Budapest, schöne Metropole an der Donau. Viele Kaffeehäuser und Restaurants halten für Touristen die typisch ungarischen Klischees bereit: Gulasch und Palatschinken, schwere Weine und munteres Gefiedel. Doch der Eindruck, die Magyaren seien ein gut gelauntes Völkchen, täuscht. Die Stimmung im Land war selten gut nach der Wende vor sechzehn Jahren. Doch derzeit ist sie so schlecht wie nie zuvor.
Budapest, Lehel-Halle, einer der größten Lebensmittelmärkte der ungarischen Hauptstadt. János Kovács, ein fünfzigjähriger Bauer, bedient seine Kunden scherzend und ausgesucht freundlich. Aber auch so verkauft er das Obst und Gemüse, das er in Kecskemét anbaut, fünfzig Kilometer südlich der Hauptstadt, nicht besonders gut. Wenn gerade keine Kunden an seinen Stand kommen, schimpft Kovács über die sozialistische Regierung und den EU-Beitritt Ungarns vor knapp zwei Jahren.
"Hier im Land gibt es keinerlei Werbung, dass die Ungarn ungarische Waren kaufen sollen. Überall bauen sie diese riesigen Supermärkte, die den großen internationalen Konzernen gehören. Wir brauchen eine Führung, die alles in ungarische Hände zurückbringt! Aber so etwas darf man hier ja nicht sagen!"
Ungarn vor den Parlamentswahlen am morgigen Sonntag. Viele Menschen im Land sind nicht einfach nur politikverdrossen. Sie reagieren zutiefst frustriert auf Fragen nach dem Wahlkampf und nach ihren Lebensperspektiven. Dabei rechtfertigen die Wirtschaftszahlen die schlechte Stimmung eigentlich nicht. Das Wachstum betrug vergangenes Jahr vier Prozent, die Reallöhne stiegen um sechs Prozent, die Inflation lag mit dreieinhalb Prozent bei einem der niedrigsten Werte innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte. Dennoch: In Ungarn herrscht ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Das Land hat seinen Übergang zur Marktwirtschaft kaum richtig abgeschlossen, da muss es sich schon neuen Umbrüchen stellen, etwa dem EU-internen Wettbewerb sowie der Globalisierung. Nicht nur in einzelnen Problembereichen wie der Landwirtschaft, sondern auf dem gesamten Arbeitsmarkt macht sich ein einschneidender Wandel bemerkbar, hebt die Budapester Wirtschaftsforscherin Judit Hamar hervor.
"Westeuropa hat diesen Prozess durchlaufen, als zum Beispiel in der Textilindustrie nur noch die Arbeitsplätze für Hochqualifizierte blieben und die arbeitskräfteintensiven Produktionsphasen ausgelagert wurden. Genau dasselbe findet jetzt in Ungarn statt."
Vor allem aber ist die schlechte Stimmung der Ungarn eine Reaktion auf die politische Kultur im Land. Die beiden großen Parteien, die "Ungarische Sozialistische Partei" und der nationalkonservative "Bund Junger Demokraten - Ungarische Bürgerpartei", bekriegen sich nun schon seit Jahren. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass sie gegeneinander öffentliche Schmutz- und Hetzkampagnen führen, in denen es zumeist um Vorwürfe wie Korruption, illegale Geschäfte oder Landesverrat geht. Wie sich das auf die Gesellschaft auswirkt, beschreibt der Politologe und Wahlforscher László Kéri mit einem ironischen Vergleich.
"Die ungarische Politik ist wie ein Basar in Kleinasien. Der Tourist steigt aus dem Bus und wird sofort belagert, und zwar so lange und so aufdringlich, bis er endlich etwas kauft. Von 2002 bis 2005 gab es fünf verschiedene Wahlen und Referenden in Ungarn. Das war einfach zuviel für das Land. Eine Wahlkampagne ging gerade zu Ende, da begann auch schon die nächste. Die Leute haben die Nase voll davon."
Die polarisierten politischen Verhältnisse könnten sich nun erstmals seit der Wende auch auf das Wahlergebnis auswirken. Im neuen Parlament werden möglicherweise nur noch die Sozialisten und die Nationalkonservativen vertreten sein. In Umfragen liegen die beiden Parteien etwa gleichauf, es ist also unklar, wer die voraussichtlich dünne Parlamentsmehrheit erringen wird. Der kleine Koalitionspartner der regierenden Sozialisten, der liberale "Bund Freier Demokraten", liegt in den Prognosen mal deutlich, mal knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde, das oppositionelle, gemäßigt konservative "Ungarische Demokratische Forum" kommt auf zwei bis drei Prozent. Stimmen die Umfragen, dann wäre Ungarn nach den Wahlen, abgesehen vom Sonderfall des Inselstaates Malta, das erste europäische Land mit einem Zwei-Parteien-System. Für den Politologen László Kéri Anlass zur Sorge:
"Das wäre eine tragische Entwicklung, weil keine der beiden großen Parteien eine stabile politische Kraft ist, der man das Land allein anvertrauen könnte, und sei es auch nur für vier Jahre. Wir hatten bisher vier Mal Koalitionsregierungen, in denen die kleinen Parteien immer in gewissem Maße Korrekturfaktoren waren. Wenn die Sozialisten oder Nationalkonservativen allein regieren, steht zu befürchten, dass sie sich noch mehr als bisher zu Sammelvereinen korrupter Geschäftemacher entwickeln. Leider sind die Chancen für ein Zwei-Parteien-System gut. Sollte es wirklich kommen, dann wird das in Zukunft sehr viele Probleme verursachen."
Einen Vorgeschmack darauf bietet der Stil des Wahlkampfes. In fast schon amerikanischer Manier ist er auf die beiden politischen Führer des Landes zugeschnitten, den sozialistischen Regierungschef Ferenc Gyurcsány und den Chef der oppositionellen Nationalkonservativen Viktor Orbán. Von ihren Parteien werden sie zu fast messianischen Figuren hochstilisiert. Ein Wahlslogan der Sozialisten lautet beispielsweise: "Ein Land, ein Mensch, ein Programm!".
Der Mensch mit seinem Programm: Ungarns sozialistischer Regierungschef Ferenc Gyurcsány hält im Parlament eine Ansprache an seine Landsleute. "Die Wende ist vollzogen", sagt Gyurcsány, "aber es scheint, als ob sich viele Menschen noch gegen das neue Ungarn wehren. Ich sage: Es führt kein Weg zurück zum Sozialismus! Wir bauen eine soziale Marktwirtschaft auf!"
"Die Regierung kann stolz sein", fährt Gyurcsány fort. Es gebe ein bisschen weniger Ungleichheit, ein bisschen weniger Armut, doch es bleibe noch viel zu tun. Dann spricht er die oppositionellen Nationalkonservativen an: "Radikalismus und Aufrührerei sind gefährliche Fehler. Wir brauchen Ruhe und Sicherheit."
Auf einen Mann wie Gyurcsány haben die ungarischen Sozialisten jahrelang gewartet. Der 45-Jährige besitzt Führungsstärke, und - viel wichtiger noch - er vereint in seiner Person und seinem Lebensweg die traditionell zerstrittenen Richtungen der Partei - von Altkommunisten und Gewerkschaftern bis hin zu modernen Sozialdemokraten und Sozialliberalen. Gyurcsány war vor 1989 Chef des kommunistischen Jugendverbandes in Südungarn, nach der Wende wurde er mit Investmentgeschäften zu einem der reichsten Unternehmer Ungarns. Der rote Kapitalist, wie er genannt wird, stieg erst vor wenigen Jahren wieder in die Politik ein. 2002 wurde er in der sozialistisch-liberalen Koalitionsregierung Sportminister, im Sommer 2004 übernahm er von seinem blassen Vorgänger Péter Medgyessy putschartig das Amt des Regierungschefs und beendete so eine monatelange Partei- und Regierungskrise der Sozialisten. Seither versucht sich Gyurcsány als Bewahrer von Ruhe, Ordnung und sozialer Sicherheit zu profilieren. Im Wahlkampf schlägt er gegenüber der Opposition harte, polemische Töne an. Dennoch tritt er insgesamt maßvoller auf als sein Kontrahent Viktor Orbán.
Viktor Orbán bei einem Wahlkampfauftritt in Budapest. Der Chef der Nationalkonservativen wird mit Triumphmusik empfangen, auf einem Großbildschirm läuft im Zeitlupentempo ein Film, der ihn im Gespräch mit einfachen Ungarn zeigt. Viktor Orbán kommt schnell zur Sache. "Es muss einen Platz in der Welt geben, ruft er ins Publikum, wo die Ungarn vor allen anderen Nationen einen Vorteil haben, und dieser Platz kann nur Ungarn sein. Es ist nicht natürlich, nicht gesund und nicht normal", predigt Orbán weiter, "wenn Ausländer bei uns Vorrang haben."
Der Wahlslogan der Nationalkonservativen lautet: "Arbeit, Heim, Familie". Orbáns Angebot ist schlicht, aber eingängig: "Ungarische Solidarität oder schonungsloser wilder Kapitalismus."
Der 42-jährige Jurist Orbán ist seit über fünfzehn Jahren Chef des Bundes Junger Demokraten. Zu Beginn ihrer Geschichte war diese Partei ein bunter, liberaler Verein antikommunistischer Studenten und jugendlicher Bürgerrechtler. Mitte der neunziger Jahre krempelte Orbán die Partei auf geradezu diktatorische Weise um, vollzog eine scharfe Wende nach rechts und verdrängte damit alle anderen Parteien aus diesem Spektrum. Doch ebenso wie die links positionierten Sozialisten haben auch die Jungdemokraten kein klares ideologisches Profil. Sie sind vielmehr eine rechte Sammlungspartei, zusammengehalten von ihrem autoritär auftretenden Chef. Von 1998 bis 2002 regierten die Jungdemokraten mit Orbán als Ministerpräsident und machten Ungarn dabei zum Störenfried der Region. Orbán, der nationalistische Rethorik liebt, provozierte ständig diplomatische Krisen mit den Nachbarländern Slowakei, Ukraine, Serbien und Rumänien. Dort leben große ungarische Minderheiten.
Viel Rethorik, vor allem aber Polemik auf beiden Seiten. Von programmatischer Substanz ist - zumindest im Wahlkampf - bei beiden großen Parteien kaum etwas zu spüren. Die einen wie die anderen verheißen im Falle ihres Wahlsiegs große nationale Bildungs-, Sozial-und Infrastrukturprogramme. Vor allem Viktor Orbán verspricht inzwischen fast täglich Steuersenkungen und Staatsausgaben von mehreren Millionen. Dabei sei das ungarische Budget schon jetzt überstrapaziert, wie die Budapester Wirtschaftsforscherin Zita Mária Petschnig warnt:
"In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Regierungen in den Haushalt geradezu verliebt, deshalb ist der Spielraum jetzt sehr klein. Das Land steht zwar nicht vor dem finanziellen Bankrott wie noch Mitte der neunziger Jahre. Aber die Öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und das Bildungswesen müssen zwangsläufig auf eine neue finanzielle Grundlage gestellt werden. Das werden keine populären Maßnahmen sein. Denn sie werden den Besitzstand vieler Menschen angreifen und Widerstand hervorrufen."
Das ungarische Haushaltsdefizit liegt bei sechs Prozent. Der ursprünglich für 2008 geplante Beitritt zur Euro-Zone musste letztes Jahr auf 2010 verschoben werden, und die Brüsseler EU-Kommission mahnt Ungarn seit Monaten zu größerer finanzieller Disziplin. Die Fraktionschefin der Sozialisten im Parlament, Ildikó Lendvai, gesteht indirekt ein, dass die finanziellen Wahlkampfversprechen ihrer Partei wohl kaum haltbar sind:
"Die Reallöhne und Renten sind in den letzten vier Jahren beispiellos gestiegen. Unser Sozialprogramm hat alte Ungerechtigkeiten beseitigt, aber damit begannen zweifellos auch unsere Haushaltsprobleme. Künftig wird es mehr Sparsamkeit geben müssen. Vor allem die Staatsverwaltung bedarf einer Umgestaltung. Das ist im übrigen die Aufgabe jeder kommenden Regierung, egal wer sie bildet."
Die Jungdemokraten hingegen beteuern, dass sie ihre Wahlkampfversprechen einhalten werden. Finanzieren wollen sie die mit einer in Ostmitteleuropa derzeit sehr beliebten Methode: "Senkung von Steuern und Lohn-Nebenkosten", heißt die vermeintliche Zauberformel. Dazu Zsolt Német, einer der führenden Außenpolitiker der Jungdemokraten:
"Man muss langfristig denken. Der Sektor der kleinen und mittelständischen Unternehmen muss dynamisiert werden, und wir müssen Stellen für die Arbeitslosen schaffen. Das geht nicht, ohne die Sozialversicherungsbeiträge und die Steuern zu senken. Wenn die finanziellen Lasten geringer werden, dann gibt es auch mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und letztlich mehr Staatseinnahmen. Wir sollten eben nicht nur ans Sparen denken, sondern auch daran, wie die Einnahmen erhöht werden können."
Viele Beobachter bewerten den Marathon sich gegenseitig überbietender Wahlversprechen von Seiten der Sozialisten und Nationalkonservativen als pure Demagogie. Beide Parteien könnten nur wenig davon einhalten, sagt etwa der Budapester Philosoph und Publizist Gáspár Miklós Tamás. Nach der Regierungsbildung stünden beide ohnehin vor denselben wirtschaftlichen Sachzwängen und Problemen:
"Ich glaube, dass es am ehesten ernsthafte atmosphärische Veränderungen geben wird, wenn die Rechten an die Macht kommen. Und es ist natürlich wichtig, was für eine soziale und kulturelle Atmosphäre in einem Land herrscht. Die Rechte war sehr antiparlamentarisch, als sie von 1998 bis 2002 regierte, und das würde sie wahrscheinlich fortsetzen. Im Bildungsbereich würde es sicher einen konservativ-klerikalen Durchbruch geben, die Macht des Staates würde ausgeweitet werden. Oder auch solch ein soziokulturell umstrittenes Thema wie die 'Einwanderung’: Hier stehen alle Regierungen unter dem Druck der Öffentlichkeit - die Rechte würde dem Ruf nach Verschärfungen wohl am meisten nachgeben, zumindest rethorisch."
Es bleibt allerdings nicht nur bei Rhetorik. Zsolt Német, dem Außenpolitiker der Jungdemokraten, fällt sofort ein konkretes Beispiel dafür ein, wie seine Partei bei einem Wahlsieg gegen den "wilden Kapitalismus" und für mehr "ungarische Solidarität" kämpfen will:
"Die verschiedenen multinationalen Konzerne, zum Beispiel diejenigen im Energiebereich, erwirtschaften Profite, die sie sonst nirgendwo in Westeuropa erwirtschaften. Das liegt daran, dass ihre Verträge mit dem ungarischen Staat Nachteile für die ungarischen Bürger bringen. Diese Verträge müssen wir neu verhandeln. Diese Firmen sollen dann genau solche fairen Profite erwirtschaften können wie zum Beispiel auf dem deutschen Markt."
Auch im Bereich der Außenpolitik wollen die Nationalkonservativen so manches ändern. Jungdemokraten-Chef Viktor Orbán verspricht ein – wörtlich – "großes und starkes Ungarn". Es soll zu einer Regionalmacht aufsteigen. Zsolt Német gibt auch an dieser Stelle eine Interpretationshilfe:
"Formulieren wir es positiv: Wir werden beispielsweise entschlossen für die Interessen der Auslandsungarn eintreten. Inzwischen gibt es in der Europäischen Union nicht mehr nur Katalanen, Südtiroler und schleswig-holsteinische Dänen, sondern auch Ungarn. Für diese Minderheiten muss ein institutionelles Schutz-System eingerichtet werden. Und wenn wir dann etwa mit Rumänien wegen unserer Landsleute streiten müssen, dann werden wir das natürlich tun, denn Minderheiten haben einen Anspruch auf Schutz."
Zurück auf dem Budapest Lehel-Markt. Die Menschen hier sind nicht nur frustriert über den Wahlkampf, viele wissen auch nicht, ob sie überhaupt zur Wahl gehen und für wen sie dann eigentlich stimmen werden. Dies ist übrigens ein seit Jahren konstantes Phänomen in Ungarn: Bei Parlamentswahlen bleiben ein Drittel der Wähler oder mehr zuhause, an Kommunalwahlen beteiligen sich meist weit weniger als fünfzig Prozent der Stimmberechtigten. Und viele, die wählen gehen, entscheiden sich überhaupt erst ein paar Tage vor der Wahl, wem sie ihre Stimme geben wollen. Die 24-jährige Maklerin Katalin Német gehört zu den wenigen, die schon seit einiger Zeit wissen, wer ihr Favorit ist, aber...:
"...das Schlimmste ist, dass sich die Kontroversen jetzt schon bis in die eigene Familie hineinziehen. Da herrscht ein regelrechter Zwei-Fronten-Krieg. Ich jedenfalls werde zwar auf alle Fälle wählen gehen. Aber selbst zu Hause, im engen Kreis, sage ich nicht mehr, wer meine Stimme kriegt!"
Budapest, Lehel-Halle, einer der größten Lebensmittelmärkte der ungarischen Hauptstadt. János Kovács, ein fünfzigjähriger Bauer, bedient seine Kunden scherzend und ausgesucht freundlich. Aber auch so verkauft er das Obst und Gemüse, das er in Kecskemét anbaut, fünfzig Kilometer südlich der Hauptstadt, nicht besonders gut. Wenn gerade keine Kunden an seinen Stand kommen, schimpft Kovács über die sozialistische Regierung und den EU-Beitritt Ungarns vor knapp zwei Jahren.
"Hier im Land gibt es keinerlei Werbung, dass die Ungarn ungarische Waren kaufen sollen. Überall bauen sie diese riesigen Supermärkte, die den großen internationalen Konzernen gehören. Wir brauchen eine Führung, die alles in ungarische Hände zurückbringt! Aber so etwas darf man hier ja nicht sagen!"
Ungarn vor den Parlamentswahlen am morgigen Sonntag. Viele Menschen im Land sind nicht einfach nur politikverdrossen. Sie reagieren zutiefst frustriert auf Fragen nach dem Wahlkampf und nach ihren Lebensperspektiven. Dabei rechtfertigen die Wirtschaftszahlen die schlechte Stimmung eigentlich nicht. Das Wachstum betrug vergangenes Jahr vier Prozent, die Reallöhne stiegen um sechs Prozent, die Inflation lag mit dreieinhalb Prozent bei einem der niedrigsten Werte innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte. Dennoch: In Ungarn herrscht ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit. Das Land hat seinen Übergang zur Marktwirtschaft kaum richtig abgeschlossen, da muss es sich schon neuen Umbrüchen stellen, etwa dem EU-internen Wettbewerb sowie der Globalisierung. Nicht nur in einzelnen Problembereichen wie der Landwirtschaft, sondern auf dem gesamten Arbeitsmarkt macht sich ein einschneidender Wandel bemerkbar, hebt die Budapester Wirtschaftsforscherin Judit Hamar hervor.
"Westeuropa hat diesen Prozess durchlaufen, als zum Beispiel in der Textilindustrie nur noch die Arbeitsplätze für Hochqualifizierte blieben und die arbeitskräfteintensiven Produktionsphasen ausgelagert wurden. Genau dasselbe findet jetzt in Ungarn statt."
Vor allem aber ist die schlechte Stimmung der Ungarn eine Reaktion auf die politische Kultur im Land. Die beiden großen Parteien, die "Ungarische Sozialistische Partei" und der nationalkonservative "Bund Junger Demokraten - Ungarische Bürgerpartei", bekriegen sich nun schon seit Jahren. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass sie gegeneinander öffentliche Schmutz- und Hetzkampagnen führen, in denen es zumeist um Vorwürfe wie Korruption, illegale Geschäfte oder Landesverrat geht. Wie sich das auf die Gesellschaft auswirkt, beschreibt der Politologe und Wahlforscher László Kéri mit einem ironischen Vergleich.
"Die ungarische Politik ist wie ein Basar in Kleinasien. Der Tourist steigt aus dem Bus und wird sofort belagert, und zwar so lange und so aufdringlich, bis er endlich etwas kauft. Von 2002 bis 2005 gab es fünf verschiedene Wahlen und Referenden in Ungarn. Das war einfach zuviel für das Land. Eine Wahlkampagne ging gerade zu Ende, da begann auch schon die nächste. Die Leute haben die Nase voll davon."
Die polarisierten politischen Verhältnisse könnten sich nun erstmals seit der Wende auch auf das Wahlergebnis auswirken. Im neuen Parlament werden möglicherweise nur noch die Sozialisten und die Nationalkonservativen vertreten sein. In Umfragen liegen die beiden Parteien etwa gleichauf, es ist also unklar, wer die voraussichtlich dünne Parlamentsmehrheit erringen wird. Der kleine Koalitionspartner der regierenden Sozialisten, der liberale "Bund Freier Demokraten", liegt in den Prognosen mal deutlich, mal knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde, das oppositionelle, gemäßigt konservative "Ungarische Demokratische Forum" kommt auf zwei bis drei Prozent. Stimmen die Umfragen, dann wäre Ungarn nach den Wahlen, abgesehen vom Sonderfall des Inselstaates Malta, das erste europäische Land mit einem Zwei-Parteien-System. Für den Politologen László Kéri Anlass zur Sorge:
"Das wäre eine tragische Entwicklung, weil keine der beiden großen Parteien eine stabile politische Kraft ist, der man das Land allein anvertrauen könnte, und sei es auch nur für vier Jahre. Wir hatten bisher vier Mal Koalitionsregierungen, in denen die kleinen Parteien immer in gewissem Maße Korrekturfaktoren waren. Wenn die Sozialisten oder Nationalkonservativen allein regieren, steht zu befürchten, dass sie sich noch mehr als bisher zu Sammelvereinen korrupter Geschäftemacher entwickeln. Leider sind die Chancen für ein Zwei-Parteien-System gut. Sollte es wirklich kommen, dann wird das in Zukunft sehr viele Probleme verursachen."
Einen Vorgeschmack darauf bietet der Stil des Wahlkampfes. In fast schon amerikanischer Manier ist er auf die beiden politischen Führer des Landes zugeschnitten, den sozialistischen Regierungschef Ferenc Gyurcsány und den Chef der oppositionellen Nationalkonservativen Viktor Orbán. Von ihren Parteien werden sie zu fast messianischen Figuren hochstilisiert. Ein Wahlslogan der Sozialisten lautet beispielsweise: "Ein Land, ein Mensch, ein Programm!".
Der Mensch mit seinem Programm: Ungarns sozialistischer Regierungschef Ferenc Gyurcsány hält im Parlament eine Ansprache an seine Landsleute. "Die Wende ist vollzogen", sagt Gyurcsány, "aber es scheint, als ob sich viele Menschen noch gegen das neue Ungarn wehren. Ich sage: Es führt kein Weg zurück zum Sozialismus! Wir bauen eine soziale Marktwirtschaft auf!"
"Die Regierung kann stolz sein", fährt Gyurcsány fort. Es gebe ein bisschen weniger Ungleichheit, ein bisschen weniger Armut, doch es bleibe noch viel zu tun. Dann spricht er die oppositionellen Nationalkonservativen an: "Radikalismus und Aufrührerei sind gefährliche Fehler. Wir brauchen Ruhe und Sicherheit."
Auf einen Mann wie Gyurcsány haben die ungarischen Sozialisten jahrelang gewartet. Der 45-Jährige besitzt Führungsstärke, und - viel wichtiger noch - er vereint in seiner Person und seinem Lebensweg die traditionell zerstrittenen Richtungen der Partei - von Altkommunisten und Gewerkschaftern bis hin zu modernen Sozialdemokraten und Sozialliberalen. Gyurcsány war vor 1989 Chef des kommunistischen Jugendverbandes in Südungarn, nach der Wende wurde er mit Investmentgeschäften zu einem der reichsten Unternehmer Ungarns. Der rote Kapitalist, wie er genannt wird, stieg erst vor wenigen Jahren wieder in die Politik ein. 2002 wurde er in der sozialistisch-liberalen Koalitionsregierung Sportminister, im Sommer 2004 übernahm er von seinem blassen Vorgänger Péter Medgyessy putschartig das Amt des Regierungschefs und beendete so eine monatelange Partei- und Regierungskrise der Sozialisten. Seither versucht sich Gyurcsány als Bewahrer von Ruhe, Ordnung und sozialer Sicherheit zu profilieren. Im Wahlkampf schlägt er gegenüber der Opposition harte, polemische Töne an. Dennoch tritt er insgesamt maßvoller auf als sein Kontrahent Viktor Orbán.
Viktor Orbán bei einem Wahlkampfauftritt in Budapest. Der Chef der Nationalkonservativen wird mit Triumphmusik empfangen, auf einem Großbildschirm läuft im Zeitlupentempo ein Film, der ihn im Gespräch mit einfachen Ungarn zeigt. Viktor Orbán kommt schnell zur Sache. "Es muss einen Platz in der Welt geben, ruft er ins Publikum, wo die Ungarn vor allen anderen Nationen einen Vorteil haben, und dieser Platz kann nur Ungarn sein. Es ist nicht natürlich, nicht gesund und nicht normal", predigt Orbán weiter, "wenn Ausländer bei uns Vorrang haben."
Der Wahlslogan der Nationalkonservativen lautet: "Arbeit, Heim, Familie". Orbáns Angebot ist schlicht, aber eingängig: "Ungarische Solidarität oder schonungsloser wilder Kapitalismus."
Der 42-jährige Jurist Orbán ist seit über fünfzehn Jahren Chef des Bundes Junger Demokraten. Zu Beginn ihrer Geschichte war diese Partei ein bunter, liberaler Verein antikommunistischer Studenten und jugendlicher Bürgerrechtler. Mitte der neunziger Jahre krempelte Orbán die Partei auf geradezu diktatorische Weise um, vollzog eine scharfe Wende nach rechts und verdrängte damit alle anderen Parteien aus diesem Spektrum. Doch ebenso wie die links positionierten Sozialisten haben auch die Jungdemokraten kein klares ideologisches Profil. Sie sind vielmehr eine rechte Sammlungspartei, zusammengehalten von ihrem autoritär auftretenden Chef. Von 1998 bis 2002 regierten die Jungdemokraten mit Orbán als Ministerpräsident und machten Ungarn dabei zum Störenfried der Region. Orbán, der nationalistische Rethorik liebt, provozierte ständig diplomatische Krisen mit den Nachbarländern Slowakei, Ukraine, Serbien und Rumänien. Dort leben große ungarische Minderheiten.
Viel Rethorik, vor allem aber Polemik auf beiden Seiten. Von programmatischer Substanz ist - zumindest im Wahlkampf - bei beiden großen Parteien kaum etwas zu spüren. Die einen wie die anderen verheißen im Falle ihres Wahlsiegs große nationale Bildungs-, Sozial-und Infrastrukturprogramme. Vor allem Viktor Orbán verspricht inzwischen fast täglich Steuersenkungen und Staatsausgaben von mehreren Millionen. Dabei sei das ungarische Budget schon jetzt überstrapaziert, wie die Budapester Wirtschaftsforscherin Zita Mária Petschnig warnt:
"In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Regierungen in den Haushalt geradezu verliebt, deshalb ist der Spielraum jetzt sehr klein. Das Land steht zwar nicht vor dem finanziellen Bankrott wie noch Mitte der neunziger Jahre. Aber die Öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und das Bildungswesen müssen zwangsläufig auf eine neue finanzielle Grundlage gestellt werden. Das werden keine populären Maßnahmen sein. Denn sie werden den Besitzstand vieler Menschen angreifen und Widerstand hervorrufen."
Das ungarische Haushaltsdefizit liegt bei sechs Prozent. Der ursprünglich für 2008 geplante Beitritt zur Euro-Zone musste letztes Jahr auf 2010 verschoben werden, und die Brüsseler EU-Kommission mahnt Ungarn seit Monaten zu größerer finanzieller Disziplin. Die Fraktionschefin der Sozialisten im Parlament, Ildikó Lendvai, gesteht indirekt ein, dass die finanziellen Wahlkampfversprechen ihrer Partei wohl kaum haltbar sind:
"Die Reallöhne und Renten sind in den letzten vier Jahren beispiellos gestiegen. Unser Sozialprogramm hat alte Ungerechtigkeiten beseitigt, aber damit begannen zweifellos auch unsere Haushaltsprobleme. Künftig wird es mehr Sparsamkeit geben müssen. Vor allem die Staatsverwaltung bedarf einer Umgestaltung. Das ist im übrigen die Aufgabe jeder kommenden Regierung, egal wer sie bildet."
Die Jungdemokraten hingegen beteuern, dass sie ihre Wahlkampfversprechen einhalten werden. Finanzieren wollen sie die mit einer in Ostmitteleuropa derzeit sehr beliebten Methode: "Senkung von Steuern und Lohn-Nebenkosten", heißt die vermeintliche Zauberformel. Dazu Zsolt Német, einer der führenden Außenpolitiker der Jungdemokraten:
"Man muss langfristig denken. Der Sektor der kleinen und mittelständischen Unternehmen muss dynamisiert werden, und wir müssen Stellen für die Arbeitslosen schaffen. Das geht nicht, ohne die Sozialversicherungsbeiträge und die Steuern zu senken. Wenn die finanziellen Lasten geringer werden, dann gibt es auch mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und letztlich mehr Staatseinnahmen. Wir sollten eben nicht nur ans Sparen denken, sondern auch daran, wie die Einnahmen erhöht werden können."
Viele Beobachter bewerten den Marathon sich gegenseitig überbietender Wahlversprechen von Seiten der Sozialisten und Nationalkonservativen als pure Demagogie. Beide Parteien könnten nur wenig davon einhalten, sagt etwa der Budapester Philosoph und Publizist Gáspár Miklós Tamás. Nach der Regierungsbildung stünden beide ohnehin vor denselben wirtschaftlichen Sachzwängen und Problemen:
"Ich glaube, dass es am ehesten ernsthafte atmosphärische Veränderungen geben wird, wenn die Rechten an die Macht kommen. Und es ist natürlich wichtig, was für eine soziale und kulturelle Atmosphäre in einem Land herrscht. Die Rechte war sehr antiparlamentarisch, als sie von 1998 bis 2002 regierte, und das würde sie wahrscheinlich fortsetzen. Im Bildungsbereich würde es sicher einen konservativ-klerikalen Durchbruch geben, die Macht des Staates würde ausgeweitet werden. Oder auch solch ein soziokulturell umstrittenes Thema wie die 'Einwanderung’: Hier stehen alle Regierungen unter dem Druck der Öffentlichkeit - die Rechte würde dem Ruf nach Verschärfungen wohl am meisten nachgeben, zumindest rethorisch."
Es bleibt allerdings nicht nur bei Rhetorik. Zsolt Német, dem Außenpolitiker der Jungdemokraten, fällt sofort ein konkretes Beispiel dafür ein, wie seine Partei bei einem Wahlsieg gegen den "wilden Kapitalismus" und für mehr "ungarische Solidarität" kämpfen will:
"Die verschiedenen multinationalen Konzerne, zum Beispiel diejenigen im Energiebereich, erwirtschaften Profite, die sie sonst nirgendwo in Westeuropa erwirtschaften. Das liegt daran, dass ihre Verträge mit dem ungarischen Staat Nachteile für die ungarischen Bürger bringen. Diese Verträge müssen wir neu verhandeln. Diese Firmen sollen dann genau solche fairen Profite erwirtschaften können wie zum Beispiel auf dem deutschen Markt."
Auch im Bereich der Außenpolitik wollen die Nationalkonservativen so manches ändern. Jungdemokraten-Chef Viktor Orbán verspricht ein – wörtlich – "großes und starkes Ungarn". Es soll zu einer Regionalmacht aufsteigen. Zsolt Német gibt auch an dieser Stelle eine Interpretationshilfe:
"Formulieren wir es positiv: Wir werden beispielsweise entschlossen für die Interessen der Auslandsungarn eintreten. Inzwischen gibt es in der Europäischen Union nicht mehr nur Katalanen, Südtiroler und schleswig-holsteinische Dänen, sondern auch Ungarn. Für diese Minderheiten muss ein institutionelles Schutz-System eingerichtet werden. Und wenn wir dann etwa mit Rumänien wegen unserer Landsleute streiten müssen, dann werden wir das natürlich tun, denn Minderheiten haben einen Anspruch auf Schutz."
Zurück auf dem Budapest Lehel-Markt. Die Menschen hier sind nicht nur frustriert über den Wahlkampf, viele wissen auch nicht, ob sie überhaupt zur Wahl gehen und für wen sie dann eigentlich stimmen werden. Dies ist übrigens ein seit Jahren konstantes Phänomen in Ungarn: Bei Parlamentswahlen bleiben ein Drittel der Wähler oder mehr zuhause, an Kommunalwahlen beteiligen sich meist weit weniger als fünfzig Prozent der Stimmberechtigten. Und viele, die wählen gehen, entscheiden sich überhaupt erst ein paar Tage vor der Wahl, wem sie ihre Stimme geben wollen. Die 24-jährige Maklerin Katalin Német gehört zu den wenigen, die schon seit einiger Zeit wissen, wer ihr Favorit ist, aber...:
"...das Schlimmste ist, dass sich die Kontroversen jetzt schon bis in die eigene Familie hineinziehen. Da herrscht ein regelrechter Zwei-Fronten-Krieg. Ich jedenfalls werde zwar auf alle Fälle wählen gehen. Aber selbst zu Hause, im engen Kreis, sage ich nicht mehr, wer meine Stimme kriegt!"