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Wenn Töchter sich emanzipieren

Drei Töchter stehen im Mittelpunkt von Kerstin Hensels Novellen in dem Band "Federspiel". Zum Dienen erzogen, lösen sich die Frauen allmählich aus der Kommandogewalt der Familie, finden dadurch zu sich und zu einer anderen Leichtigkeit.

Von Michael Opitz | 17.09.2012
    Rita ist noch ein Kind, als sie ihren Vater verrät, der daraufhin verhaftet wird und in einem Konzentrationslager ums Leben kommt. Was das Wort 'fliegen' heißt, wusste Rita, aber die spezielle Bedeutung des Wortes 'auffliegen' kannte sie nicht, als sie ihren Vater "hochgehen" ließ. Dadurch machte sie zunächst ihm sowie ihrer Mutter und später auch sich das Leben schwer.

    Über mehrere Jahrzehnte verfolgt Kerstin Hensel in der Geschichte "Der Gnadenhof" das Leben von Rita, deren Mutter Gerlinde und dem Bruder Richard. Der Verrat am Vater lastet wie ein Alb auf Rita, die ihre Schuld abzutragen versucht, indem sie ihre Mutter aufopferungsvoll pflegt. Gerlinde findet sehr schnell Gefallen an dem Umhegt werden und der ständigen Aufmerksamkeit, die ihr widerfährt. Doch statt dankbar zu sein, beginnt sie wie eine Despotin zu herrschen. Auf dem Gnadenhof, auf dem neben der Mutter auch eine verwirrte Alte und ein lahmer Gaul unterkommen, leisten Rita und Richard Fronarbeit – sie tun es freiwillig. Doch um schließlich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, müssen sie den Hof verlassen, was einem Gnadenschuss gleichkommt.

    Ebenso lang wie die erste, ist die dritte Geschichte des Bandes mit dem Titel "Der Deutschgeber". Der Vater von Wanda, ein sprachbesessener Deutschlehrer, der seine Tochter in goethescher Sprachmanier zu unterrichten gedenkt, hat zunächst mit seinen Erziehungsmaßnahmen Erfolg. Wanda fährt gern mit ihrem Vater Wortkarussell und sie tanzt auch gern für ihn. Wenn ihr beim Tanzen Federn aus dem Haar fallen, sagt der Vater: Sie mausert sich. Das tut sie in der Tat, aber anders, als es sich der Vater wünscht, der sie daraufhin mit Liebesentzug bestraft. Der zu Höherem Berufene muss im Laufe seines Lebens mit ansehen, wie seine Familie in die Brüche geht. Das Heiligtum zerbricht, weil der Überflieger die Bodenhaftung verliert. Sein Traum, stets besser als die anderen zu sein, löst sich in Luft auf, weil er selbstherrlich und arrogant nur seine Ansprüche gelten lässt.

    Im Aufbau erinnert "Federspiel", alle drei Erzählungen sind in den letzten drei Jahren entstanden, an ein Diptychon, wobei die mittlere Geschichte "Immer bereit" die Funktion eines Scharniers hat.

    Kerstin Hensel: "Ich habe das von vornherein als Scharniergeschichte geplant gehabt. Also, ja – eine experimentelle Form ist es nicht – es ist ein einziger Satz, mit Kommas getrennt. Das hat ja auch einen Grund. Denn dieses Lachen, um das es geht, also dieser Impuls des Lachens, ist ja ohne Ende. Der kommt immer wieder, in jeder Situation. Er wird weitergetragen, nur getrennt durch verschiedene Lebensabschnitte. Also habe ich ihn so, in dieser Form, geschrieben."

    Die mittlere Geschichte stellt eine Verbindung zu den beiden umfangreicheren Erzählungen dar. Sie liest sich – der Titel "Immer bereit" lädt dazu ein – zugleich wie ein Kommentar zu den von Hensel beschriebenen Vorgängen in den beiden anderen Geschichten. Denn Bereitschaft und Gehorsam werden in den Familienverhältnissen, die sie beschreibt, gnadenlos eingefordert. Wollte man, ausgehend von den Texten, ein Bild entwerfen wollen, dann sollten darauf, nach Ansicht von Kerstin Hensel, zwei Dinge auf jeden Fall zu sehen sein:

    "Es müssten auf jeder Tafel ein Vater und eine Feder zu sehen sein. Also nicht nur Federspiel, sondern auch Väter-Spiel. Was mich interessiert hat, waren die Macht- und Abhängigkeitsstrukturen innerhalb von drei verschiedenen Familien. Also Macht gepaart mit Feder, die ja eigentlich etwas Machtloses ist, weil sie sich treiben lässt und weil sie davon fliegt. Also diese Mischung, die mich auch im Leben interessiert, habe ich versucht, in diese drei Geschichten zu packen."

    Die Feder ist ein durchgängiges Motiv, auf das in allen drei Erzählungen des Bandes "Federspiel" Bezug genommen wird. Bereits mit der Titelwahl eröffnet die Autorin einen bunten Reigen verschiedenster Bedeutungsassoziationen. Als 'Federspiel' bezeichnet der Falkner ein zum Teil aus Federn bestehendes Übungswerkzeug, das ihm dazu dient, den Greifvogel abzurichten. Er erzieht ihn zum Gehorsam.

    Das Leichte und Schwebende, für das die Feder steht, bekommt durch den Begriff "Federspiel" eine weitere Bedeutungskomponente, wenn man Domestizierung mitdenkt. Sie schwingt noch in dem Gelöbnis ‚Immer bereit!' der DDR-Jungpioniere mit, das etwas Fatales hat, wenn durch unbedingten Gehorsam die eigene frei Entfaltung verhindert wird, wenn Bereitschaft nur Gefolgschaft meint.

    Kerstin Hensel zeigt die Entwicklung von Figuren, die zum Dienen erzogen wurden, und die sich erst allmählich aus der Kommandogewalt der Familienverhältnisse befreien:

    "Das sind sicher auch Emanzipationsgeschichten. Also Geschichten, in denen sich die Figuren von diesem Spiel, von diesem 'Immer-bereit-Sein', auch von dieser Liebe, die natürlich dahinter steckt und von der Enge und von der Gewalt, befreien. Also sie versuchen, sich zu emanzipieren von diesen Strukturen. Es sind keine Figuren, die von Anfang an rebellieren, gegen das, was ihnen widerfährt. Diese Harmonie, die alle erst anstreben, das ist ja auch eine wichtige Sache, sich in dieser Harmonie weiterzuentwickeln und zu merken, dass durch die Machtverhältnisse in der Familie, diese Harmonie eigentlich gar nicht mehr gegeben ist und ziemlich spät fangen sie dann an, sich zu befreien."

    Die Väter, die in den Geschichten von Kerstin Hensel vorkommen, weisen Züge von Übervätern auf. Ritas Vater, ein Philosoph, durchschaut die nationalsozialistische Politik und bekämpft sie. Er muss dafür mit seinem Leben bezahlen. Seiner Tochter bleibt nur sein Bild. Auch Babette verliert in der Geschichte "Immer bereit" ihren Vater. Der Prothesenbauer stirbt an einem Herzinfarkt. Beibringen konnte er ihr, über die weniger schönen Seiten des Lebens einfach hinwegzulachen.

    In beiden Familien sind die Väter-Rollen vakant. Nur in der dritten Geschichte ist ein Vater anwesend. Der Lehrer vermittelt seiner Tochter zwar Wissen, aber er will sie nicht groß werden lassen. Sie soll die lernwillige und folgsame Tochter, die er klein hält, bleiben. Die Geschichte geht schließlich über diese Väter hinweg.

    Kerstin Hensel: "Die Väter fliegen auf ihre völlig verschiedene Weise hin, nieder, auf, weg."

    Die Töchter emanzipieren sich und indem sie sich aus den Abhängigkeitsverhältnissen lösen, finden sie zu sich und sie finden auch zu einer anderen Leichtigkeit. Wohin sie der Wind treiben wird, bleibt ungewiss. Sicher aber scheint, dass er kein leichtes Spiel mit ihnen haben wird – Federgewichte sind es nicht, die Kerstin Hensel in ihrer unverwechselbaren Art entworfen hat. Das Leichte hat bei ihr durchaus Gewicht. An diesen kleinen, gut gearbeiteten und mit Humor geschriebenen Texten, kann man sich verheben, wenn man sie zu leicht nimmt.

    Kerstin Hensel: Federspiel.
    Drei Liebesnovellen
    Luchterhand Verlag, München 2012, 192 Seiten, 19,99 Euro.