses Gefühl scheint möglicherweise mehr verloren zu gehen, als sich die reale Lebenssituation zurzeit ändert. Und das ist ein relativ tief greifender sozialer Wandel in unserem Land."

    Die Gesellschaft verändert sich - und die Mittelschicht steckt mittendrin. Ihr sozialer und materieller Aufstieg beruhte bis Mitte der 70er-Jahre vor allem auf sicheren Arbeitsplätzen. Es herrschte Vollbeschäftigung, und der einmal erlernte Beruf wurde meist ein Leben lang ausgeübt. Heute beherrschen Ängste vor Arbeitslosigkeit und vor sozialem Abstieg einen Großteil der Bevölkerung. Im Zuge steigender Arbeitslosenzahlen mussten die Sozialversicherungssysteme immer wieder angepasst und umgebaut werden. Zulasten der Steuerzahler, also vor allem der Mittelschicht, meint IWH-Experte Buscher.

    "Im Schnitt hat man ungefähr 40 bis 42 Prozent Abgaben, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge einschließlich Arbeitgeberbeiträge. Und jedes Jahr kommt dann immer eine kurze Notiz in den Nachrichten, meistens so um Juli herum: Jetzt arbeiten Sie für die eigene Tasche. Das heißt, das erste halbe Jahr arbeitet man für den Staat. Einerseits will man das nicht, andererseits will man es schon. Weil man sieht ja auch, dass das was Vernünftiges ist. Die ganze soziale Umverteilung, das ist ja einer der größten Titel im Bundeshaushalt, dient ja dazu, Leute vor Armut zu schützen."

    Soziale Umverteilung, die Schwachen der Gesellschaft schützen, Steuern gerecht verteilen – bei Sätzen wie diesen hätte Martina Mattei, die Ehefrau des Fliesenlegers, bis vor wenigen Jahren wohl eher desinteressiert abgewunken. So gut wie nie habe sie sich mit der staatlichen Absicherung gegen Arbeitslosigkeit, mit Hartz IV und Co. oder ähnlichem beschäftigt, sagt sie. Musste die heute 55-Jährige auch nicht, denn sie hatte fast 30 Jahre lang einen halbwegs krisensicheren Job als Sekretärin. Doch seit drei Jahren ist sie arbeitslos und mittlerweile auf Hartz IV angewiesen. Ihr Einkommen von ehemals 1.200 Euro hat sich mehr als halbiert.

    Ihr Mann Jens muss mit seiner Arbeit als Fliesenleger maßgeblich für das Wohl der Familie sorgen. Ein finanzieller Kraftakt. Jeden Monat, erzählt die Ehefrau, müssen die Raten für das gemeinsame Haus an die Bank überwiesen werden; pünktlich, egal ob die Auftraggeber des Handwerkers bereits bezahlt haben oder nicht. Zum Glück sei die Zahlungsmoral der überwiegend privaten Kunden momentan noch gut, meint Martina Mattei, die ihren Mann mit Wissen der Behörde bei der Büroarbeit unterstützt – Rechnungen schreibt, nach Ausschreibungen sucht, sich um die Steuerunterlagen kümmert. Geld bekommt sie dafür nicht. Einkaufen geht Martina Mattei nur noch beim Discounter. Mal eben shoppen gehen und einfach so ein paar Euro ausgeben, das sei im Moment definitiv nicht drin.

    "Also ich würde sagen, im Moment geht es uns schlecht. Was aber auch auf der Situation beruht, dass ich jetzt arbeitslos bin. Ich muss anstreben, in jedem Fall wieder Arbeit zu bekommen, dann ist unsere Situation wieder wesentlich besser. Aber es ist natürlich schwierig, mit Mitte 50 überhaupt noch eine Arbeit zu bekommen. Und natürlich müssen die Aufträge, was meinen Mann betrifft, weiter so laufen bzw. noch etwas besser werden."

    Gleichzeitig habe sich die Mentalität der Kunden doch sehr verändert, erzählt Martina Mattei: Nach dem Motto "Geiz ist geil" würden viele Leute versuchen, eines Handwerker zu sparen.

    "Materialkosten sind gestiegen, um etwa 20 Prozent. Kraftstoffe, vor allem beim Diesel, bestimmt eine Steigerung von 25 Prozent. Und den Stundensatz wesentlich zu erhöhen, ist im Moment nicht möglich. Es gibt viele, die kein Gewerbe angemeldet haben und das nebenher machen. Und bieten halt ihre Arbeit zu sehr geringen Stundensätzen an."

    Die Handwerkergattin deutet es nur an: Sie meint Schwarzarbeit. Nach Schätzungen des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008 beläuft sich die Wertschöpfung durch Schwarzarbeit auf etwa 70 Milliarden Euro jährlich. Die Umsätze dieser sogenannten Schattenwirtschaft werden auf eine Summe zwischen 300 und 400 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Dass ehrliche Steuerzahler wie Jens Mattei sich am Ende wie die Dummen fühlen, wundert Herbert Buscher vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle an der Saale nicht. Die leistungsbereite Mittelschicht verliere langsam aber sicher den Glauben an ein gerechtes System, in dem ihre Leistung Anerkennung findet.

    "Man möchte so ein Gefühl haben von Gerechtigkeit, dass es gerecht zugeht. Jemand, der viel leistet, soll auch viel Geld bekommen. Und das ist so langsam das Gefühl, was sich hier einschleicht, dass es nicht mehr ganz gerecht zugeht. Und das ist der sozialpolitische Sprengstoff, der hinter dieser Untersuchung steht."

    Nicht nur Handwerker, auch Unternehmen stehen unter einem immer größeren Druck. Und damit auch Arbeiter und Angestellte. Um im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben, müssen Firmen permanent ihre Personalkosten senken, Arbeitsabläufe werden umstrukturiert, Arbeitsplätze wegrationalisiert oder ins Ausland verlagert.

    "Es ist auch generell die Situation, dass vielfach Einkommen gedrückt wurde, Löhne gedrückt wurden und gesagt wurde: Dann holt euch den Rest vom Staat. Also die Gedankenphilosophie auch der Unternehmen ist etwas anders geworden als in den 60er und 70er-Jahren. Da war es eigentlich selbstverständlich, dass man für faire Arbeit auch einen fairen Lohn bekam. Man saß in einem Boot. Und jetzt hat man den Eindruck, man kämpft gegeneinander."

    Herbert Buscher vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle sieht die Politik in der Pflicht: Er sagt, die Mittelschicht werde zwar gerne und zu Recht als eine relevante Wählergruppe gesehen. Bei politischen Entscheidungen zugunsten dieser Gruppe allerdings werde viel zu zaghaft agiert.

    "Es ist eines der Probleme, dass man eventuell zu langsam angefangen hat, die Sozialversicherungssysteme umzubauen, demografiegerecht. Sodass jetzt die Belastungen überproportional auf diejenigen zukommen, die als Mittelschicht mehr oder weniger bezeichnet werden. In den 50er-Jahren die Leute wurden 67, 68 Jahre alt. Jemand der heute geboren wird hat eine Chance von 86 Jahren beziehungsweise 83. Das muss quasi von den Leuten, die arbeiten, als Beitrag erwirtschaftet werden, solange ich ein Umlageverfahren habe. Oder ich muss es auf eine dritte Säule stellen, auf eine private Zusatzversorgung. Dafür müssen die Leute aber auch die finanziellen Mittel haben."

    Eine kurzfristige und äußerst kurzsichtige Politik werde derzeit betrieben, behauptet der Wirtschaftsexperte. Das räche sich spätestens in zehn Jahren. Denn der demografische Wandel sei in vollem Gange: Schon heute fehlen qualifizierte Fachkräfte. Junge Leistungsträger, die angehende Mittelschicht, wandern ins Ausland ab, weil die Verdienstmöglichkeiten in Skandinavien oder der Schweiz besser sind. Diese Leistungsträger im Land zu halten und ihnen berufliche Perspektiven zu bieten, sollte ein vorrangiges Ziel der Politik sein, sagt der Leipziger Soziologe Georg Vobruba. Eine Politik der steuerlichen Entlastung der Mittelschicht könnte da sicher helfen. Doch an eine Steuersenkungspolitik, wie im schwarz-gelben Koalitionsvertrag versprochen, an eine im Bundestagswahlkampf von Union und FDP ebenso angekündigte Umkehr bei der progressiven Steuerbelastung, glaubt der Soziologieprofessor nicht so recht.

    "Ich glaube nicht, dass die Steuersenkungspolitik, so sie irgendwo durchsetzbar ist, im Ernst die durchschnittlichen bis leicht unterdurchschnittlichen Mittelschicht-Einkommensbezieher entlasten wird. Möglicherweise geht das auch gar nicht, einfach weil es so viele sind und weil man deren Geld braucht. Was diesen Punkt betrifft denke ich eher, dass sich die Politik, sei es aus Gerechtigkeitsgründen, wieder mehr auf hohe Einkommen konzentrieren wird. Nicht zuletzt auch mit dem Argument, dass es erstaunlich viele Bezieher von hohen Einkommen gibt, die mit einer hohen Besteuerung durchaus zufrieden sind."

    Doch ob eine Vermögens- oder Reichensteuer die Mitte der Gesellschaft dauerhaft entlasten würde, bleibt fraglich. Für den Soziologen Vobruba und den Wirtschaftswissenschaftler Buscher stehen drei Themen im Fokus: der demografische Wandel, die Bildungschancen für die unteren Schichten, Migrantenfamilien inklusive sowie der drohende Fachkräftemangel. Handle beziehungsweise steuere die Politik in diesen Bereichen nicht gegen, sei der Lebensstandard in Deutschland auf Dauer nicht haltbar. Mit der Folge, dass die Mittelschicht weiter schrumpfe. In gezielter Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte, wie sie jüngst von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) gefordert wurde, sieht auch der Wirtschaftsexperte Buscher eine Chance.

    "Wenn ich keine Immigration will, dann muss ich in Kauf nehmen, dass mein Wohlstand sinkt, schlichtweg. Man kann ja Zuwanderung steuern, wie etwa in den USA, wenn man mal von der illegalen Einwanderung absieht. Das wird ja über eine Greencard gesteuert. Man muss dann aber auch bereit sein für eine Multikultigesellschaft, sonst funktioniert das nicht."

    In einem sind sich die Experten einig: Deutschland könne wuchern mit führenden Technologien, mit einer leistungsbereiten Bevölkerung, mit wissenschaftlichem Know-how. Nur es müsse dringend investiert werden: in gute Schulausbildung, qualifizierte Berufsausbildung und innerbetriebliche Weiterbildung. Nicht der nostalgische Blick zurück in die Vergangenheit sei innovativ, sondern der realistische in die Zukunft, meint der Soziologe Georg Vobruba.

    "Eine Stabilität, wie man sie gewohnt war aus den 60er-Jahren, halte ich für völlig utopisch. Dazu kommt es nicht mehr, nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung, also der Transnationalisierung von Arbeitsmärkten, der erhöhten Mobilität von Kapital und auch von Arbeit. Die Mittelschicht wird nicht größer werden, eher noch ein bisschen schrumpfen. Sie wird an den Rändern ausfransen, Grauzonen, in denen man halb drinnen und halb draußen ist. Ganz bestimmt kommt es innerhalb der Mittelschicht zu einer Altersverschiebung. Sie wird, wie unsere gesamte Gesellschaft, einfach älter. Und ansonsten denke ich, dass die Mittelschicht unternehmerischer werden wird. Also die Zahl derer, die Kleinunternehmer sind bzw. Unternehmer der eigenen Arbeitskraft, und das erfolgreich, das wird zunehmen."

    Jens Mattei, der Fliesenleger aus Westsachsen, bejammert sein Schicksal nicht nur, er handelt. Er hat sich was einfallen lassen: Um an größere und damit lukrativere Aufträge zu kommen, schließt er sich immer öfter mit anderen Kleinunternehmern zusammen. Und das funktioniert. Seine Einkommenssituation verbessere sich peu à peu.

    "Ich hab noch andere Fliesenleger, und wenn größere Sachen sind, dann helfen wir uns gegenseitig. Machen wir dann eben einen Vertrag und dann wird halbe-halbe gemacht."