Sonntagvormittag in einem schicken Einkaufszentrum im Kameari-Viertel, gelegen im Norden von Tokio. Ko Hirano, jungenhaftes Aussehen und klein gewachsen, holt noch eben einen Liter Milch, den seine Frau am Abend vorher vergessen hat. Als Journalist einer großen Nachrichtenagentur verdient er gut, und er ist ehrgeizig. Aber ein wenig Sorgen um die Zukunft macht sich der 34-Jährige schon:
"Leute, die jetzt um die 40 sind, für die steht fest, dass sie einmal weniger kriegen werden, als sie jetzt in die Rentenkasse einzahlen – wenn man den offiziellen Berechnungen glaubt. Wer jetzt zwischen 50 und 60 ist, für den ist die Situation wohl okay. Die Älteren werden mehr erhalten, als sie eingezahlt haben. Aber wir werden immer mehr alte Menschen haben und immer weniger junge Leute, das ist ein sehr ernsthaftes Problem, mit dem wir derzeit in Japan zu tun haben."
Nur ein paar Gehminuten vom adretten Einkaufszentrum liegt das alte Kameari-Viertel, nicht schick, aber gemütlich geht es hier zu. Dicke Kabelwürste hängen von Mast zu Mast schwer über den Straßen, wegen der alltäglichen Erdbebengefahr dürfen die Stromleitungen nicht untertage verlegt werden.
Ko Hirano, der erst letztes Jahr hierher gezogen ist, kennt diesen Teil seines Viertels nur vom Vorbeilaufen. In den kleinen engen Straßen kaufen die Alten aus dem Viertel ein, hier reiht sich hier ein Geschäft an das nächste; kleine Restaurant-Stuben, Blumen- und Tierläden, aus denen es nur so pfeift.
Schräg gegenüber der "Kimura Department Store" – so steht selbstbewusst über dem kleinen voll gestopften Geschäft von Kazuo Kimura. 67 Jahre ist er alt, jeden Tag außer Mittwoch steht er in seinem Laden und verkauft Gartenschläuche, Teetöpfe und Schuhcreme. Die Arbeit macht ihm immer noch sichtlich Spaß:
"Ich muss einfach in Form bleiben, sagt er, meiner Gesundheit tut es also ganz gut, wenn ich weiterarbeite. "
In fast allen Schaufenstern der kleinen Läden im Viertel werden Sonderangebote angepriesen. Von der Konkurrenz durch das Einkaufszentrum würde Kazuo Kimura aber kaum jemals offen sprechen. Nach japanischer Auffassung würde er sein Gesicht zu verlieren, wenn er zugäbe, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu stecken.
Er sei ein bisschen besorgt über die Zukunft, und das Leben werde durch das Einkaufszentrum vielleicht schwieriger – mehr sagt der alte Herr nicht. Ko Hirano, der als Wirtschafsjournalist auch die Sozialpolitik beobachtet, hat indes keinen Zweifel:
"Ich bin sicher, dass die Umsätze sinken, vielleicht müssen sie an ihr Erspartes ran. Die offiziellen Statistiken zeigen es: Die Sparquote sinkt, vor allem bei älteren Leuten. Die Regierung spricht zwar von Maßnahmen, die man dagegen ergreifen müsse, aber bislang haben sie noch keinerlei Vorschläge gemacht. Sie reden davon, dass das Rentensystem unbedingt reformiert werden müsse, aber bisher haben wir da keine klaren Fortschritte."
Immerhin: Das staatliche Renten-Eintritts-Alter wurde in Japan vor kurzem von 60 auf 62 Jahre hochgesetzt. Viele Probleme bleiben aber unangetastet. Regierungsmitglieder räumen selbst ein, dass Japans Arbeits- und Rentenmarkt weder auf die sinkende Bevölkerungszahl vorbereitet sei noch auf die für Japan hohe Jugendarbeitslosigkeit reagiere. Mit einer Quote von fast zehn Prozent ist sie mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote von derzeit 4,1 Prozent. Vor allem gering qualifizierte junge Leute sind betroffen, denn Japan verlegt immer mehr Produktions-Standorte nach China. Aber auch für die gut Ausgebildeten ist der Sprung ins Arbeitsleben schwieriger geworden.
Sonntagabend in einem dezent beleuchteten Restaurant in Tokios Botschafterviertel. Fliesenboden, Popmusik aus Europa, das Publikum ist jung und hip. Hier kann nur speisen, wer es sich leisten kann. In Tokios glitzernder Geschäftswelt sind das nicht wenige.
Chizuru Hatakenaka trifft sich hier mit ihren Freundinnen, darunter auch einige Bekannte aus Europa – man spricht englisch und japanisch abwechselnd.
"Zum Glück arbeiten meine engsten Freunde alle für eine Firma. Aber einige von ihnen haben ihr Unternehmen nach drei oder vier Jahren verlassen, weil sie aus ihrer Arbeit keine Befriedigung gezogen haben. Sie suchen jetzt nach einem neuen Job. Ich weiß nicht genau, ob sie nervös sind, aber sie fühlen sich manchmal bestimmt nicht wohl in ihrer Haut."
Chizuru Hatakenaka ist 27 Jahre alt. Die sehr zierliche hübsche junge Frau hat Journalistik studiert, jetzt arbeitet sie seit zwei Jahren beim japanischen Zeitungsverlegerverband. Lange Arbeitszeiten bis spät in die Nacht, und wenig Urlaub, dafür aber ein gutes Einkommen und finanzielle Unabhängigkeit – Chizuru steht für eine ganze Generation junger aufstrebender Japaner: Oft schon mit Mitte 20 treten sie in ein Unternehmen ein, und stecken das erste selbstverdiente Geld in den Konsum – Unterhaltungselektronik, Kleidung, teure Assecoires. All das steht in Japan dafür, dass man es geschafft hat. Was ist mit den knapp zehn Prozent, die es nicht schaffen? Viele in ihrer Altersgruppe seien wählerisch geworden, meint Chizuru, das sei indes aber nur die halbe Wahrheit:
"Die zweite Tendenz ist die, dass junge Leute, glaube ich, immer sensibler werden, immer zerbrechlicher. Ich glaube, sie haben Angst, sich unter die Gesellschaft zu mischen, weil sie kein Vertrauen haben, auch nicht in sich selbst, versuchen sie, auf sich selbst aufzupassen. Sie verschließen sich und bleiben für sich."
In Japan gibt es dafür sogar einen eigenen Namen: Hikikomori, was übersetzt in etwa "sich einschließen" bedeutet. Als Hikikomori werden Jugendliche bezeichnet, die sich völlig von ihrer Außenwelt abkapseln. Sie sind im Durchschnitt 27 Jahre alt und gelten als psychisch krank. Immer wieder werden sie in einem Atemzug mit der hohen Zahl an jungen Selbstmördern in Japan genannt. Unter den Industrienationen in aller Welt hat Japan die höchste Pro Kopf-Selbstmordrate. Die Kultur der Konfliktverdrängung zugunsten der Harmonie mag ein Grund dafür sein. Sawako Takeuchi, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität von Tokio, hat noch einen zweiten Erklärungsversuch:
"Ich glaube, das ist das Ergebnis der Krise, in der viele japanische Firmen heute stecken. Nehmen wir zum Beispiel die Führungskräfte, die sich der Firma sehr verpflichtet fühlen. Wenn sie an ihren Aufgaben oder an Problemen scheitern, dann fühlen sie sich sozusagen übermäßig verantwortlich – und das wird von anderen Arbeitnehmern dann als Schwäche empfunden. Der andere Grund sind die Umstrukturierungen, die derzeit in vielen Unternehmen stattfinden, der Stellenabbau, der teils recht dramatisch vorangetrieben wird. Viele Arbeitnehmer sind davon überrascht oder geschockt. Die Selbstmorde haben also mit dem Business zu tun, vermute ich. Das Verhältnis zur Firma löst dann absoluten Stress aus."
Der schleichende, aber tiefgreifende Wandel der japanischen Arbeitswelt trifft vor allem die Jungen. Auf lebenslange Festanstellungen, wie sie in Japan jahrzehntelang selbstverständlich und Teil der Firmenkultur waren, kann die junge Generation kaum noch hoffen. Konstant steigende Löhne, sichere Arbeitsplätze und eine tiefe Loyalität zum Unternehmen, all das ist ins Rutschen geraten. Japans traditionell auf Egalität ausgerichtete Gesellschaft driftet auseinander. Die Chance, aufzusteigen, wird immer mehr zu einer Frage des Geldes.
"Leute, die jetzt um die 40 sind, für die steht fest, dass sie einmal weniger kriegen werden, als sie jetzt in die Rentenkasse einzahlen – wenn man den offiziellen Berechnungen glaubt. Wer jetzt zwischen 50 und 60 ist, für den ist die Situation wohl okay. Die Älteren werden mehr erhalten, als sie eingezahlt haben. Aber wir werden immer mehr alte Menschen haben und immer weniger junge Leute, das ist ein sehr ernsthaftes Problem, mit dem wir derzeit in Japan zu tun haben."
Nur ein paar Gehminuten vom adretten Einkaufszentrum liegt das alte Kameari-Viertel, nicht schick, aber gemütlich geht es hier zu. Dicke Kabelwürste hängen von Mast zu Mast schwer über den Straßen, wegen der alltäglichen Erdbebengefahr dürfen die Stromleitungen nicht untertage verlegt werden.
Ko Hirano, der erst letztes Jahr hierher gezogen ist, kennt diesen Teil seines Viertels nur vom Vorbeilaufen. In den kleinen engen Straßen kaufen die Alten aus dem Viertel ein, hier reiht sich hier ein Geschäft an das nächste; kleine Restaurant-Stuben, Blumen- und Tierläden, aus denen es nur so pfeift.
Schräg gegenüber der "Kimura Department Store" – so steht selbstbewusst über dem kleinen voll gestopften Geschäft von Kazuo Kimura. 67 Jahre ist er alt, jeden Tag außer Mittwoch steht er in seinem Laden und verkauft Gartenschläuche, Teetöpfe und Schuhcreme. Die Arbeit macht ihm immer noch sichtlich Spaß:
"Ich muss einfach in Form bleiben, sagt er, meiner Gesundheit tut es also ganz gut, wenn ich weiterarbeite. "
In fast allen Schaufenstern der kleinen Läden im Viertel werden Sonderangebote angepriesen. Von der Konkurrenz durch das Einkaufszentrum würde Kazuo Kimura aber kaum jemals offen sprechen. Nach japanischer Auffassung würde er sein Gesicht zu verlieren, wenn er zugäbe, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu stecken.
Er sei ein bisschen besorgt über die Zukunft, und das Leben werde durch das Einkaufszentrum vielleicht schwieriger – mehr sagt der alte Herr nicht. Ko Hirano, der als Wirtschafsjournalist auch die Sozialpolitik beobachtet, hat indes keinen Zweifel:
"Ich bin sicher, dass die Umsätze sinken, vielleicht müssen sie an ihr Erspartes ran. Die offiziellen Statistiken zeigen es: Die Sparquote sinkt, vor allem bei älteren Leuten. Die Regierung spricht zwar von Maßnahmen, die man dagegen ergreifen müsse, aber bislang haben sie noch keinerlei Vorschläge gemacht. Sie reden davon, dass das Rentensystem unbedingt reformiert werden müsse, aber bisher haben wir da keine klaren Fortschritte."
Immerhin: Das staatliche Renten-Eintritts-Alter wurde in Japan vor kurzem von 60 auf 62 Jahre hochgesetzt. Viele Probleme bleiben aber unangetastet. Regierungsmitglieder räumen selbst ein, dass Japans Arbeits- und Rentenmarkt weder auf die sinkende Bevölkerungszahl vorbereitet sei noch auf die für Japan hohe Jugendarbeitslosigkeit reagiere. Mit einer Quote von fast zehn Prozent ist sie mehr als doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosenquote von derzeit 4,1 Prozent. Vor allem gering qualifizierte junge Leute sind betroffen, denn Japan verlegt immer mehr Produktions-Standorte nach China. Aber auch für die gut Ausgebildeten ist der Sprung ins Arbeitsleben schwieriger geworden.
Sonntagabend in einem dezent beleuchteten Restaurant in Tokios Botschafterviertel. Fliesenboden, Popmusik aus Europa, das Publikum ist jung und hip. Hier kann nur speisen, wer es sich leisten kann. In Tokios glitzernder Geschäftswelt sind das nicht wenige.
Chizuru Hatakenaka trifft sich hier mit ihren Freundinnen, darunter auch einige Bekannte aus Europa – man spricht englisch und japanisch abwechselnd.
"Zum Glück arbeiten meine engsten Freunde alle für eine Firma. Aber einige von ihnen haben ihr Unternehmen nach drei oder vier Jahren verlassen, weil sie aus ihrer Arbeit keine Befriedigung gezogen haben. Sie suchen jetzt nach einem neuen Job. Ich weiß nicht genau, ob sie nervös sind, aber sie fühlen sich manchmal bestimmt nicht wohl in ihrer Haut."
Chizuru Hatakenaka ist 27 Jahre alt. Die sehr zierliche hübsche junge Frau hat Journalistik studiert, jetzt arbeitet sie seit zwei Jahren beim japanischen Zeitungsverlegerverband. Lange Arbeitszeiten bis spät in die Nacht, und wenig Urlaub, dafür aber ein gutes Einkommen und finanzielle Unabhängigkeit – Chizuru steht für eine ganze Generation junger aufstrebender Japaner: Oft schon mit Mitte 20 treten sie in ein Unternehmen ein, und stecken das erste selbstverdiente Geld in den Konsum – Unterhaltungselektronik, Kleidung, teure Assecoires. All das steht in Japan dafür, dass man es geschafft hat. Was ist mit den knapp zehn Prozent, die es nicht schaffen? Viele in ihrer Altersgruppe seien wählerisch geworden, meint Chizuru, das sei indes aber nur die halbe Wahrheit:
"Die zweite Tendenz ist die, dass junge Leute, glaube ich, immer sensibler werden, immer zerbrechlicher. Ich glaube, sie haben Angst, sich unter die Gesellschaft zu mischen, weil sie kein Vertrauen haben, auch nicht in sich selbst, versuchen sie, auf sich selbst aufzupassen. Sie verschließen sich und bleiben für sich."
In Japan gibt es dafür sogar einen eigenen Namen: Hikikomori, was übersetzt in etwa "sich einschließen" bedeutet. Als Hikikomori werden Jugendliche bezeichnet, die sich völlig von ihrer Außenwelt abkapseln. Sie sind im Durchschnitt 27 Jahre alt und gelten als psychisch krank. Immer wieder werden sie in einem Atemzug mit der hohen Zahl an jungen Selbstmördern in Japan genannt. Unter den Industrienationen in aller Welt hat Japan die höchste Pro Kopf-Selbstmordrate. Die Kultur der Konfliktverdrängung zugunsten der Harmonie mag ein Grund dafür sein. Sawako Takeuchi, Wirtschaftswissenschaftlerin an der Universität von Tokio, hat noch einen zweiten Erklärungsversuch:
"Ich glaube, das ist das Ergebnis der Krise, in der viele japanische Firmen heute stecken. Nehmen wir zum Beispiel die Führungskräfte, die sich der Firma sehr verpflichtet fühlen. Wenn sie an ihren Aufgaben oder an Problemen scheitern, dann fühlen sie sich sozusagen übermäßig verantwortlich – und das wird von anderen Arbeitnehmern dann als Schwäche empfunden. Der andere Grund sind die Umstrukturierungen, die derzeit in vielen Unternehmen stattfinden, der Stellenabbau, der teils recht dramatisch vorangetrieben wird. Viele Arbeitnehmer sind davon überrascht oder geschockt. Die Selbstmorde haben also mit dem Business zu tun, vermute ich. Das Verhältnis zur Firma löst dann absoluten Stress aus."
Der schleichende, aber tiefgreifende Wandel der japanischen Arbeitswelt trifft vor allem die Jungen. Auf lebenslange Festanstellungen, wie sie in Japan jahrzehntelang selbstverständlich und Teil der Firmenkultur waren, kann die junge Generation kaum noch hoffen. Konstant steigende Löhne, sichere Arbeitsplätze und eine tiefe Loyalität zum Unternehmen, all das ist ins Rutschen geraten. Japans traditionell auf Egalität ausgerichtete Gesellschaft driftet auseinander. Die Chance, aufzusteigen, wird immer mehr zu einer Frage des Geldes.