Anja Reinhardt: Sie sprechen immer wieder darüber, dass Sie als Architekt eine ethische und moralische Verantwortung haben. Was genau bedeutet das für Sie? Was ist diese ethische und moralische Verantwortung? Und wem gegenüber?
Matteo Thun: Gegenüber den Menschen generell. Wer baut, hinterlässt Spuren, und diese Spuren müssen nachhaltig sein. Sie müssen einige Generationen überleben können, das ist im großen Maßstab noch wichtiger als im kleinen. Wenn Sie einen Löffel mal wirklich nicht mehr brauchen, dann können Sie den Löffel oder die Vase oder den Tisch einem zweiten Leben zuführen. Ein Haus nicht.
Reinhardt: Wie muss man das Haus bauen, um moralisch verantwortlich gegenüber dem Menschen und der Umwelt zu sein?
Thun: Ich würde meinen, dass die drei Nullen, nämlich null Kilometer, null CO2 und null Müll, das Lifecycle-Mangement, seit jeher die gute Regel des Bauens war. Wir haben das ein bisschen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg verloren. Es gab Aufholbedarf in Europa und Amerika und die beschleunigte Wiederaufbau-Phase hat zu einer Überdruss-Gesellschaft geführt. Es gibt eine zweite große Zäsur und das ist der 11. September 2001. Was da geschehen ist, ist vielleicht im Nachhinein für unsere überhitzte Gesellschaft gar nicht so schlecht. Wir haben begonnen, uns wieder in die Augen zu schauen. In New York hat man sich am morgen begrüßt, man hat sich die Hand gegeben, man kam sich wieder näher. Und man hat den Wahnsinn des Konsums gedrosselt.
Reinhardt: Sie haben, wenn wir mal auf Ihr Buch blicken, das 30 Jahre Ihrer Arbeit zusammenfasst, angefangen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, mit Memphis Dinge zu entwerfen. Da hatte man noch kein schlechtes Gewissen. Der Begriff der Nachhaltigkeit war nicht so populär wie heute. Inwiefern hat sich Ihr Arbeiten da auch verändert?
Thun: Da muss ich Ihnen zum ersten Mal vehement widersprechen. Wir haben in den Siebziger Jahren, insbesondere in Zentraleuropa, im angelsächsischen Raum, die menschlichen Emotionen verloren. Und Memphis war ein verzweifelter Versuch, die graue Maus vom Bauhaus und von Ulm zu töten.
Reinhardt: Ich finde das ganz lustig, weil gerade Bauhaus etwas ist, was in Deutschland ein absolutes Heiligtum ist. Strenge, klare Linien. Memphis ist ganz anders, Memphis ist verspielt. Das ist aber heute nicht mehr so gefragt, die Verspieltheit…
Thun: Die Verspieltheit ist vordergründig. Es war der Versuch, Emotionen an die Oberfläche zu bringen. Durch Farbe, durch Rhythmen, durch eine Freiheit der Form, die natürlich bei Epigonen zu ganz grauenhaften Fehlinterpretationen geführt hat. Das war sehr verhängnisvoll für das Verständnis von Memphis in der breiten Masse. Die sagten: Die Typen in Mailand, die spinnen! Vielleicht haben wir doch ein bisschen gesponnen. Es gibt ja bei den Engländern das geflügelte Wort "less is more", und das wurde in den Neunzigern zu "less is a bore", weniger wird zu Blutleere, zu Langeweile.
Reinhardt: Memphis hat sich gegen die Strenge des Bauhauses gerichtet. Wenn Sie Ihre Arbeit heute sehen: richtet die sich auch gegen jemanden oder ist sie ein Antwort auf etwas'
Thun: Seit Mitte der neunziger Jahre signiere ich meine Arbeit nicht mehr, ich versuche mich so anonym wie möglich hinter der Marke des Produzenten zu verbergen. Das gelingt nicht immer, aber es ist mir ein Anliegen, nicht den Mehrwert einer privaten Ikone in den Vordergrund zu stellen, sondern mehrheitsfähig für die Industrie, mit der Industrie für den Endverbraucher möglichst preisgünstig, value for money – das steht im Vordergrund. Wir nennen das auch "the beauty of economy", die Schönheit des Ökonomischen. Darüber sprechen Ästheten gar nicht gerne und Kreative noch weniger.
Reinhardt: Wir leben ja schon in einer Zeit, in der das sehr ins Bewusstsein der Leute eingedrungen ist, dass wir auf unsere Umwelt aufpassen müssen. Aber als sie angefangen haben in Wien bei Oskar Kokoschka, war das ein Gedanke, der noch gar nicht in der Welt war. Wie hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein verändert?
Thun: Ich glaube, es hat 1990 mit der ersten Konferenz für Umwelt in Rio de Janeiro begonnen. Heute sind Umweltkonferenzen alle zwei Jahre auf einer international politischen Plattform. Ich glaube, der Mensch reagiert erst, wenn das Wasser zum Kinn hoch kommt.
Reinhardt: Oskar Kokoschka hat sehr expressiv gearbeitet und ich hatte den Eindruck, dass das auch bei den Sachen, die Sie für Memphis entworfen haben, zutrifft. Stimmt das?
Thun: Das ist hoch interessant. Ich selbst hab nie darüber nachgedacht. Die Schule von Kokoschka hieß: ‚Die Schule des Sehens'. Was er damit sagen wollte: In seinen Portraits, in seinen Landschaften, in seinen Aktstudien ging es um ein blitzschnelles Erfassen einer Situation. Nicht mehr hinschauen. Mit maximaler Geschwindigkeit die Synthese einer Situation erfassen. Lightness, Quickness, die Vielschichtigkeit.
Reinhardt: Sie haben dann später mit Ettore Sottsass zusammen gearbeitet, hat der ähnlich gedacht oder war das ein ganz anderes Denken und Arbeiten?
Thun: Nein, das war identisch. Kokoschka, Emilio Vedova und Sottsass, das waren sehr, sehr ähnliche Figuren, die sich nur teilweise gekannt haben, aber die hatten eines gemeinsam: die Lust auf Innovation, nach vorne schauen und nie, nie, nie im Leben nostalgisch zu denken.
Reinhardt: Das finde ich interessant, weil wir in einer Zeit leben, in der Nostalgie eine ganz große Rolle spielt.. In der Kultur ist im Moment ganz viel retro. Ob das nun Popmusik ist, Mode, Film – es bezieht sich ganz oft auf eine Zeit, die nicht mehr da ist. Die Sechziger Jahre, die für Aufbruch stehen, die Zwanziger Jahre, die für so eine Leichtigkeit stehen. Sehen sie das auch so?
Thun: Diese Meinung kann ich nicht teilen. Ich glaube, Qualität in der kreativen Umsetzung der Vergangenheit bedeutet immer Projektion nach vorne, aber natürlich auf der Basis und mit dem Verständnis der Wurzeln der Vergangenheit. Es ist richtig, dass wir zur Zeit die Siebziger und Achtziger aufarbeiten, zum Beispiel mit unserer Ledermöbelkollektion. Da versuchen wir die Phase des französischen Films mit Catherine Deneuve, "Belle Du Jour" aufzuarbeiten. Das ist aber ein Start, das ist nicht das Ziel. Es ist eine Lederkollektion, die mit Gerbereien entwickelt wurde, die für Bekleidung arbeitet und nicht für die Möbelindustrie. Insofern ist es eine Liebkosung des Körpers. Man sollte diese Möbel nackt besitzen!
Reinhardt: Ich hatte gelesen, dass Ihr Ausgangspunkt immer eine Zeichnung ist, was ich insofern interessant finde als dass ich gedacht hätte, dass der Ausgangspunkt immer das Material ist!
Thun: Der Ausgangspunkt ist immer eine simultane Komplexität, die sich jedoch in einer Freihandzeichnung, zuerst schwarz-weiß, und dann mit einem Aquarell einer Problemlösung nähert. Das Problem, dass dabei gegeben ist, dass ich als Auslaufgeneration, ohne Computer arbeite, und alle meine Mitarbeiter ausschließlich mit Computer und nicht mit dem Bleistift arbeiten können.
Reinhardt: Wie muss ich mir dann die Zusammenarbeit vorstellen?
Thun: Ganz einfach! Der Regisseur gibt ein weißes A4-Blatt und das ist der Startschuss für eine komplexe Entwicklung.
Reinhardt: Aber Sie sind wahrscheinlich wahnsinnig viel unterwegs, wie machen Sie das denn dann?
Thun: Ich hab ein schwarzes Buch, das hab ich immer bei mir. Und in dem halte ich nonstop meine Gedanken fest.
Reinhardt: Vielen Dank für das Interview.
Thun: Dankeschön, danke an Sie.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Buchtipp:
Matteo Thun. The Index Book
Hatje Cantz Verlag, 368 Seiten
ISBN-10: 3775734996
Matteo Thun: Gegenüber den Menschen generell. Wer baut, hinterlässt Spuren, und diese Spuren müssen nachhaltig sein. Sie müssen einige Generationen überleben können, das ist im großen Maßstab noch wichtiger als im kleinen. Wenn Sie einen Löffel mal wirklich nicht mehr brauchen, dann können Sie den Löffel oder die Vase oder den Tisch einem zweiten Leben zuführen. Ein Haus nicht.
Reinhardt: Wie muss man das Haus bauen, um moralisch verantwortlich gegenüber dem Menschen und der Umwelt zu sein?
Thun: Ich würde meinen, dass die drei Nullen, nämlich null Kilometer, null CO2 und null Müll, das Lifecycle-Mangement, seit jeher die gute Regel des Bauens war. Wir haben das ein bisschen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg verloren. Es gab Aufholbedarf in Europa und Amerika und die beschleunigte Wiederaufbau-Phase hat zu einer Überdruss-Gesellschaft geführt. Es gibt eine zweite große Zäsur und das ist der 11. September 2001. Was da geschehen ist, ist vielleicht im Nachhinein für unsere überhitzte Gesellschaft gar nicht so schlecht. Wir haben begonnen, uns wieder in die Augen zu schauen. In New York hat man sich am morgen begrüßt, man hat sich die Hand gegeben, man kam sich wieder näher. Und man hat den Wahnsinn des Konsums gedrosselt.
Reinhardt: Sie haben, wenn wir mal auf Ihr Buch blicken, das 30 Jahre Ihrer Arbeit zusammenfasst, angefangen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, mit Memphis Dinge zu entwerfen. Da hatte man noch kein schlechtes Gewissen. Der Begriff der Nachhaltigkeit war nicht so populär wie heute. Inwiefern hat sich Ihr Arbeiten da auch verändert?
Thun: Da muss ich Ihnen zum ersten Mal vehement widersprechen. Wir haben in den Siebziger Jahren, insbesondere in Zentraleuropa, im angelsächsischen Raum, die menschlichen Emotionen verloren. Und Memphis war ein verzweifelter Versuch, die graue Maus vom Bauhaus und von Ulm zu töten.
Reinhardt: Ich finde das ganz lustig, weil gerade Bauhaus etwas ist, was in Deutschland ein absolutes Heiligtum ist. Strenge, klare Linien. Memphis ist ganz anders, Memphis ist verspielt. Das ist aber heute nicht mehr so gefragt, die Verspieltheit…
Thun: Die Verspieltheit ist vordergründig. Es war der Versuch, Emotionen an die Oberfläche zu bringen. Durch Farbe, durch Rhythmen, durch eine Freiheit der Form, die natürlich bei Epigonen zu ganz grauenhaften Fehlinterpretationen geführt hat. Das war sehr verhängnisvoll für das Verständnis von Memphis in der breiten Masse. Die sagten: Die Typen in Mailand, die spinnen! Vielleicht haben wir doch ein bisschen gesponnen. Es gibt ja bei den Engländern das geflügelte Wort "less is more", und das wurde in den Neunzigern zu "less is a bore", weniger wird zu Blutleere, zu Langeweile.
Reinhardt: Memphis hat sich gegen die Strenge des Bauhauses gerichtet. Wenn Sie Ihre Arbeit heute sehen: richtet die sich auch gegen jemanden oder ist sie ein Antwort auf etwas'
Thun: Seit Mitte der neunziger Jahre signiere ich meine Arbeit nicht mehr, ich versuche mich so anonym wie möglich hinter der Marke des Produzenten zu verbergen. Das gelingt nicht immer, aber es ist mir ein Anliegen, nicht den Mehrwert einer privaten Ikone in den Vordergrund zu stellen, sondern mehrheitsfähig für die Industrie, mit der Industrie für den Endverbraucher möglichst preisgünstig, value for money – das steht im Vordergrund. Wir nennen das auch "the beauty of economy", die Schönheit des Ökonomischen. Darüber sprechen Ästheten gar nicht gerne und Kreative noch weniger.
Reinhardt: Wir leben ja schon in einer Zeit, in der das sehr ins Bewusstsein der Leute eingedrungen ist, dass wir auf unsere Umwelt aufpassen müssen. Aber als sie angefangen haben in Wien bei Oskar Kokoschka, war das ein Gedanke, der noch gar nicht in der Welt war. Wie hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein verändert?
Thun: Ich glaube, es hat 1990 mit der ersten Konferenz für Umwelt in Rio de Janeiro begonnen. Heute sind Umweltkonferenzen alle zwei Jahre auf einer international politischen Plattform. Ich glaube, der Mensch reagiert erst, wenn das Wasser zum Kinn hoch kommt.
Reinhardt: Oskar Kokoschka hat sehr expressiv gearbeitet und ich hatte den Eindruck, dass das auch bei den Sachen, die Sie für Memphis entworfen haben, zutrifft. Stimmt das?
Thun: Das ist hoch interessant. Ich selbst hab nie darüber nachgedacht. Die Schule von Kokoschka hieß: ‚Die Schule des Sehens'. Was er damit sagen wollte: In seinen Portraits, in seinen Landschaften, in seinen Aktstudien ging es um ein blitzschnelles Erfassen einer Situation. Nicht mehr hinschauen. Mit maximaler Geschwindigkeit die Synthese einer Situation erfassen. Lightness, Quickness, die Vielschichtigkeit.
Reinhardt: Sie haben dann später mit Ettore Sottsass zusammen gearbeitet, hat der ähnlich gedacht oder war das ein ganz anderes Denken und Arbeiten?
Thun: Nein, das war identisch. Kokoschka, Emilio Vedova und Sottsass, das waren sehr, sehr ähnliche Figuren, die sich nur teilweise gekannt haben, aber die hatten eines gemeinsam: die Lust auf Innovation, nach vorne schauen und nie, nie, nie im Leben nostalgisch zu denken.
Reinhardt: Das finde ich interessant, weil wir in einer Zeit leben, in der Nostalgie eine ganz große Rolle spielt.. In der Kultur ist im Moment ganz viel retro. Ob das nun Popmusik ist, Mode, Film – es bezieht sich ganz oft auf eine Zeit, die nicht mehr da ist. Die Sechziger Jahre, die für Aufbruch stehen, die Zwanziger Jahre, die für so eine Leichtigkeit stehen. Sehen sie das auch so?
Thun: Diese Meinung kann ich nicht teilen. Ich glaube, Qualität in der kreativen Umsetzung der Vergangenheit bedeutet immer Projektion nach vorne, aber natürlich auf der Basis und mit dem Verständnis der Wurzeln der Vergangenheit. Es ist richtig, dass wir zur Zeit die Siebziger und Achtziger aufarbeiten, zum Beispiel mit unserer Ledermöbelkollektion. Da versuchen wir die Phase des französischen Films mit Catherine Deneuve, "Belle Du Jour" aufzuarbeiten. Das ist aber ein Start, das ist nicht das Ziel. Es ist eine Lederkollektion, die mit Gerbereien entwickelt wurde, die für Bekleidung arbeitet und nicht für die Möbelindustrie. Insofern ist es eine Liebkosung des Körpers. Man sollte diese Möbel nackt besitzen!
Reinhardt: Ich hatte gelesen, dass Ihr Ausgangspunkt immer eine Zeichnung ist, was ich insofern interessant finde als dass ich gedacht hätte, dass der Ausgangspunkt immer das Material ist!
Thun: Der Ausgangspunkt ist immer eine simultane Komplexität, die sich jedoch in einer Freihandzeichnung, zuerst schwarz-weiß, und dann mit einem Aquarell einer Problemlösung nähert. Das Problem, dass dabei gegeben ist, dass ich als Auslaufgeneration, ohne Computer arbeite, und alle meine Mitarbeiter ausschließlich mit Computer und nicht mit dem Bleistift arbeiten können.
Reinhardt: Wie muss ich mir dann die Zusammenarbeit vorstellen?
Thun: Ganz einfach! Der Regisseur gibt ein weißes A4-Blatt und das ist der Startschuss für eine komplexe Entwicklung.
Reinhardt: Aber Sie sind wahrscheinlich wahnsinnig viel unterwegs, wie machen Sie das denn dann?
Thun: Ich hab ein schwarzes Buch, das hab ich immer bei mir. Und in dem halte ich nonstop meine Gedanken fest.
Reinhardt: Vielen Dank für das Interview.
Thun: Dankeschön, danke an Sie.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Buchtipp:
Matteo Thun. The Index Book
Hatje Cantz Verlag, 368 Seiten
ISBN-10: 3775734996