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Wenn stark sein schwer wird

Jenna ist 13, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die an Brustkrebs erkrankt ist und seit Jahren dahinsiecht. Jenna muss also ein starkes Mädchen sein - an jedem einzelnen Tag, an dem sie all die hilfsreichen Installationen in der Wohnung sieht oder ins Krankenhaus gehen sollte. Aber "stark sein" wird schnell zu einer Überforderung, wenn man noch so wenig in sich ruht wie ein halbwüchsiges Mädchen.

Von Michael Schmitt | 27.06.2006
    Jenna ist hin und her geworfen zwischen Trauer, Verzagtheit und Selbstmitleid auf der einen Seite - und ihren Wünschen nach einem Leben wie es ihre Schulkameradinnen führen auf der anderen. Sie liebt ihre Mutter, aber sie hasst, was deren kranken Körper für Anforderungen mit sich bringt. Sie rebelliert dagegen -- und macht sich Vorwürfe.

    Die 26jährige Johanna Thydell erzählt davon in ihrem Debütroman "An der Decke leuchten die Sterne", der in Schweden schon mit Preisen honoriert worden ist - und es gelingt ihr, diese eine Prüfung in den Zusammenhang all der Unausgeglichenheiten und Selbstzweifel einzubinden, die zur Pubertät dazugehören, wenn ein junger Mensch flügge werden soll, wenn also Fesseln das letzte sind, was zu ertragen ist.

    "An der Decke leuchten die Sterne" ist daher mehr und anders als irgendein gut gemeinter "Problemroman", der jungen Lesern Hilfestellungen für schwierige Situationen anbieten möchte. Auf eine unauffällige Weise ist das eine erstaunlich drastische Geschichte über Körperbilder und Körpergefühl und vor allem und ganz besonders ein äußerst dichtes und einfühlsames Porträt eines jungen Mädchens mit allen seinen Schwächen, Launen und Stärken. Vorangetrieben von kurzen Sätzen, in einem leicht gehetzten Stakkato, folgt die Geschichte den wechselnden Stimmungen des Mädchens, überträgt deren ungerichtete Aggressionen, ihren Überschwang und ihre Niedergeschlagenheit in eindringliche Prosa.

    Johanna Thydell scheut dabei vor kaum etwas zurück: Nicht vor den Narben der brustamputierten Mutter und nicht vor den Spielchen, die Jenna und eine Schulfreundin anfangs mit den Ersatzbrüsten der Mutter treiben. Und natürlich auch nicht vor den Vergleichen, die Jenna in der Umkleidekabine nach dem Sportunterricht anstellt, wenn die Dreizehnjährige ihren eigenen Körper neben denen ihrer Mitschülerinnen wahrnimmt, wenn sie etwa ihren eigenen, kaum entwickelten Busen mit dem der schönen Vicki vergleicht, die alle paar Wochen einen größeren Sport-BH zu brauchen scheint - und auch alle paar Wochen mit einem neuen Freund aufwarten kann.

    "Ficki-Vicki" denkt sie dann und möchte auf keinen Fall so sein wie die -- weiß aber zugleich, dass sie solange unzufrieden sein wird, solange sie nicht zu den Partys geht, bei denen Vicki mit diesen Kerlen rumknutscht. Nur: Kann sie überhaupt dahin gehen, während ihre Mutter unbeholfen und schwerfällig zuhause sitzt und Hilfe braucht? Und kann man sich über einen Körper überhaupt freuen, wenn er doch entweder so zerstört ist wie der ihrer Mutter, so dürr wie ihr eigener -- oder so herausfordernd wie der von Vicki?

    Freimütig erzählte Romane über Pubertät und Sexualität sind in den letzte Jahren oft erschienen, souverän im Umgang mit allen Facetten des Themas, sprachlich pointiert, weitgehend tabufrei. Melvin Burgess "Doing it" ist ein Beispiel dafür, Holly-Jane Rahlens "Wie man richtig küsst" ein anderes. Aber diese Romane werden -- so scheint es jedenfalls -- von Kritikern oder Lehrern zuweilen höher geschätzt als von denen, für die sie geschrieben werden. Woran das liegen mag? Vielleicht daran, dass sie zu souverän daherkommen, zu sehr mit all den Reizen und Signalen spielen, die heute an jeder Straßenecke herbeizitiert werden - und darüber vergessen, dass die ersten Küsse oder auch mehr nun mal kein Spiel sind, wenn man sie noch vor sich hat als Initiation in ein Leben jenseits der Kindheit.

    In Johanna Thydells Roman dagegen ist gerade diese Unsicherheit Satz für Satz präsent; alle ambivalenten Gefühle, aller Übermut und alle Verzweiflung. Das Leben besteht aus mehr als nur den Problemen der Pubertät und auch aus mehr als nur dem Leid wegen der Mutter - erst beides zusammen, oft untrennbar ineinander verwickelt, macht Jennas Lage so schwierig. Wie sie da heraus kommt, welche Rolle dabei ihre Lieblingsfeindin Vicki und deren Mutter spielen -- die "moderne Alte", die immer so tut, als wäre sie viel jünger als sie ist -- , das gehört zum lesenswertesten, was derzeit über dieses Thema in der Jugendliteratur zu haben ist.

    Johanna Thydell:
    "An der Decke leuchten die Sterne"
    (Verlag Oetinger)